Okkultismus
Begriff und Geschichte
Okkultismus ist eine unscharfe Sammelbezeichnung für Lehren (sowie die dazugehörigen Gruppen, Forschungsmethoden, Theorien und Praktiken), die passiv erfahrene oder aktiv hervorgerufene Kräfte, Erscheinungen und Erfahrungen psychischer oder physischer Natur auf übernatürliche Ursachen außerhalb naturwissenschaftlich anerkannter Erklärungen zurückführen. Der Begriff stammt vom lateinischen occultus („verborgen“ bzw. occultum, „das Verborgene“).
Okkultismus wird gelegentlich auch als die „dunkle Seite der Esoterik„ beschrieben und wirkt als faszinosum et tremendum gerade dadurch anziehend. Der Franzose Éliphas Lévi (Alphonse-Louis Constant, 1810 – 1875), ein ehemaliger katholischer Priester, popularisierte sowohl den Begriff „Okkultismus“ als auch zeit- und bedeutungsgleich „Esoterik“. Okkultismus bezeichnete also in der Hochphase der modernen Ausbreitung der dazugehörigen Phänomene im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht nur einen Teilbereich der Esoterik oder gar etwas ganz anderes, sondern das Gleiche. 1883 taucht occultism bei dem Theosophen Alfred Percy Sinnett (1840 – 1921) erstmals im englischen Sprachraum auf. Vor allem die Expansion der Theosophischen Bewegung Helena Blavatskys (1831 – 1891) in die angelsächsische und anglo-indische Welt machten dann Begriff und Sache bekannt. Einige okkultistische Praktiken wie etwa der Spiritismus blühten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein und wurden geradezu Massenphänomene, die tief in den gesellschaftlichen Mainstream und Teile des Wissenschaftsbetriebs hinein ausstrahlten. Auch die meisten gegenwärtigen Erscheinungsformen beruhen auf den Impulsen der Theosophie.
Geistesgeschichtliche Einordnung
Ist der Begriff auch jüngeren Ursprungs, so waren die einzelnen damit bezeichneten und in der Theosophie weltanschaulich systematisierten magisch-okkulten Phänomene und Praktiken doch seit langem bekannt und weit verbreitet. Sie gehören zum Kernbestand religiös-kultureller Überlieferungen vieler Kulturen, einschließlich des Abendlandes. Erst mit der Aufklärung entstand – als ein zweiter anti-rationalistischer Gegenentwurf neben der Romantik – eine Deutungstradition, welche diese Einzelphänomene in einen gemeinsamen Ideologiezusammenhang stellte, für den Lévis „Okkultismus“ und „Esoterik“ die Begriffe lieferte. Typisch ist hierfür die Selbstverortung dieser Vorstellungen als „Urweisheit der Menschheit“, als „ganzheitliches Denken“ oder als „Essenz hinter allen Religionen“.
Religionswissenschaftler beantworten allerdings die Frage unterschiedlich, inwieweit und ab wann man bei Okkultismus / Esoterik von einem sich selbst so verstehenden Gegenentwurf zur aufgeklärten Wissenschaft und zur anerkannten (etablierten) Religion sprechen könne. Bergunder sieht diese Aufteilung überhaupt erst an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, also zusammen mit dem Begriff entstehen. Hanegraaff findet im Okkultismus eher eine zusammenhängende geistesgeschichtliche Strömung, die in einem zeitlich längeren Traditionszusammenhang stehe. Für Bochinger hingegen dient insbesondere die jüngste Begriffsverwendung von Esoterik / New Age / Okkultismus nur als „Sammelbegriff für eine neue religiöse Szenerie“, die aber diachron und synchron in sich so inkohärent sei, dass man sie nicht sinnvoll für eine zusammenhängende Bewegung oder Tradition halten könne. Okkultismus ist also eine Deutungskategorie, die eine Vielzahl von Phänomenen als System zusammenschaut, die sich selbst möglicherweise nicht oder erst spät so sahen. Für ein Selbstverständnis als Tradition spricht, dass man die Vorgeschichte bis in die Antike, z. B. in Gnosis und Hermetik, erblicken kann, vor allem aber, dass bereits in der frühen Neuzeit gelegentlich selbstbezeichnend von „okkulten“ Wissenschaften gesprochen wurde: 1531 erschien Agrippa von Nettesheims (1486 – 1535) „De occulta philosophia“ und 1572 ein Paracelsus (1493 – 1541) zugeschriebenes Traktat gleichen Titels, das darunter „die hohen verborgenen Dinge“ verstand.
