„Christfluencing“: Zwischen Glaubensvermittlung und Lifestyle

Mit den digitalen Medien hat sich eine neue Form öffentlicher Glaubenskommunikation etabliert. Was für Botschaften transportieren Christfluencer:innen? Wie begründen sie ihre religiöse Autorität? Und wie wirken dabei die Mechanismen des Social-Media-Marktes auf die religiöse Kommunikation zurück?

Claudia Jetter
Junge Frau mit Handy

„Darf man als Frau predigen?“1 – In einem Video, aufgenommen vor vier Jahren und gepostet über den YouTube-Kanal der Global Video Church2, klärt „Li Marie“ über das Thema auf. Sie sitzt dabei in einem Raum, der einem typischen Studentenzimmer gleicht: Man sieht im Hintergrund einen Schreibtisch, eine Kommode, einen Schrank und ein ungemachtes Bett; direkt vor dem Bildschirm eine Frau Anfang zwanzig, in legerer Kleidung und mit offen getragenen langen blonden Haaren. In dem knapp halbstündigen Video denkt die junge Influencerin über die Rolle der Frau in der Kirche nach. Sie berichtet, wie sie durch ihr eigenes Bibelstudium und ihre persönliche Berufung zum Theologiestudium (an der zur „Global Video Church“ gehörenden THS-Akademie in Bingen am Rhein) zu dem Schluss kam, dass Christinnen Gehör finden sollten unter Christen, solange sie sich dabei nicht über den Mann stellen. Also: Kein Amt, aber dennoch ein Verkündigungsanspruch.

Li Marie, die offline Lisa Repert heißt, ist selbsterklärte „Christ“- und „Momfluencerin“, d. h. sie produziert und teilt Inhalte über die sozialen Medien, die ihr Leben als Christin und Mutter darstellen. Repert ist evangelikal geprägt und hat weder ein Amt noch eine offizielle Berufung aus ihrer Gemeinde. Sie tritt in ihren Posts als Laiin auf. Und knapp 13 000 Instagram-Follower sehen und hören ihr dabei zu.

ChristfluencerInnen wie Li Marie beanspruchen in Fragen des Glaubens öffentliches Gehör, ohne von einer bestimmten Gemeinschaft zur Verkündigung beauftragt worden zu sein. Eine institutionelle Bindung wird bei ihren digitalen Auftritten meist gar nicht ersichtlich – sie sprechen als Christen für Christen (oder solche, die es werden wollen). Das wirft Fragen auf, gerade aus Sicht der Großkirchen und der von ihnen verliehenen Amtsautorität. Wie wird Autorität jenseits von institutionalisierten Strukturen im Netz generiert? Oder einfacher gesagt: Wie ist es möglich, als Laiin oder Laie unter Millionen von NutzerInnen zur religiösen Autorität zu werden, ohne Institution im Rücken und Zertifikat in der Tasche? Und wie verändert sich die Art (und Qualität?) religiöser Verkündigung in den sozialen Medien? Wie werden die vermittelten Inhalte durch die offene Konkurrenz auf dem Markt der „Sinnfluencer:innen“, durch individuelles Branding und Kommerzialisierung geprägt?

Im Folgenden sollen theoretische Überlegungen zur religiösen Kommunikation in den sozialen Medien und einige Beispiele3 aus dem evangelikalen Spektrum dabei helfen, das Phänomen „Christfluencing“ besser zu verstehen.4 Es wird dargelegt, wie durch eine Mischung aus autobiografischen Bezügen, narrativen und dialogischen Strategien und einer Darstellung frommen Lifestyles innerhalb bestimmter Netzwerke religiöse Autorität aufgebaut wird, die zur Imitation einlädt. Darüber hinaus zeigt der Artikel, dass der Trend zur Präsentation christlichen Lifestyles mittlerweile teils ähnliche Kommerzialisierungsprozesse erkennen lässt, wie sie aus der esoterischen Lebenshilfe bekannt sind. Und er weist auf, dass vermehrt geschlechtsspezifische Lebensentwürfe mit religiöser Begründung in den Fokus von InfluencerInnen rücken.

