Israelbezogener Antisemitismus und Schutzversprechen
Der bedrohliche Anstieg antisemitischer Übergriffe auf Jüdinnen und Juden, wie er im nun zu Ende gehenden Jahr zu beobachten war, hat den Bundestag ein Jahr nach dem Hamas-Massaker veranlasst, im Kampf gegen den seither grassierenden israelbezogenen Antisemitismus ein Zeichen zu setzen. Kurz vor dem Gedenktag zu den Novemberpogromen 1938 verabschiedete er am 5. November 2024 mit Stimmen von CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und AfD die Resolution „Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“1. Der Auftrag zu besonderen Schutzmaßnahmen ergebe sich aus der Selbstverpflichtung zur „besonderen historischen Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden weltweit“ sowie aus einem „unverrückbaren Schutzversprechen an das Existenzrecht des Staates Israel als sichere Heimstätte des jüdischen Volkes“.
Antisemitismusprävention und notwendiges „Definieren“
Eine vertiefende Reflexion darüber, was diese Selbstverpflichtung mit Blick auf das Verhältnis zur gegenwärtigen israelischen Regierung und deren international höchst umstrittenen Verteidigungs- bzw. Vergeltungsmaßnahmen beinhaltet, bleibt in der Resolution hingegen aus. Damit wird zugleich deutlich: In ihrem Fokus stehen nicht Israel und der Nahostkonflikt, sondern die innenpolitischen Rahmenbedingungen einer von unterschiedlichen Erinnerungskulturen bestimmten Migrationsgesellschaft. Dazu bedürfe es vor allem „Sensibilisierungsmaßnahmen und Codes of Conduct in Bezug auf Antisemitismus“ für bundesgeförderte Einrichtungen, aber auch des Ausschlusses oder Abbruchs finanzieller Förderung von „Organisationen und Projekten, […] die Antisemitismus verbreiten, das Existenzrecht [Israels] in Frage stellen, die zu Boykott Israels aufrufen oder die BDS-Bewegung aktiv unterstützen.“ Die damit aufgeworfene Frage, ab wann und nach welchen Kriterien eine Kritik an Israel und an dessen Kriegsführung in Gaza und im Libanon bereits als antisemitisch zu klassifizieren ist, wird mit Verweis auf die in einem Kabinettsbeschluss vom 17. Mai 20192 bereits angenommene und als „maßgeblich“ interpretierte „Arbeitsdefinition“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) beantwortet.
Arbeitsdefinition der IHRA und Kritik
Die 2005 von der EUMC (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia) erstmals formulierte und 2016 von der IHRA als für sie selbst verbindlich angenommene Arbeitsdefinition sucht Antisemitismus als „bestimmte Wahrnehmung von Juden“3 mit insgesamt elf Beispielen zu veranschaulichen. Acht davon nehmen ausschließlich den israelbezogenen Antisemitismus in den Blick und unterscheiden dabei ausdrücklich zwischen legitimer und antisemitischer Kritik am Staat Israel. Zugleich qualifizieren sie angesichts der Selbstbeschreibung Israels als jüdischer Staat eine gegen Israel selbst und nicht gegen eine konkrete Regierungspraxis gerichtete Feindschaft per definitionem als antisemitisch. Dazu gehört u.a. auch „das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates sei ein rassistisches Unterfangen“. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Amnesty International, aber auch kirchliche Gruppen wie Pax Christi sowie Netzwerke palästinensischer und arabischer Christen haben gegen diese Qualifizierung eines gegen den Staat Israel erhobenen Rassismusvorwurfs als antisemitisch Einspruch erhoben und der IHRA-Definition insgesamt eine implizite pro-israelische Parteinahme vorgeworfen.4 Auch wissenschaftliche Netzwerke sehen in der von der Resolution geforderten und gegen (durch die Meinungsfreiheit gedeckte) Formen von „Israelkritik“ gerichteten Implementierung von Verhaltensnormen einen Übergriff in die Freiheit der Wissenschaft.5 Sie appellieren an die Eigenverantwortung der Zivilgesellschaft sowie der (Bildungs-)Institutionen, zur Bekämpfung von Antisemitismus entsprechende Mechanismen zur Selbstregulierung zu entwickeln.
