„Raus aus dem Elfenbeinturm“: Gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW setzt das am Centrum für Religion und Moderne (CRM) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum eingerichtete transdisziplinäre Forschungskolleg „Regionale Regulierung religiöser Pluralität im Vergleich“ (RePliV: http://www.forschungskolleg-repliv.de/) in seiner zweiten Förderphase (2021-2024) neue Akzente in der Religionsforschung. Anknüpfend an das ebenfalls vom Land NRW geförderte Vorgängerprojekt „Religiöse Pluralität und ihre Regulierung in der Region“ (RePliR: https://ceres.rub.de/de/forschung/projekte/replir/) erweitert es dessen vornehmlich auf die Kartierung weltanschaulicher Pluralität in NRW begrenzte Perspektive (vgl. dazu das 2021 herausgegebene Praxishandbuch zur „Vielfalt der Religionen“, s.u.) nun um den Vergleich der Strategien ihrer Regulierung auf lokaler und internationaler Ebene. Zugleich wird das Kolleg zur Förderung der sog. Third Mission bzw. des Wissens- und Forschungstransfers in die breitere Öffentlichkeit den kontinuierlichen Dialog mit Politik und Gesellschaft sowie die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure in den Forschungsprozess (Religionsgemeinschaften, Verwaltungen, Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen u.a.) nochmals weiter verstärken.
Denn verstärkt hat sich auch, so machte die Eröffnungskonferenz zum Forschungskolleg deutlich, der auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene anfallende Bedarf an Informationen, Regelungen und Handlungsanweisungen zu religionsspezifischen Fragestellungen (vgl. Zeit- und Bekleidungsregelungen für Schwimmbäder, religiöses Schächten, Bestattungsregelungen usw.) in den unterschiedlichsten Bereichen der Zivilgesellschaft (vgl. Altenpflege, Flüchtlingsunterkünfte, Integrations- und Migrationsarbeit, interreligiöser Dialog usw.). Migration, Flucht und die zunehmende Entkirchlichung – die noch 1960 über 95 Prozent der Bevölkerung repräsentierenden Mitglieder der christlichen Kirchen stehen heute, mit knapp 50 Prozent, einer wachsenden Zahl an Konfessionslosen (ca. 42%) und Muslimen (ca. 9%) gegenüber – haben zu grundlegenden Veränderungen der religiösen Landschaft beigetragen, die das 1919 (Weimarer Reichsverfassung, WRV) und 1949 (Grundgesetz, GG) formulierte Religionsrecht nachvollziehbarerweise noch nicht im Blick hatte. Angesichts der Dringlichkeiten einer gedeihlichen Koexistenz verschiedener Religionen in der säkularen Moderne bedarf daher die insgesamt noch in ihrem Anfangsstadium stehende Regulierung der religiösen Pluralität in Deutschland und Europa ebenso wie ihre Erforschung selbst der nachhaltigen Förderung durch die Politik. Über die für die Forschung unverzichtbare Grundlage einer Kartierung der Heterogenität weltanschaulicher Pluralität hinaus wird es in der zukünftigen Religionsforschung zur religiösen Pluralität vor allem auch darum gehen müssen, die unterschiedlichen Strategien und Praxen der Regulierung religiöser Pluralitäten in gesellschaftlichen Handlungsfeldern eingehend zu analysieren und die Ergebnisse dieser Analysen in Politik und Gesellschaft einzuspeisen. Zwar wird die (Religions-)Wissenschaft, wie die Sprecher des Kollegs, Volkhard Krech (RUB) und Ulrich Willems (WWU) unterstrichen, die mit den Konfliktlinien religiöser Pluralität verbundenen Probleme nicht lösen bzw. den Praktikern in der Politik die Entscheidung über angemessene Maßnahmen nicht abnehmen können. Gleichwohl kann sie dabei helfen, auf Basis vorläufiger Erkenntnisse resiliente Lösungsansätze dafür zu entwickeln sowie wissensbasierte und damit nachhaltige Entscheidungen in diesem heterogenen und komplexen Feld zu treffen.