Erfahrung statt Titel und Amt

Wie verschiedene WissenschaftlerInnen herausgearbeitet haben, unterliegt religiöse Kommunikation in der digitalen Welt spezifischen Mechanismen, die auf Form und Inhalt Einfluss nehmen. Der Kommunikationswissenschaftlerin Heidi Campbell zufolge ist „networked religion“ unter anderem gekennzeichnet durch flache Hierarchien und die Möglichkeit, quasi unverzögert zu interagieren (Campbell 2012, 64–93). Daneben nehmen unsichtbare Algorithmen Einfluss darauf, wer bei wie vielen Gehör findet. Denn sie „pushen“ zum Beispiel Posts mit besonders kontroversen Inhalten, die mehr Kommentare generieren als „harmlosere“ Beiträge.

Vor allem die flachen Hierarchien in den sozialen Medien, die alle institutionellen Strukturen gleichsam „überspringen“, beeinflussen die Dynamik religiöser Autorisierungsprozesse, dadurch aber auch die Art, wie religiöse Praxis dargestellt wird. Weder Titel noch offizielles Amt garantieren eine einflussreiche Position im Netz.Sobald Instagram und Co. zur Kanzel werden, entscheiden andere Faktoren. Neben einer persönlichen (An-)Sprache, einer engagierten Interaktion mit der Community und der strategischen Vernetzung mit einflussreichen MultiplikatorInnen spielt vor allem die authentische (und oft autobiografische) Narration religiöser Erfahrung in Bild, Text und Video eine tragende Rolle. Diese Darstellung individueller religiöser Identität durch persönliche Geschichten dient mehreren Zwecken: Zum einen zeigt die auf diese Weise hergestellte „storied identity“ Stationen des individuellen spirituellen Weges aus dem analogen Leben auf, gleichzeitig konstruieren InfluencerInnen dadurch aber auch ihre eigene gegenwärtige religiöse Identität im öffentlichen Raum des Netzes (Campbell 2012, 64–93).

Die religiösen Praktiken, Symbole und Inhalte, die von InfluencerInnen vermittelt werden, sind so aufs Engste verknüpft mit der je eigenen Lebensgeschichte, also mit der jeweiligen Person selbst. Die kommunizierten Inhalte spiegeln die individuelle Persönlichkeit des Content Producers wider. Und sie laden zum inhaltlichen Austausch ein, durch die Funktion des Kommentierens, Likens und Teilens. Viele Follower bleiben dabei nicht nur passive Konsumenten religiöser Inhalte, sondern agieren zugleich als „Produser“ (zusammengesetzt aus „Producer“ und „User“), die den jeweiligen Inhalt weiterentwickeln und verbreiten (Zeilinger 2020, 74). Diese Resonanz, die von guten Posts erzeugt wird, kann als „gemeinsames, partizipatives Theologisieren“ bezeichnet werden (Müller 2022, 215). Die dabei entstehende Dynamik gleicht oft einem kontinuierlichen Prozess religiöser Selbstfindung und -darstellung, die gut ins Zeitalter des „spirituellen Wanderers“ passt, der keine absolute religiöse Autorität mehr dauerhaft anerkennt und der mehr den spirituellen Weg als einen endgültigen Ort religiöser Beheimatung schätzt (Bochinger et al. 2009, 35–82).

