Der Bundestag hat am Nachmittag des 5. November 2020 im Plenum einen seit über 100 Jahren ausstehenden Verfassungsauftrag diskutiert. Dass ein solch historisches Thema die aktuelle Religionspolitik des Bundes beschäftigt, kann als außergewöhnlich betrachtet werden. Zumal wenn man bedenkt, wie weit die historischen Wurzeln der Staatsleistungen zurückreichen. Ihre Spuren lassen sich vom Augsburger Religionsfrieden (1555), über den Reichsdeputationshauptschluss (1803), die Paulskirchenverfassung (1848/49) bis hin zur Weimarer Reichsverfassung (1919) und ins Grundgesetz (1949) verfolgen. Denn die Staatsleistungen sind Entschädigungszahlungen, die der Staat den Kirchen für in der Vergangenheit erfolgte Säkularisationsprozesse zahlt. Die Umwidmung kirchlicher Vermögensmassen zugunsten des Staates erreichte im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Ursächlich dafür waren die Gebietsverluste an Frankreich im Rahmen des Friedensvertrags von Lunéville aus dem Jahr 1801. Die Einzelheiten dieses größten Säkularisationsprozesses wurden 1803 im Reichdeputationshauptschluss niedergelegt.
Auch die Weimarer Reichsverfassung nimmt die Staatsleistungen 1919 auf, und legt im Art. 138 fest, dass „die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften durch die Landesgesetzgebung abgelöst [werden]“ (Art. 138 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG). Zusätzlich wird in der Weimarer Reichsverfassung bestimmt, dass die Grundsätze für die Ablösung durch das Reich bzw. den Bund aufgestellt werden - eine Ergänzung, durch die eine rechtssichere Ablösung der Staatsleistung gewährleistet sein soll.
Diese Gesetzgebung besteht seit nunmehr über 100 Jahren. Inzwischen sind die den Staatsleistungen zugrundeliegenden historischen Säkularisationsprozesse im kollektiven Gedächtnis allerdings immer weniger präsent, so dass die Plausibilität der Begründungszusammenhänge für die Staatsleitungen verblassen. Das führt zu immer weniger Verständnis und nährt polemische Narrationen über die staatliche Finanzierung der Kirchen.
Es gibt also neben der Erfüllung des Verfassungsauftrags weitere Argumente, die für eine Ablösung der Staatsleistungen sprechen. Insofern kann es als bedeutender Schritt betrachtet werden, dass am 5. November gleich drei Oppositionsfraktionen einen Gesetzentwurf für ein Grundsätzegesetz zur Ablösung der Staatsleistungen vorgelegt haben. Die Gesetzesvorlage von FDP, Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen zur Ablösung der Staatsleistungen wurde über viele Monate unter Einbeziehung von ExpertInnen sowie von VertreterInnen der Kirchen und der Koalitionsfraktionen vorbereitet. So überraschte es nicht, dass der Gesetzentwurf viel Zustimmung im Plenum fand. Die Koalitionsfraktionen hielten es allerdings für erforderlich, die Gesetzgebung unter stärkerer Einbeziehung der Länder auszuhandeln, so dass sie ihre Zustimmung zum Gesetzesentwurf verwehrten. Die Diskussion wird in den kommenden Monaten im Innenausschuss fortgesetzt. Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzesentwurf die Basis für ein Grundsätzegesetz zur Ablösung der Staatsleistung gelegt hat, ob CDU/CSU und/oder SPD eigene Entwürfe einbringen, oder ob der verfassungsrechtliche Auftrag zur Ablösung erneut verschoben wird. Wer mehr über die historischen Wurzeln der Staatsleitungen, ihre Charakteristik, ihre Bedeutung für die Kirchen, den Ablöseprozess sowie dessen Bedeutung für das Verhältnis von Staat und Kirchen erfahren möchte, sei auf den Artikel im MdEZW 6/2020 verwiesen.
Hanna Fülling
FDP/ Die Linke/ Bündnis 90/ Die Grünen: Entwurf eines Grundsätzegesetzes zur Ablösung der Staatsleistungen https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/192/1919273.pdf
Deutscher Bundestag189. Sitzung, Grundsätzegesetz Ablösung der Staatsleistungen https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7481485#url=bWVkaWF0aGVrb3ZlcmxheT92aWRlb2lkPTc0ODE0ODU=&mod=mediathek