Klar ist, dass sich im 19. Jahrhundert die okkulte Denktradition im Westen nicht wie heute primär als diffuse und individualistische gesellschaftliche Strömung präsentierte, sondern in Form von „Schulen“, „Logen“ und „Orden“, also in organisierten Gruppen, die zum Beispiel in der Theosophischen Gesellschaft, der Anthroposophie, Rosenkreuzern und vielen anderen bis heute als Restbestände fortexistieren.
Von der säkularen Aufklärungsphilosophie und dem Fortschrittsglauben seiner Zeit übernahm der Okkultismus des 19. Jahrhunderts den Entwicklungsgedanken. Man ging von einer geistigen Evolution der Menschheit und des Einzelnen aus und war überzeugt, dass auch im okkulten Wirklichkeits- und Lebensbereich ein Fortschreiten und Höhersteigen menschlicher Erkenntnis erwartet, ja bewirkt werden könne.
Gegen die Vernunfterkenntnis in der Wissenschaft und gegen die Offenbarung in der (christlichen) Religion setzt Okkultismus die Erfahrung als Erkenntnisquelle an erste Stelle:„Es ist so, weil ich es so erfahren habe“ (Edmund Runggaldier). Okkultistische Vorstellungen sahen sich also in einer doppelten Frontstellung: Einerseits als allumfassende Gesamtschau gegen die moderne rationale Wissenschaft, welche die Welt und ihre Phänomene zerlegte, um sie zu verstehen, andererseits als Reduktion auf einen Urgrund, der allen religiösen und philosophischen Weltdeutungen innewohnen sollte. In der Praxis äußerte sich Letzteres oft als Verortung im Gegenüber zur christlichen Religion in ihrer kirchlichen Gestalt.
Allerdings kann man die Strömung „okkulter“ Weltdeutungen nicht nur als Abwendung und im Gegensatz zur Wissenschaftlichkeit der aufgeklärten Vernunft verstehen, sondern auch als Unterströmung, die immer Teil des Mainstreams geblieben ist. Denn neben dem Selbstverständnis als Gegenentwurf war den Vertretern des Okkultismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert zugleich auch daran gelegen zu zeigen, dass man sich wissenschaftlicher Methoden bediene und erwarte, irgendwann einmal „harte“ Belege für die beobachteten Phänomene zu finden. In diesem Sinne spricht Antoine Faivre vom Okkultismus als Phänomen einer „mit sich selbst konfrontierten Moderne“. Typisch sind z. B. die jährlichen Bad Honnefer „Kongresse für PsychoMedizin“ der Deutschen Spiritistischen Vereinigung.
Lehren und Erscheinungsformen
Okkultismus geht von der Existenz im Normalfall unsichtbarer, übernatürlicher, geheimnisvoller und „bislang“ unerklärlicher Kräfte und Wirkungszusammenhänge in Natur und Seelenleben aus. Das bedeutet, dass unsere sichtbare, „grobstoffliche“ Wirklichkeit von einer „feinstofflichen“ (sinnlich nicht wahrnehmbaren) Realität überlagert wird, zu der man durch okkult-magische Techniken, Rituale oder Beschwörungsformeln Zugang erhalten kann. Entsprechende Praktiken verheißen dem Anwender Glück, Wissen, Wohlstand, Gesundheit oder Macht, können aber auch zum Schaden anderer eingesetzt werden.
Zum Okkultismus gehören unter anderem Mantik (wörtlich: Kunst der Zukunftsdeutung, von griechisch μαντεία – Weissagung; zum Beispiel Sterndeutung, Handlesen, Kartenlegen, Pendeln, Wünschelrutengehen, antik auch: Lesen in Vogelflug und Eingeweiden), Magie (direkte, nicht rational erklärbare Beeinflussung von Menschen und Wirklichkeiten wie Krankheitsverläufen, Erfolgschancen etc.) sowie die Kommunikation mit Toten (Medium, Pendel, Ouija-Brett, Gläserrücken), die im Spiritismus organisierte Gestalt mit hunderten Millionen Anhängern weltweit hat.