Aus dem Gesagten wird hinreichend klar, dass religiöse Autorität in der „demokratisierten“ Sphäre der sozialen Medien nicht „von oben“ eingesetzt werden kann. Sie baut sich nur über eine überzeugende Art exemplarischer Führung auf, indem SinnfluencerInnen ihre Follower durch authentische Posts mit personalisierten religiösen Inhalten dazu einladen, ihrem Beispiel zu folgen (Weber 1980, 273).5 Diese „vorbildhafte“ Art der Führung legitimiert sich vorwiegend durch (außergewöhnliche) individuelle und existenzielle Erfahrung, die zu Umkehr und/oder besonderer religiöser Erfüllung geführt hat. Die öffentliche Person, die auf diese Weise kreiert wird, stilisiert sich häufig als Gegenentwurf zum „Mainstream“, gar als „Underdog“. Was dabei als Gegen-Bezugsgröße dient, kann je nach SinnfluencerIn variieren: Teils sind es bestimmte Traditionen oder Innovationen innerhalb einer Institution oder theologischen Richtung, teils eine imaginierte Mehrheitsgesellschaft, gegen die man sich abgrenzt.

Kurzum, ein Sinnfluencer legitimiert sich durch die eigene religiöse Erfahrung – die immer wieder in Bild und Ton unter Beweis gestellt werden muss. Und er zeichnet sich (im Gegensatz zu anderen, die möglicherweise ähnliche Erfahrungen gemacht haben) dadurch aus, dass er seine Erfahrungen für so sinnstiftend oder inspirierend hält, dass er sie mit anderen teilen will, um ihnen auf ihrem spirituellen Weg zu helfen.

Li Marie (Lisa Repert, @li.marie)

Die anfangs genannte Christfluencerin Li Marie tritt auf der Plattform Instagram als sanfte, dankbare Mutter und unterstützende Ehefrau eines christlichen Eventmanagers und Evangelisten auf. Ihr Zielpublikum kommt vornehmlich aus dem evangelikalen und pfingstchristlichen Raum. Genauer lässt es sich nicht bestimmen, da es bei Repert wie auch bei den anschließend genannten Christfluencerinnen Tendenzen zur Entkonfessionalisierung und zu postdenominationalen Stilen gibt (Neumaier 2022, 182). Darauf lässt sich aus den Inhalten ihrer Posts schließen, die sich vornehmlich um die Themen Familie, alltägliche Glaubenspraxis, Erweckung und Heilung drehen, in der Regel ohne Bezug zu einer konkreten Gemeinschaft. Sieht man sich das eingangs beschriebene Video in voller Länge an, erfährt man, dass Repert aufgrund einer Erkrankung ein ganzes Lebensjahr größtenteils im Krankenhaus oder zu Hause im Bett verbracht hat. Während dieser Krisenzeit fand sie wieder mehr zu Gott und letztendlich auch zu ihrer Berufung, ihm ihr Leben umfassend zu widmen. So erzählt es Repert in verschiedenen Videos, Interviews und auch in dem Buch Warum wir glauben – Wie sich Gott uns zeigte und wir die wahre Liebe fanden, das sie zusammen mit ihrem Mann Lukas 2021 veröffentlicht hat.

Während sie sich mit expliziten Positionierungen eher zurückhält, malen vor allem ihre geposteten Fotos ein klares Bild davon, wie sie ein gutes christliches Leben einer Frau versteht:

Ein Post etwa zeigt den damals circa zweijährigen Sohn in betender Haltung, die er einnahm, nachdem er ein entsprechendes Foto seines Vaters gesehen hatte. Das Foto verbindet auf emotionale Weise verschiedene Elemente der Botschaft der Christ- und Momfluencerin.6 Es symbolisiert die innige Verbindung zwischen Vater und Sohn (sonst würde der Sohn die Haltung des Vaters auf einem Foto nicht nachahmen), den Mutterstolz (sonst hätte sie es nicht fotografiert) und zuletzt den Stellenwert, den das Gebet als alltägliche Glaubenspraxis in der Familie zu haben scheint. Dass sie mit diesem Bild Elemente eingefangen hat, die innerhalb ihrer Community als zentrale Kennzeichen für ein vorbildliches christliches Leben gelten, bezeugen die 1317 Likes, die der Post von Reperts Followern bekommen hat.

