Germanische Neue Medizin
Eine „Neue Medizin“ wurde 1981 von dem damaligen Krankenhausarzt Dr. med. mag. theol. Ryke Geerd Hamer begründet. Ihre zentrale Behauptung ist, dass jeder Krebserkrankung eine seelische Ursache zugrunde liege. Die bedrohliche Erkrankung könne ohne den Einsatz herkömmlicher Therapien (operative Entfernung des Tumors, Chemo- und Strahlentherapie) geheilt werden. Eine Krebserkrankung verschwinde vollständig, wenn der seelische „Konflikt“ gelöst werde, der die Störung verursacht habe. Deshalb wird eine körperliche Behandlung grundsätzlich abgelehnt.
Weil der Begriff „Neue Medizin“ häufig vorkommt und deshalb markenrechtlich nicht geschützt werden konnte, hat Hamer seine Methode in „Germanische Neue Medizin“ (GNM) umbenannt und sich die Bezeichnung im Jahr 2003 schützen lassen. Schon der Name weist auf Hamers Feindbild, die Juden, hin. Neuerdings spricht Hamer häufiger von „Germanischer Heilkunde“; diesen Begriff hat er sich ebenfalls schützen lassen.
Biografie des Begründers und Justizgeschichte einer Alternativ-„Medizin“
Hamer wurde nach eigenen Angaben 1935 in Mettmann geboren und wuchs in Friesland auf. Er schloss das Studium der Medizin und der evangelischen Theologie ab und ließ sich zum Internisten ausbilden. Danach arbeitete er in verschiedenen Krankenhäusern und Praxisgemeinschaften. 1986 entzog ihm das Koblenzer Oberverwaltungsgericht wegen unterlassener ärztlicher Hilfeleistung die Approbation und verhängte eine Geldstrafe. 1992 wurde er in Köln zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, nachdem einem jungen Mann wegen einer Fehlbehandlung ein Bein hatte amputiert werden müssen. 1995 und 1996 geriet Hamer in die Schlagzeilen, als unter seiner Mitwirkung die Eltern eines Mädchens namens Olivia in Österreich bei ihrer Tochter die schulmedizinische Behandlung eines großen Tumors verweigerten. Nachdem sich der Gesundheitszustand des Mädchens dramatisch verschlechtert hatte und die Eltern das Kind zugleich dem Zugriff der Behörden entzogen hatten, wurde Olivia nach einer europaweiten Fahndung und dem vorübergehenden Entzug des Sorgerechtes der Eltern schulmedizinisch behandelt. Sie gilt inzwischen als geheilt. Ihr Vater Helmut Pilhar hat sich jedoch von seiner Position nie distanziert und tritt weiter vehement als hauptberuflicher Referent der GNM auf (siehe www.pilhar. com). Dem Elektroingenieur Pilhar gelang es im Laufe der Jahre, in Deutschland, Österreich und der Schweiz ein Propaganda-Netzwerk von etwa 100 sogenannten Hamer-Stammtischen aufzubauen, durch die ein regionaler Austausch und die Anwerbung für die GNM stattfinden.
1997 wurde Hamer in Köln wegen unerlaubter Ausübung des Heilberufs verhaftet und anschließend zu 19 Monaten Haft verurteilt, wovon er zwölf Monate verbüßte. In der Folgezeit verlagerte Hamer seine Aktivitäten nach Frankreich und Spanien. In Österreich wird er des Totschlags in mindestens 50 Fällen in Zusammenhang mit der GNM verdächtigt. Dort besteht auch ein bis 2015 gültiger Haftbefehl. Im März 2000 wurde Hamer in Frankreich in Abwesenheit wegen Betrugs und Beihilfe zur illegalen Ausübung des Arztberufes zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt. Im Oktober 2004 erfolgte seine Verhaftung in Spanien und die Auslieferung nach Frankreich. Im Februar 2006 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen. Derzeit soll er sich in Norwegen aufhalten. In Europa sind mittlerweile viele Tote durch die GNM gerichtsbekannt. Den Haftbefehlen, die in Österreich und Deutschland gegen Hamer vorliegen, konnte er sich bisher durch Flucht entziehen.