Man kann eine praktisch-empirische, der alltäglichen Lebensbewältigung dienende Seite des Okkultismus von einer esoterischen, der Aneignung verborgenen Wissens durch Eingeweihte gewidmeten unterscheiden. Gerade die breite Popularität des Spiritismus (Kontakt mit Totengeistern), der zeitweise selbst hochkarätige Naturwissenschaftler in seinen Bann zog, hing auch mit seiner seelsorgerlichen Funktion zusammen (treffend dargestellt im Film „Magic in the Moonlight“ von Woody Allen, 2014).
Obwohl okkulte Praktiken teilweise erstaunlich echt wirkende „übernatürliche“ Phänomene produzieren, gibt es ausnahmslos natürliche Erklärungen dafür. Neben mehr oder weniger geschickten Betrügereien, von deren Entlarvung die Geschichte des modernen Okkultismus voll ist, sind auch die Effekte einzeln oder gemeinsam vollzogener Praktiken gut erklärbar. Es ist z. B. physisch unmöglich, ein Pendel dauerhaft still zu halten. Dafür sorgen körperliche Phänomene wie die natürliche Muskelspannung, Resonanz (Selbstverstärkung kleiner Bewegungen), Kapillarpulswellen und Atmung. Hinzu kommen körperliche Ausdrücke seelischer Zustände wie der schon 1852 entdeckte „Carpenter-Effekt“ (ideomotorischer Effekt), i. e. unwillkürliche Bewegungen bei bestimmten Gedanken (z. B. das Bremsen eines verängstigten Beifahrers): Unser Körper agiert, ohne dass wir es bewusst beeinflussen, und bisweilen merken wir es nicht einmal. Auf gleiche Weise funktionieren auch in der Gruppe betriebene Praktiken wie Gläserrücken und Ouija-Board. Auch dafür, dass die Praktiken sinnvolle Antworten ergeben, gibt es vernünftige Erklärungen wie z. B. den „Forer-Effekt“ (Menschen nehmen besonders das wahr, was ihren Erwartungen entspricht), die in der pädagogischen Literatur gut dargestellt sind.
Einschätzung
Der sogenannte „Jugendokkultismus“ sorgte von Mitte der 1980er bis in die frühen 2000er Jahre für – teilweise hysterisch übertriebene – öffentliche Besorgnis (Pädagogik, Eltern, Politik). Obwohl selbst in der Hochphase nur ein Drittel der Jugendlichen, meist nur aus Neugier und überwiegend nur ein einziges Mal, je mit okkultistischen Praktiken experimentierte, warnten staatliche und kirchliche Sektenbeauftragte, Parlamente hielten Sondersitzungen ab, besorgte Eltern riefen massenhaft Beratungsstellen an und Minister warnten öffentlich vor der „neuen Droge Okkultismus“. Zwar konnte es im Einzelfall bei labilen Jugendlichen zu Ängsten kommen, doch bestand tatsächlich nie eine großflächige Gefährdung, das Phänomen gehörte eher in den Bereich periodisch auftretender Ängste um „die“ junge Generation (Rockmusik, Hippiekultur, Jugendsekten). Phasenweise verstärkte sich die öffentliche Hysterie selbst, als Jugendliche mit seelischen Problemen, angeregt durch die öffentliche Debatte, erfundene Geschichten von Erfahrungen in okkulten Geheimgruppen verbreiteten (1995: „Lukas“: Vier Jahre Hölle und zurück; vgl. Schmid: Ramonas Geschichten). Das Phänomen Jugendokkultismus ist heute abgeebbt. Gleichzeitig ist die Selbstzuordnung zu okkulten Traditionen wie z. B. bei den „neuen Hexen“ in den vielförmigen religiösen Mainstream eingedrungen und hat sein Stigma weitgehend verloren.
