Der „Marsch des Lebens“ – echte Versöhnung oder instrumentalisiertes Gedenken?

Der „Marsch des Lebens“ einer Tübinger Freikirche soll das Gedenken an den Holocaust wachhalten, erntet jedoch auch immer wieder Kritik. Geht es wirklich um Versöhnung oder verfolgen die Veranstalter nicht doch ganz andere Ziele?

Alexander Benatar
Flaggen des Staates Israel

Wieder haben im Januar einige „Märsche des Lebens“ stattgefunden. Bereits seit 2007 organisiert das Pastorenehepaar Jobst und Charlotte Bittner mit ihrer evangelikalen Freikirche „Tübinger Offensive Stadtmission“ (TOS) Gedenk- und Versöhnungsmärsche zur Erinnerung an die Schrecken der Shoah. Von Jahr zu Jahr nehmen mehr Menschen an diesen Märschen teil. Bevorzugt um den 27. Januar, den Internationalen Holocaust-Gedenktag, versammeln sich in Tübingen, mittlerweile aber auch in einer Reihe anderer Städte in Deutschland und weltweit, mehrere hundert Menschen, um ein Zeichen gegen das Vergessen zu setzen. Fester Bestandteil dieser Veranstaltungen, in denen zur Solidarität mit dem Judentum und Israel aufgerufen wird, ist neben dem Schwenken von Israelfahnen auch das Bekenntnis zur Schuld der nachfolgenden Generationen am deutschen Verbrechen des Holocaust sowie die öffentlichkeitswirksame Bitte um Vergebung an Holocaustüberlebende und ihre Nachfahren.

Ausgerechnet in der jüdischen Gemeinde in Deutschland wurde zuletzt allerdings auch Kritik an dieser Form des Gedenkens laut. Es sei „eine Verhöhnung der Opfer, wenn man sie für eigene religiöse Zwecke missbraucht“, warnte 2017 ein Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Dresden auf einem von der dortigen TOS organisierten „Marsch für das Leben“.1 Bedenklich scheint einigen Beobachtern vor allem der Wunsch der VeranstalterInnen und TeilnehmerInnen, sich durch die Märsche selbst zu exkulpieren. Denn nach Überzeugung von Jobst Bittner hat sich in der deutschen Gesellschaft eine „Decke des Schweigens“ (so auch der Titel eines seiner Bücher) über das dunkelste Kapitel ihrer Geschichte gebreitet. Diese historische Schuld verhindere die wahre Versöhnung der Menschen mit sich und könne allein durch unbedingte Buße überwunden werden.2 Hierzu dienen Bittner nicht nur die offiziell als „Gebetsveranstaltungen“ deklarierten Märsche, sondern nach Aussagen von TOS-Aussteigern gehören auch Dämonenaustreibungen zum Repertoire seiner Freikirche.3  

Ebenfalls kritisiert wird immer wieder eine hinter den „Märschen des Lebens“ vermutete besonders zweifelhafte Form des christlichen Zionismus. Diesem zufolge müssen alle Juden weltweit ins Heilige Land emigrieren, damit der Messias, d.h. Jesus, erneut erscheinen kann. Sodann würden auch alle Juden zum Christentum konvertieren. Zwar ist dies nicht ausdrückliches Ziel der TOS, deren Leiter Jobst Bittner pflegt aber beste Beziehungen zu messianischen Juden, die ihrerseits für ihre Judenmission bekannt sind.4 Es stellt sich also durchaus die Frage, ob die „Märsche des Lebens“ neben der Durchbrechung einer vermeintlichen „Decke des Schweigens“ langfristig nicht auch als Deckmantel evangelikaler Judenmission dienen sollen.

Trotz dieser Bedenken zeigten Regierungsvertreter unterschiedlicher Couleur bislang kaum Berührungsängste mit den „Märschen des Lebens“. Im April 2018 marschierte in Berlin der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, in der ersten Reihe mit,5 und am diesjährigen „Marsch“ in Ueckermünde beteiligte sich neben dem Staatssekretär für Vorpommern, Patrick Dahlemann (SPD), auch der parteilose Bürgermeister der Stadt, Jürgen Kliewe.6 Für die Ausrichtung eines „March of Nations“, zu dem 2018 über 6.000 TeilnehmerInnen aus der ganzen Welt in Jerusalem zusammenfanden, erhielt Bittner Ende Januar nun auch eine Auszeichnung von der israelischen Regierung. Gewürdigt wurde dabei neben seinem Engagement gegen das Vergessen der Shoah bezeichnenderweise auch sein Einsatz für den Tourismus in Israel.7 Jobst Bittner selbst sieht in seinen Kritikern vor allem Neider.8 Weitere Märsche sollen folgen.

Alexander Benatar

1  Vogelsberg, Karin: „Irritationen beim »Marsch des Lebens«“, In: Jüdische Allgemeine, 02.05.2017 (https://www.juedische-allgemeine.de/gemeinden/umstrittenes-gedenken/).
2  Kaeding, Eyke F.: „Und erlöse uns von der Finsternis.“ In: taz, 09.05.2015 (https://taz.de/!869059/).
3  Balke, Ralf: „Finstere Freunde“, In: haGalil.com, 11.02.2020 (http://www.hagalil.com/2020/02/marsch-des-lebens-3/).
4  Langer, Armin: „Der Antisemitismusbeauftragte unter Judenfeinden?“, In: Die Zeit, 05.06.2018 (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-06/felix-klein-antisemitismusbeauftragter-bundesregierung-demo-evangelikale/komplettansicht); zum Messianischen Judentum, vgl. EZW-Materialdienst 12/2019.
5  Langer: „Der Antisemitismusbeauftragte unter Judenfeinden?“
6 Johner, Christian: „"Marsch des Lebens" in Ueckermünde“, In: Nordkurier, 28.01.2020 (https://www.nordkurier.de/ueckermuende/marsch-des-lebens-in-ueckermuende-2838233701.html).
7 „Israel ehrt Pastor aus Deutschland“. In: israelnetz, 30.01.2020 (https://www.israelnetz.com/politik-wirtschaft/politik/2020/01/30/israel-ehrt-pastor-aus-deutschland/).
8 Kaeding: „Und erlöse uns von der Finsternis.“