Als Ehefrau eines pfingstchristlichen Evangelisten postet Repert zudem regelmäßig Bilder von Erweckungsfestivals und berichtet ausführlich vom Schicksal einzelner, die bekehrt wurden oder Heilung von körperlichen und seelischen Leiden erfahren haben.7 Neben dieser pfingstlich-charismatischen Färbung finden sich auch immer wieder Themen, die der evangelikalen „Purity Culture“8 zuzuordnen sind. In einem YouTube-Video, das vor der Eheschließung von Lisa und Lukas Repert aufgenommen wurde, erklären die beiden mit der Bibel und vor allem anhand persönlicher Erfahrungen aus früheren Beziehungen, warum sie mit dem Geschlechtsverkehr bis nach der Eheschließung warten wollen.9

Solche expliziten Positionierungen findet man im Portfolio von Repert tendenziell selten. Stattdessen erinnern viele ihrer Posts an spirituelle Coaches wie Laura Malina Seiler und Co. Zwar werden ihre Kinder und das mitunter strapaziöse Leben an der Seite eines Missionars ab und zu thematisiert, doch sieht man überwiegend Bilder, die Ruhe und Frieden ausstrahlen und manchmal stark an Hochglanzmagazine oder Werbespots erinnern: z. B. wenn eine Frau auf einem auf Wüstensand ausgebreiteten roten Teppich dahinschreitet, als sei es ein Catwalk. Nur das kurze Gebet an der Seite erinnert die Betrachterin wieder daran, dass sie es hier mit etwas anderem zu tun hat.10

#Girldefined (Kristen Clark und Bethany Beal)

Während Repert ihren christlichen Lifestyle hauptsächlich durch die Macht der Bilder vermittelt, positionieren sich andere ChristfluencerInnen deutlich expliziter. Auf Instagram folgen mittlerweile 72 700 Menschen dem Account „Girl Defined“, auf YouTube gibt es bereits 159 000 AbonnentInnen. Hinter den Accounts stehen die texanischen Schwestern Kristen Clark und Bethany Beal. Wie der Account-Name und die dazugehörige Marke der beiden bereits verraten, handelt es sich hier um eine klare Positionierung im derzeitigen Kulturkampf rund um das Thema Gender und Feminismus: „Girl defined“ (dt.: [von Gott] bestimmtes Mädchen) meint eine junge Frau, die sich (selbst-)bewusst an einem für biblisch gehaltenen Rollenbild orientiert, unbehelligt von Debatten um die Selbstverwirklichung der Frau oder die Unterscheidung zwischen körperlichem und sozialem Geschlecht.

Den Inhalten nach geht es meist um Fragen alltäglicher Glaubenspraxis. Im Fokus der beiden Schwestern steht dabei häufig die Frage: „Wie kann eine junge Frau im 21. Jahrhundert gottgefällig mit ihrer Sexualität umgehen?“ Diskutiert werden unter dieser Fragestellung Themen wie Singleleben und Dating, Sex vor der Ehe, Konsum von pornografischem Material, Masturbation, Abtreibung oder sexuelle Identität.

Auch Clark und Beal legitimieren ihre Expertise zu diesem Themengebiet durch ihre persönliche Erfahrung: In ihrem 2021 veröffentlichten Buch Not Part of the Plan: Trusting God with the Twists and Turns of your Story(Nicht Teil des Plans – Auf Gott vertrauen in den Irrungen und Wirrungen deines Lebens) erzählen die Schwestern von ihren persönlichen Lebenskrisen – und wie sie diese durch ihren Glauben gemeistert haben, ohne ihre gottgefällige Lebensweise aufzugeben. Während die eine mit ihrem jahrelangen Singledasein kämpfte, das sie nach dem von ihr selbst angelegten christlichen Maßstab vor die große Herausforderung langer sexueller Enthaltsamkeit stellte, musste die andere lernen, mit ihrer Unfruchtbarkeit zu leben, die ihren Lebensentwurf durchkreuzte. Die erfolgreich überwundenen Krisen etablieren Beal und Clark als Vorbild und erzeugen Resonanz bei den Followern, die sich mit ihnen identifizieren und sich innerlich an sie binden.