Begegnung unterschiedlicher Erinnerungsräume
Eine Einordnung und Bewertung der Resolution des Bundestags und der IHRA-Arbeitsdefinition lässt sich nicht unter Absehung der jeweils unterschiedlichen Perspektiven auf den Nahostkonflikt, der spezifischen Rolle Deutschlands in diesem Konflikt sowie der teils heftig miteinander kollidierenden Erinnerungskulturen vornehmen. In Anbetracht dessen kann die Bewahrung und Förderung jüdischen Lebens in seiner ganzen Vielfalt nicht von der in der Resolution ausgeblendeten Dimension des Nahostkonflikts und seines Eskalationspotentials absehen. So dringend Schutz, Bewahrung und Förderung jüdischen Lebens in Deutschland angesichts der seit einem Jahr überproportional angestiegenen antisemitischen Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden auch gefordert sind, so wenig dürfen die damit verbundenen Anstrengungen die Polarisierung zwischen zwei exklusiven und moralisch aufgeladenen Solidaritäten (Israel vs. Palästina) einfach in Kauf nehmen. Uneingeschränkte Solidarität mit den Jüdinnen und Juden in Deutschland nimmt zugleich die unzähligen Opfer des Krieges in Gaza und im Libanon mit in den Blick und gibt auch ihren Erzählungen über diesen Krieg und die von ihm verursachten physischen und psychischen Schäden Raum. Sie ermöglicht so einen Perspektivenwechsel, der es zugleich erlaubt, der binären Lagerbildung des Entweder-oder zu entkommen und die kritisch gegen Israel und dessen Politik gerichtete Position des Anderen – ohne diese übernehmen zu müssen – nachzuvollziehen.
Singularität des Holocaust und gruppenbezogene Ausgrenzung
Um die Gesprächsräume, die es für einen solchen Perspektivenwechsel bedarf, möglichst offen zu halten, macht es Sinn, die Hürden für die Teilnahme daran nicht übergebührlich hoch zu stecken. So verständlich es im Kontext der deutschen Erinnerungskultur sein mag, die Einordnung des Holocaust als singuläres Menschheitsverbrechen zum Kriterium gesellschaftlicher Inklusion machen zu wollen: Es wäre verfehlt, die vielfachen Formen von „Israelkritik“ in den linken, rechten, jüdischen, arabischen, türkischen und iranischen Facetten des Antizionismus allesamt vor diesem Hintergrund zu lesen. Es wäre aber nicht weniger verfehlt, den Antisemitismus als Ausgrenzungsphänomen nun, zur strategischen Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte, in das umfassendere Spektrum der Diskriminierungspraktiken gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit einzuordnen. Die 2021 als Gegenentwurf zur IHRA-Definition veröffentlichte Jerusalem Erklärung zum Antisemitismus (Jerusalem Declaration on Antisemitism, JDA)6 profiliert sich in ihren Leitlinien mit dem Bestreben, Kritik am israelischen Staat, an seinen Institutionen und am Zionismus, aber auch „gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten“ nicht per se dem Antisemitismus zuzuordnen. Sie schlägt deshalb eine sehr viel engere Definition vor, die Antisemitismus als eine Unterform des Rassismus bestimmt: konkret als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden“. Weil sich im Zuge dieser universalisierenden Einbettung des Antisemitismus in den Kontext allgemeiner Menschenrechts- und Antirassismus-Normen zugleich dessen Besonderheiten verwischen, führt dies zu einer Positionierung, die das breite Spektrum gegenwärtiger Forschungsperspektiven auf den israelbezogenen Antisemitismus erheblich verengt.