Zusammen mit seinen Anhängern will Hamer weiter aktiv gegen die Schulmedizin vorgehen und seine alternative Behandlungsmethode verbreiten. 2010 meldete er in Norwegen eine Firma auf den Namen „Universität Sandefjord“ an und bezeichnet sich als „Rektor“ dieser Universität. Pilhar ernannte er zum Dozenten für die GNM-Theorie.
Die Hamer’sche Lehre
Ausgangspunkt für die Entwicklung der „Neuen Medizin“ war nach Hamers Angaben der Tod seines Sohnes Dirk. Dieser war 1978 während eines Urlaubs auf Korsika durch einen Schuss schwer verletzt worden. Gegen den Rat der Ärzte ließ Hamer ihn in kritischem Zustand nach Deutschland verlegen. Der Tod des Sohnes im Jahr 1979 konnte nicht allein auf die Schussverletzung zurückgeführt werden. Einige Zeit danach erkrankte Hamer an Hodenkrebs, den er später mit dem Tod seines Sohnes in Verbindung brachte. Der „Konfliktschock“ sei Auslöser des Krebses gewesen, was Hamer zur Prägung des Begriffs „Dirk-Hamer-Syndrom“ (DHS) bewegte. In den folgenden Monaten entwickelte Hamer, inspiriert durch Träume von seinem Sohn Dirk, eine Theorie über die Entstehung von Krebserkrankungen, die er als „Eiserne Regel des Krebses“ zusammenfasste und als Habilitationsschrift bei der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen einreichte. Sie wurde abgelehnt, und es blieb trotz wiederholter Klagen bei der Ablehnung (vgl. MD 8/2010, 307f).
Hamers Theorie geht davon aus, dass ein hochdramatisches Schockerlebnis – wie eben in seinem Fall der Verlust des Sohnes – der Auslöser jeder Krebserkrankung ist und im Gehirn Spuren hinterlässt. Die GNM betrachtet die Psyche, das Gehirn und das erkrankte Organ als Einheit. Dabei behauptet sie, dass zu jeder Krebserkrankung ein sogenannter „Hamer’scher Herd“ im Gehirn gehöre, der auf Computertomografien zu erkennen sei, was aber nachweislich falsch ist. Wenn die Lösung des der Erkrankung zugrunde liegenden „biologischen Konfliktes“ gelingt, folgt nach Hamer eine konfliktaktive Phase, die Heilungsphase. Gelingt die Konfliktlösung nicht, bleibt der Patient in einer „Dauerstressphase mit Verbrauch seiner Lebensenergien“.
Hamer weitete diese Theorie auf andere Erkrankungen aus, ja auf die gesamte Medizin. Er formulierte fünf biologische Naturgesetze: 1. Die Eiserne Regel des Krebses, 2. Das Gesetz der Zweiphasigkeit aller Erkrankungen, 3. Das ontogenetische System der Tumoren, 4. Das ontogenetisch bedingte System der Mikroben, 5. Das Gesetz vom Verständnis einer jeden sogenannten Krankheit. Die Theorie wird sogar auf alle Lebewesen ausgedehnt: „Die Germanische Neue Medizin® gilt für Mensch, Tier und Pflanze gleichermaßen! Auch die Maus erkrankt infolge Todesangst-Panik an Lungenkrebs wie der Mensch“, heißt es aktuell auf der Webseite des GNM-Protagonisten Pilhar.
Verschwörungstheorie und Antisemitismus
Die GNM bietet ein in sich geschlossenes Weltbild und weist dabei wahnhafte Züge auf. Hamer behauptet seit einiger Zeit, dass jüdische Geheimgesellschaften sich gegen ihn verbündet hätten. Die Juden würden die GNM exklusiv nutzen, aber ihre Anwendung bei Nichtjuden behindern, um diese zu schwächen. Seine Behauptung, bei der Kampagne gegen seine Methoden handele es sich um „den wahnsinnigen Kampf der Talmud-Kliniken, alle Nichtjuden umbringen zu wollen“, rückt Hamer in einen antisemitischen Zusammenhang. An seine Anhänger schrieb er: „Wir Nichtjuden werden gezwungen, weiterhin die jüdische Schulmedizin zu praktizieren, mit Chemo und Morphium ...“ Damit nimmt er propagandistische antisemitische Argumentationsmuster aus der Zeit des Nationalsozialismus auf. Hamer gehört zu den Holocaust-Leugnern. 2006 äußerte er seine Bereitschaft, für das Amt des Reichspräsidenten eines zukünftigen Deutschen Reichs zu kandidieren. 2009 stellte er einen Verfassungsentwurf für einen neuen Staat Germanien vor, in dem es eine eigene Zeitrechnung (13 Monate à 28 Tage pro Jahr) und ein Gesundheitssystem auf der Grundlage der GNM geben soll. Seit 2007 ist ein staatsanwaltschaftliches Verfahren wegen Volksverhetzung gegen Hamer anhängig.