Dabei ist die Kommunikation bei „Girl Defined“ noch weitaus dialogischer angelegt als bei Li Marie. Wenn etwa erklärt wird, dass Gott den Menschen zwar als sexuelles Wesen geschaffen habe, man als Single aber dennoch keinen Sex haben dürfe, und wenn die drängende Folgefrage aufgeworfen wird, ob man jemals völlig befriedigt (oder auch zufrieden) sein kann, falls man ein Leben lang Single bleibt, dann wird – wie fast immer in solchen Ausführungen – das kollektive „wir“ verwendet. Dadurch wird eine geschlossene Diskursgemeinschaft erschaffen, zu der auch Beal und Clark selbst gehören. „Es ist wichtig für uns Frauen, zu verstehen, dass wir erschaffen worden sind, um tiefste Intimität mit Gott einzugehen. Er will, dass wir ihm vertrauen (Sprüche 3;5-6).“11

Wie stark Christfluencing mitunter in Richtung Kommerzialisierung christlichen Lifestyles und christliches Coaching geht, kann man bei den texanischen Schwestern beobachten. Nicht nur die professionalisierte cross-mediale Kommunikation, auch die Produktion von Ratgeberliteratur und nicht zuletzt das Angebot von praktischen Kursen zur Verbesserung der persönlichen Lebensführung sind Elemente, die aus dem digitalen Coaching lange bekannt sind. So verkaufen Beal und Clark neben ihren Büchern auch Merchandises wie T-Shirts, Jahresplaner oder Tagebücher im „Girl Defined“-Design, und sie bieten einen achtwöchigen Kurs an, der spirituelles Wachstum verheißt und Tools an die Hand zu geben verspricht, um als junge Frau „biblische Weiblichkeit“ zu leben – als Gegenentwurf zum nicht näher definierten „Mainstream“, der die Rolle der Frau und die angeborene Geschlechtlichkeit zunehmend infrage stelle und sich somit über die von Gott gegebene Ordnung erhebe.12

liebezurbibel (Jasmin Neubauer, @jasminnb)

Wie sehr auch im deutschsprachigen Christfluencing um die Themen Gender und Sexualität gerungen wird, zeigt das Beispiel der evangelikalen Influencerin Jasmin Neubauer, die mit ihren 64 900 Followern auf Instagram hierzulande zu den derzeit erfolgreichsten Christfluencerinnen gehört. Auch sie positioniert sich deutlich zu genderspezifischen Themen, und auch bei ihr zeigen sich Tendenzen von Kommerzialisierung.

Bei Neubauer verraten ausführliche Frage/Antwort-Posts über Zungenreden, Dämonen oder die Macht des Heiligen Geistes unverkennbar eine pfingstlich-charismatische Prägung. Ansonsten sind es vor allem überkonfessionelle christlich-konservative Standarddebatten, die sie beschäftigen, von der Ablehnung von „liberalen“ theologischen Fakultäten über Lebensschutz bis hin zur Genderproblematik. In ihrer Instastory „Theologie“ postet Neubauer zum Beispiel hoch ästhetische Bilder, die ihren Studienalltag am Schreibtisch samt Kaffeetasse und aufgeschlagener Griechisch-Grammatik zeigen, daneben Mitschriebe aus einer Ethik-Vorlesung an der FTH Gießen, ihrer „bibeltreuen“ Hochschule (so Neubauer), zum Thema „Abtreibung“.13

Wie Repert und die Schwestern von „Girl Defined“ hat auch Neubauer bereits eine Art Lebenshilfebuch veröffentlicht: Wo bleibt eigentlich dein Ehemann? Wenn der geistliche Druck auf Singles steigt.14 Das Buch zeugt vom Ringen um ein Frauenbild, das sich mit den allgemeinen Gepflogenheiten der Gegenwart und mit konservativ-christlichen Erwartungen vereinbaren lässt, und es zielt darauf, anderen Christinnen in ähnlicher Situation als Vorbild zu dienen.