Manche christliche Traditionen, z. B. Evangelikale, Charismatiker und Jehovas Zeugen, setzen, da sie das Weltbild des Okkultismus teilen (dunkle Mächte hinter der Wirklichkeit), die Gefahrenschwelle niedriger an als andere. Für sie ist teilweise bereits das Auftauchen von Okkultismus in der Kunst tabubehaftet. Sie lehnen zum Beispiel Kinder- und Jugendbücher und Filme, in denen Magie vorkommt, ab (Harry Potter; Die kleine Hexe usw.). In der Heilsarmee gehört die Absage an Okkultismus zu den Eintrittsgelübden.
Christlicher Umgang mit Okkultismus sollte dessen begrenzte Bedeutung berücksichtigen, sich in Nüchternheit üben und von überzogenen Ängsten und Reaktionen absehen. Für Christen sind die „Mächte und Gewalten“ – wie auch immer man ihr Sein oder Nichtsein beurteilen mag – besiegt (Röm 8,38f), sie sind weder als Helfer anzurufen noch als Gegenspieler zu fürchten.
Insbesondere dort, wo es um Jenseitskontakte geht, steckt dahinter oft der Versuch, durch Einblicke in die jenseitige Welt Antworten auf das unbewältigte Problem des Todes zu bekommen. Während christlicher Glaube auf Kreuz und Auferstehung und auf eine vertrauende Gottesbeziehung verweist, geht es für okkult Suchende um Sicherheit und letztlich um die aus „Beweisen“ gespeiste Gewissheit, dass zum Beispiel mit dem Tode „nicht alles aus ist“.
Selbst wenn alle Phänomene natürlich erklärt und „entzaubert“ werden können, was im Übrigen auch pädagogisch spannend sein kann, sollten Seelsorge und Beratung im Umgang mit Betroffenen klären, was zu der Beschäftigung mit okkulten, insbesondere spiritistischen Praktiken geführt hat. Es ist zwar wichtig, die erfahrenen Wirkungen okkulter Praktiken wissenschaftlich zu erklären. Noch wichtiger aber ist das Eingehen auf die jeweiligen Motive für die Suche nach „Jenseitskontakten“, paranormalen Quellen der Sicherheit und Kontingenzbewältigung.
Kai Funkschmidt, Dezember 2018
Literatur
Quellen
Blavatsky, Helena: The Secret Doctrine. The Synthesis of Science, Religion, and Philosophy, 2 Bde., Pasadena 1970 (Erstveröff. 1888), www.theosociety.org/pasadena/ts/tup-onl.htm#blavatsky
Lévi, Éliphas: Secrets de la magie, Paris 2000
[„Lukas“]: Vier Jahre Hölle und zurück, Bergisch Gladbach 1995
Sekundärliteratur
Bergunder, Michael: „Religion“ and „Science“ within a Global Religious History, in: Aries 16 (2016), 86-141
Bochinger, Christoph: „New Age” und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen, Gütersloh 21995
Faivre, Antoine: Esoterik im Überblick, Freiburg i. Br. 2001
Hanegraaff, Wouter J.: New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought, Leiden 1996
Hemminger, Hansjörg: Hexen, Geister, Halloween, Gießen 22004
Hund, Wolfgang: Okkultismus. Materialien zur kritischen Auseinandersetzung, Mülheim/Ruhr 1996
Neugebauer-Wölk, Monika / Geffarth, Renko / Meumann, Markus (Hg.): Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne, Berlin / Boston 2013
Funkschmidt, Kai: Skalarwellen im Informationsfeld der Bewusstseinsphysik. Das Verhältnis zwischen Esoterik und Naturwissenschaft, in: Hempelmann, Reinhard (Hg.): Die Faszination des Irrationalen und die Vernunft des Glaubens, EZW-Texte 241, Berlin 2016, 46-60
Pöhlmann, Matthias (Hg.): Neue Hexen. Zwischen Kult, Kommerz und Verzauberung, EZW-Texte 186, Berlin 2006
Runggaldier, Edmund: Philosophie der Esoterik, Stuttgart 1996
Schmid, Georg Otto: Ramonas Geschichten. „The black Omen (T.B.O.)“ – ein schwarzes Omen für die Berichterstattung über den Jugendsatanismus, o. O. 2001, www.relinfo.ch/satanismus/tbo.html
Treitel, Corinna: A Science for the Soul – Occultism and the Genesis of the German Modern, Baltimore / London 2004
Webb, James: Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur und Okkultismus im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2008 (engl. The Occult Establishment 1976