Die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion strategischer Regulierungen religiöser Pluralität ergibt sich zum einen, wie Krech und Willems betonten, aus den identitätsstiftenden und damit konfliktgenerierenden Momenten religiöser Zugehörigkeiten selbst, zum anderen aber auch aus der „Unberechenbarkeit“ der Entwicklung religiöser Pluralitäten angesichts des in Zeiten der Pandemie gestiegenen Konfliktpotentials ausgrenzender Abgrenzungsideologien. Diese Unberechenbarkeiten und Konfliktpotentiale waren zugleich auch Gegenstand eines Impulsvortrags zur „Religionsforschung im politischen Kontext“, in dem Gritt Klinkhammer (Universität Bremen), Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW), zugleich einen kritischen Blick auf das Eingebundensein ihrer eigenen Disziplin, der Religionswissenschaft, in politische Projekte und Erwartungshaltungen warf und die damit verbundenen Herausforderungen für die Religionswissenschaft eingehend reflektierte. In den auch von hegemonialen Diskurspositionen und Lesarten geprägten Kontexten der Politik- und Religionsberatung stünden Religionsforscherinnen und Religionsforscher, so Klinkhammer, immer wieder in der Gefahr, zu ParteinehmerInnen der von ihnen beschriebenen bzw. analysierten religiösen Bewegungen, Dynamiken und Gruppierungen zu werden und damit eine Form von religious engineering zu betreiben, in der die Religionswissenschaft die ihr durch ihren säkularen und methodisch wertfreien Forschungsansatz gesetzten Grenzen überschreitet. Der Verlust der ihr anempfohlenen Distanz zum Gegenstand impliziere dabei möglicherweise auch eine Verengung der Perspektive auf das breite Spektrum plausibler Lösungswege zur Regulierung religiöser Pluralität.
Angesichts der mit dieser Pluralität verbundenen Notwendigkeit neuer religionspolitischer bzw. religionsverfassungsrechtlicher Regelungen erweist sich eine Neuordnung des religiösen Feldes zweifellos als überfällig. Das durch den digitalen Raum nochmals erheblich erweiterte Spektrum der vielfältigen Rationalitäten, die in den modernen Gesellschaften mit-, neben- und gegeneinander um Macht und Einfluss konkurrieren, bedarf, das machte die Eröffnungskonferenz zum Forschungskolleg eindrücklich deutlich, einer möglichst unvoreingenommenen wissenschaftlichen Analyse, die sich von impliziten Impulsen zur Förderung der von den Religionsgemeinschaften forcierten gruppenbezogenen Anerkennungsprozesse möglichst freihält. Denn nur in Absehung von nichtempirischen Bewertungen, transzendenten Variablen und einem definitorischen Essentialismus in Fragen der Religion wird die Religionswissenschaft den von ihr auch von der Politik erwarteten wissenschaftlichen Beitrag zur Neuentwicklung angemessener Konzepte der Regulierung religiöser Pluralität liefern können. Die dem Forschungskolleg angehörenden, zu Transformationsprozessen und Regulierungsstrategien im Kontext religiöser Minoritäten (z.B. jüdisch-muslimische Bündnisse, jüdische Responsa-Literatur usw.) forschenden Doktorandinnen und Doktoranden dürfen sich, daran ließ die Eröffnungskonferenz keinen Zweifel, bei allen an sie gestellten (hohen) Erwartungen bestens wissenschaftlich begleitet und unterstützt wissen.
Rüdiger Braun
Weiterführende Literatur und Links
Sarah J. Jahn/Judith Stander-Dulisch (Hg.): Vielfalt der Religionen: Ein Praxishandbuch zur Regulierung von religiöser Pluralität in Nordrhein-Westfalen, Frankfurt/M. 2021.
http://www.forschungskolleg-repliv.de/
https://ceres.rub.de/de/forschung/projekte/replir/
https://www.politische-bildung.nrw.de/publikationen/titelverzeichnis/details/print/vielfalt-der-religionen
Ansprechpartner
PD Dr. theol. Rüdiger Braun
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
Auguststraße 80
10117 Berlin
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