Auch Neubauer verfügt über eine eigene Website, über die sie Merchandises vertreibt, wie wir es von spirituellen Coaches kennen. Die Produktpalette reicht von Motivationspostkarten mit biblischen Sprüchen in geschmackvollem Design über Bibelregister und Bibelvers-Lernhilfen bis zu mit Bibelzitaten bedruckter Kleidung. Mit diesen Artikeln kann der christliche Lifestyle, den Neubauer durch ihre digitale Inszenierung verkörpert, käuflich erworben werden. Alles ist im schlichten, aber eleganten „Liebe zur Bibel“-Stil gehalten, mit Logo versehen und somit materielles Symbol ihres modernen christlichen Lebensstils. Kurz: Hier wird professionelles Lifestyle-Branding betrieben.15

Zuletzt erntete Jasmin Neubauer viel Kritik für einen Post, der von vielen als verdeckte politische Wahlempfehlung für die AfD verstanden wurde.16 Auch ihre Vernetzung mit Leo Jäger lässt solche Interpretationen zu. So trat Neubauer im neuesten Video des neurechten Influencers, der unter dem Pseudonym „Ketzer der Neuzeit“ auf YouTube provokative Videos postet, als Interviewpartnerin auf.17 Es deuten sich damit neue Zweckallianzen über konfessionelle und religiöse Grenzen hinweg an, wie wir sie bereits aus dem konservativen Spektrum in den USA kennen.18 Und für Neubauer scheinen sich diese zu lohnen, denn allein auf Instagram hat sie seit dem Auftritt bei Jäger (und weiteren gemeinsamen Videos) mehr als 20 000 neue Follower dazugewonnen.

Schluss

Wie alle Beispiele zeigen, ist bei den Christfluencerinnen der religiöse Inhalt aufs Engste mit der jeweiligen Person verknüpft. Während eine differenzierte Entfaltung theologischer Standpunkte oft zweitrangig ist, ebenso wie ein geistliches Amt oder die fachliche Qualifikation, spielt die glaubhafte Darstellung der eigenen religiösen Biografie und der alltäglichen Glaubens- und Lebenspraxis die entscheidende Rolle. Erfolgreiche/r ChristfluencerIn wird, wer mithilfe kleiner Geschichten aus dem persönlichen Leben (in Bild oder Text) Resonanz bei Followern erzeugen kann, um auf diese Weise für Tausende zum Vorbild zu werden. Autorität etablieren also diejenigen, die durch die vermittelten Inhalte (positive) Emotionen erzeugen, die Follower binden und diese dazu ermutigen, denselben Lifestyle anzustreben. Dabei ist die ästhetisch überzeugende Performanz Dreh- und Angelpunkt für eine erfolgreiche Vermittlung des christlichen Lifestyles, der, wie bei „Girl Defined“ und „Liebe zur Bibel“ bereits erkennbar, als aktive Lebenshilfe vermarktet werden kann. Gerade die letzten beiden Beispiele inszenieren sich dabei gezielt als Gegenentwurf zum „Mainstream“ und verhandeln die Frage nach der Rolle der christlichen Frau in selbstbewusstem Ton neu.

Gerade für Gemeinschaften mit festen institutionalisierten Strukturen, wie die evangelische Kirche mit ihren ordinierten Pfarrerinnen und Pfarrern, ist die Art der Führung durch persönliches Beispiel, die in den sozialen Medien erfolgreich praktiziert wird, eine Herausforderung. Auch kirchliche InfluencerInnen erlangen nur dann Relevanz im Netz, wenn sie Glauben und Praxis authentisch und mit der eigenen Biografie verknüpft präsentieren. Einzelnen kirchlichen InfluencerInnen wie Josephine Teske (@seligkeitsdinge_), Maike Schöfer (@ja.und.amen) oder Max Bode (@pynk_pastor) gelingt es, den dabei geforderten Spagat zwischen Amt und Privatperson zu meistern. Häufig können allerdings auch sie die Grundspannung zwischen Institution und Einzelperson nur überwinden, indem sie sich, obwohl selbst AmtsträgerInnen, als Gegenentwurf zum kirchlich Normalen präsentieren. Dadurch aber verstärken sie unter der Hand das öffentliche Bild von „Kirche“ als veralteter Institution. Verzichteten die landeskirchlichen InfluencerInnen jedoch auf diese kirchlich-antikirchliche Gegeninszenierung, überließen sie (und mit ihnen ihre Landeskirchen) den Diskurs zu bestimmten Themen am Ende allein den kirchlich ungebundenen, meist evangelikalen ChristfluencerInnen. Und sie vergäben damit die Chance, auch christliches Leben anderer, aufgeklärt-kirchlicher Prägung im Netz sichtbar werden zu lassen.