In Israel würden die Erkenntnisse der GNM, so Hamer, exklusiv für die orthodoxen Juden eingesetzt, sodass dort die Mortalität durch Karzinome bei 21 Todesfällen pro einer Million Einwohnern und Jahr liege. In der EU sei dieser Wert mehr als hundertmal höher. Die statistischen Angaben auf Internetseiten des israelischen Gesundheitsministeriums belegen jedoch, dass es nur geringfügige Unterschiede bei der Prognose von Krebserkrankungen zwischen Juden und Nichtjuden in Israel gibt, die plausibel mit der unterschiedlichen sozialen Lage erklärt werden können. Über eine Verbreitung der GNM in Israel ist nichts bekannt. Mit ihrer Mischung von Verschwörungstheorie und Rassenantisemitismus findet die GNM allerdings Anhänger in der rechtsextremen Szene.
Stellungnahme
Eine fortgeschrittene Krebserkrankung ist auch für die moderne Medizin nur begrenzt behandelbar. Deshalb ist das Interesse Schwerkranker an alternativmedizinischen Verfahren verständlich. Komplementäre Naturheilverfahren, die die schulmedizinische Behandlung ergänzen können, sind jedoch strikt von einer radikalen Alternativ-„Medizin“ wie der GNM zu unterscheiden. Die gutachterliche Stellungnahme der Deutschen Krebsgesellschaft aus dem Jahr 2005 trifft auch heute noch zu: „Bei der sog. ‚Germanischen Neuen Medizin’ von Ryke Geerd Hamer handelt es sich um ein in der Biographie und Träumen von Herrn Hamer begründetes Theorem ohne jede wissenschaftliche oder empirische Begründung. Im Gegenteil, nach heutigem Erkenntnisstand ist die zugrundeliegende Grundhypothese widerlegt. Es sind mehrere Todesfälle von Menschen, die seiner Theorie vertrauten, gut belegt, die unter schulmedizinischer Behandlung eine realistische Heilungschance besessen hätten. Deshalb ist die Germanische Neue Medizin mit allem Nachdruck als einerseits absurd, andererseits aber bewiesenermaßen als gefährlich zurückzuweisen. Ihrer Verbreitung muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln juristisch und auf dem Wege der Aufklärung Einhalt geboten werden. Eine Plattform zur Selbstdarstellung darf ihm und seinen Anhängern nicht geboten werden.“ Patienten setzen ihr Leben auf Spiel, wenn sie der Scharlatanerie Hamers trauen und die gegenwärtigen krebsmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten ablehnen. Hamer stilisiert sich zum tragischen Opfer einer Verschwörung hoch, die darauf ziele, dass das rettende Wissen einer effektiven Krebstherapie durch die Juden selbst genutzt, aber weltweit unterdrückt werde. Die hoch fanatisierten Anhänger Hamers müssen wegen ihres rechtsradikalen Gedankensguts im Auge behalten werden, auch wenn ihre Zahl überschaubar ist.
Quellen
Hamer, Ryke Geerd, Kurzfassung der Neuen Medizin, Fuengirola (Spanien) 32000
Internetseite von Ryke Geerd Hamer: www.dr-rykegeerdhamer.com
Internetseite der GNM: www.gnm-info.de
Internetseite von Helmut Pilhar: www.pilhar.com
Kritische Informationen
Pressemeldung der Deutschen Krebsgesellschaft vom 5.7.2005: www.krebsgesellschaft.de/pressemeldung_liste_aktuell,9935.html
Stellungnahme der Deutschen Röntgengesellschaft: CT-Untersuchungen des Gehirns zur Detektion „Hamer’scher Herde“ vom 20.8.2008: www.aerztekammer-mainz.de/ak_aktuelles_det.php?lfd=850
Utsch, Michael, Krebs durch seelische Konflikte?, in: MD 5/2006, 186-189
Michael Utsch