Rassismus, Kolonialität und antisemitische Grundmuster
Zur weiteren Präzisierung handhabbarer Kriterien zur Bestimmung von Antisemitismus bedarf es in einer Gemengelage, in der die Wiederbelebung antijüdischer Verschwörungsmythen alle gesellschaftlichen Schichten zu erfassen scheint, eines deutlich schärferen Analyserasters als dem, das die JDA vorlegt. Insbesondere die in den sozialen Medien an Israel gerichteten Vorwürfe, als „siedlungskolonialistischer Staat“ das Land der Palästinenser „ethnisch säubern“, einen „Apartheidstaat“ errichten und in Gaza und im Libanon einen „Völkermord“ begehen zu wollen, lassen wenig Zweifel daran, dass Israel hier nicht nur als Repräsentant des Rassismus fungiert: Es wird zum verschwörungsideologisch aufgeladenen Prinzip von „Kolonialität“ par excellence, in dem ein „weißer Kolonisator“ den als „Schwarz“ und „unterdrückt“ konstruierten Palästinensern als der angestammten und indigenen Bevölkerung Palästinas das Land entreißt. Mehr noch: Eine winzige Minderheit von etwas mehr als 0,1 Prozent der Weltbevölkerung „orchestriert und manipuliert im Verborgenen das Weltgeschehen“7 und fungiert somit als willkommene und unendliche „Projektionsmatrix“, die es erlaubt, die Welt mittels kollektiver Personifizierung zu ‚erklären‘.
Distanzierung von den Scharfmachern
Diese verschwörungsideologische Denkform, die gegenwärtige (rechtsextremistische, islamistische, links-antiimperialistische etc.) Varianten des israelbezogenen Antisemitismus miteinander verbindet, geht nicht nur weit über (rassistische) Vorurteile hinaus. Das mit ihr verbundene, zeitgenössische Judentum als monolithischen Block homogenisierende Narrativ blendet zugleich die dort stattfindende, höchst lebendige und kontroverse Debatte über den Zionismus und dessen höchst disparate Formen vollständig aus. Die gegenwärtige nationalreligiöse Regierungskoalition wird, so sind viele Juden in und außerhalb Israels überzeugt, die Hoffnungen, die sich ursprünglich mit diesem als Heimstatt geflüchteter Menschen geschaffenen Staates verbanden, nicht einlösen können. Auf palästinensischer Seite hingegen steht eine Absetzbewegung im Sinne eines ‚Free Palestine from Hamas‘ noch aus. Was dort bislang zu vernehmen ist, ist entweder „dröhnendes Schweigen“8 oder der Ruf zur gewaltsamen Vernichtung Israels.
So berechtigt die Kritik am Verfahren ihres Zustandekommens sowie an den von ihr geforderten Maßnahmen auch sein mag, kann die Antisemitismus-Resolution des Bundestags ein Anlass sein, auf ein umfassenderes, die unterschiedlichen Perspektiven integrierendes oder zumindest ins Gespräch bringendes Konzept der Bekämpfung von Antisemitismus hinzuarbeiten. Eine Einladung dazu sind die glücklicherweise nicht rechtsverbindlichen „Arbeitsdefinitionen“ und „Erklärungen“ allemal.
Rüdiger Braun, Dezember 2024
Anmerkungen
- Deutscher Bundestag, 20. Wahlperiode, „Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“, Drucksache 20/13627 vom 5.11.2024, https://tinyurl.com/34z8jf4b.
- Vgl. Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, „Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“, Drucksache 19/10191 vom 15.5.2019, https://tinyurl.com/yc7khk7p.
- Der zentrale Satz im Wortlaut: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann“ („Arbeitsdefinition von Antisemitismus“, IHRA, https://tinyurl.com/nh5z6fd5).
- Vgl. „Deutschland: Verabschiedete Antisemitismus-Resolution gefährdet Grund- und Menschenrechte“, Amnesty International, https://tinyurl.com/3k54h2f2.
- Vgl. u.a. „Schutz jüdischen Lebens. Ein Textvorschlag“, Gastbeitrag von Ralf Michaels u.a., in: F.A.Z. PRO Einspruch, 23.10.2024, https://tinyurl.com/54v8xbpz.
- Vgl. zum Folgenden die deutsche Fassung in: https://jerusalemdeclaration.org/.
- Lars Rensmann, „Globalisierter Antisemitismus: Neue Wege der politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung zu Judenfeindschaft im globalen und digitalen Zeitalter“, in: Gustav Gustenau, Florian Hartleb (Hg.), Antisemitismus auf dem Vormarsch. Neue ideologische Dynamiken (Baden-Baden: Nomos 2024),43-88, 45f; zum Nachfolgenden: ebd.
- Julia von Heinz, „Diese unendliche Einsamkeit“, SpiegelChronik 2024, 32f., 32.