Anmerkungen

  1. www.youtube.com/watch?v=s0wBlH9A9VA (Abruf der Internetseiten: 23.2.2023).
  2. Siehe dazu Svenja Hardecker/Philipp Kohler: Die „Global Video Church“. Neucharismatische Plattform mit apokalyptischer Gegenwartsdiagnose, in: ZRW 85/1 (2022), 32–34.
  3. Die im Folgenden genannten Beispiele sind alle weiblich. Der Grund hierfür ist die erhöhte Vergleichbarkeit und die größere Reichweite von weiblichen Christfluencerinnen auf Instagram. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, da es auf Instagram und anderen Plattformen ebenso männliche Influencer gibt.
  4. Der Artikel schließt dabei an Anna Neumaiers Artikel „Christliches Influencing in sozialen Medien“ an, der Tendenzen zur Entkonfessionalisierung und eine veränderte Art von religiöser Autorität identifizierte. Vgl. Neumaier 2022.
  5. Anna Neumaier spricht hier von einer „Neuverhandlung religiöser Autorität“ (Neumaier 2022, 181). Tatsächlich ist diese Art exemplarischer Führung jedoch religionsgeschichtlich gesehen keine Neuheit, da Mitglieder aus marginalisierten Gruppen schon immer auf diese Form nicht institutionalisierter religiöser Autorität zurückgegriffen haben. Vgl. Claudia Jetter: Promoting the Methodist Woman Preacher. Phoebe Palmer’s Concept of „Female Prophesying“ and the Question of Spiritual Authority, in: Wesley and Methodist Studies 14/1 (2022), 50–71.
  6. www.instagram.com/p/CYd3WH-IYkR.
  7. Vgl. www.instagram.com/p/CQB_izhBwPb/ (12. Juni 2021); www.instagram.com/p/CgxQMp0IQxZ/ (August 2022); www.instagram.com/p/CgwhllbIrbo/ (August 2022).
  8. Unter „Purity Culture“ versteht man eine Jugend-Subkultur innerhalb des evangelikalen Spektrums, das klar definierte Rollen und Aufgaben für Mann und Frau vorsieht, sexuelle Abstinenz vor der Ehe propagiert und Sittsamkeit stark betont. Die „Purity Culture“, die gerade in den 1990er Jahren starken Aufwind hatte, wird mittlerweile auch innerhalb der evangelikalen Welt und vor allem unter Post- und Exevangelikalen kritisch diskutiert und erscheint in unterschiedlich strengen Varianten. Lisa Repert wie auch die anderen hier gezeigten Beispiele scheinen eine etwas weniger strenge Form der „Purity Culture“ zu leben, da zum Beispiel Dating ohne Anwesenheit Dritter möglich zu sein scheint. Dazu: Claudia Jetter, „Purity Culture“ [Stichwort], ZRW/4/2023, 301-309).
  9. www.youtube.com/watch?v=sYPod3ZsCfQ (2019).
  10. www.instagram.com/p/CdplyEIos3Z/ (Mai 2022).
  11. Instastoryvon @girldefined: Can I be fully satisfied if I never have Sex?, www.instagram.com/stories/highlights/18165303586196961 (September 2021), Hervorhebung C. J.
  12. Der „Girl Defined Mentorship Course“: https://girldefined.mykajabi.com/girl-defined-mentorship-program.
  13. www.instagram.com/stories/highlights/17911005947243391.
  14. www.liebezurbibel.com/product-page/wo-bleibt-eigentlich-dein-ehemann.
  15. Nicht überraschend – unter den Buchempfehlungen auf Neubauers Website befinden sich auch zwei Bücher von „Girl Defined“, www.liebezurbibel.com/leistungen.
  16. www.instagram.com/p/CoFxuOGLiNr/?igshid. Der gut vernetzte exevangelikale Blogger und Lehrer Jason Liesendahl war einer der ersten, der auf Neubauers Post aufmerksam gemacht hat mit seinem Post „Rechtsradikales Gedankengut bei Liebe zur Bibel?“, https://jasonliesendahl.de/rechtsradikales-gedankengut-bei-liebe-zur-bibel.
  17. Über den Vorfall der Videoaufnahmen während des Queer-Universitätsgottesdienstes in Berlin und die Hintergründe von Leo Jäger berichtet Philipp Greifenstein in seinem Artikel „Der ‚Ketzer der Neuzeit‘ und die reale Gefahr für queere Christen“, in: Eulemagazin, 23. Februar 2023, https://eulemagazin.de/der-ketzer-der-neuzeit-und-die-reale-gefahr-fuer-queere-christen.
  18. Im neuesten Video von „Ketzer der Neuzeit“ besucht und filmt Leo Jäger einen Queer-Gottesdienst der theologischen Fakultät an der Humboldt Universität und unterlegt diesen mit Kommentaren sowie eingespielten Interviewsequenzen, in denen Jasmin Neubauer aus biblischer Perspektive begründet, warum die Heteronormativität nicht infrage gestellt werden darf. Vgl. www.youtube.com/watch?v=lMjYdRAzkT8.


Literatur

Bochinger, C./Engelbrecht, M./Gebhardt, W. (2009): Einführung, in: dies. (Hg.): Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur (Religionswissenschaft heute, 3), Stuttgart 9–34.

Campbell, Heidi A. (2007): Who’s Got the Power? Religious Authority and the Internet, in: Journal of Computer-Mediated Communication 12/3, 1043–1062.

Campbell, Heidi A. (2012): Understanding the Relationship between Religion Online and Offline in a Networked Society, in: Journal of the American Academy of Religion 80/1, 64–93.

Engelbrecht, M. (2009): Die Spiritualität der Wanderer, in Bochinger, C./Engelbrecht, M./Gebhardt, W. (Hg.): Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur (Religionswissenschaft heute, 3), Stuttgart, 35–82.

Müller, Sabrina (2022): Öffentliche Kommunikation christlicher Sinnfluencer:innen. Medienethische und kirchentheoretische Beobachtungen und Reflexionen, in: Pastoraltheologie 111, 203–218.

Neumaier, Anna (2022): Christliches Influencing in sozialen Medien. Religiöse Stile, Entkonfessionalisierung und die Konsequenzen für religiöse Autorität, in: ZRW 85/3, 173–184.

Schlag, Thomas/Müller, Sabrina (2022): Digital Communication as Theological Productivity in a Participatory Church „For and With All“. Empirical Observations and Ecclesiological Reflection, in: Campbell, Heidi A./Dyer, John: Ecclesiolology for a Digital Church. Theological Reflections on a New Normal, London, 74–85.

Shawn (2021): Religious Digital Creatives and Artificial Intelligence. An Interview with Professor Heidi Campbell, AI and Faith (blog), https://aiandfaith.org/religious-digital-creatives-ai-interview-professor-heidi-campbel .

Weber, M. (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Studienausgabe, Tübingen, 268–275.

Zeilinger, Thomas (2020): Freiheit und Verantwortung. Maximen theologischer Medienethik, in: Ulshöfer, Gotlind/Wilhelm, Monika (Hg.): Theologische Medienethik im digitalen Zeitalter, Stuttgart.