Starkes Echo löste im Dezember ein Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens (SRF) über die Rituelle Gewalt-Theorie aus, die auch in der Schweiz und in Österreich verbreitet ist. Der Film geht Gerüchten nach, es gebe in der Schweiz riesige Geheimbünde, die in satanistischen und anderen Ritualen Kinder foltern, missbrauchen, ermorden, essen und gezielt ihre Persönlichkeit spalten um sie total zu kontrollieren (Mind-Control-Theorie). Er kommt zum Schluss, dass es sich um eine klassische Verschwörungstheorie handele. Als Ergebnis des Films verloren mehrere Anhänger der Rituelle Gewalt-Theorie ihre Arbeit oder müssen sich dienstrechtlichen Untersuchungen stellen. Ist eine neue Satanic Panic im Anzug?
Am Anfang der Film-Recherche steht der 1990 von einer Pfarrerin gegründete Verein CARA (Care About Ritual Abuse), der über Satansanbeter, rituellen Missbrauch und gespaltene Persönlichkeiten aufklären will. Der Vereinsvorsitzende Fritz Bamert beschreibt die Kreise, die Rituelle Gewalt (RG) ausüben, als „Parallelwelt, […] professionell organisiert und geschützt“. Mitglieder seien „Mittelschicht oder elitär, Satanisten, Freimaurer“, die „an Schlüsselstellen sitzen und kein Interesse haben, dass das offiziell bekannt wird“. Die Rituale bestünden im „Quälen bis zum Tod, Blut trinken und das Fleisch essen“. CARA warnt vor diesen Verschwörungen in Seminaren für Psychologinnen, Sozialpädagogen, Lehrerinnen, darunter viele, die mit Opfern sexuellen Missbrauchs arbeiten. Der CARA-Vorsitzende erklärt, manchmal kämen auch die Täter selbst zu seinen Seminaren. Man erkenne sie daran, dass sie hinterher kritische Artikel schrieben.
Als weitere Anhänger der RG-Theorie geben sich in dem Film ein Kinderschutzpolizist, der Politiker einer „bibeltreuen“ Partei, mehrere Lehrerinnen und Lehrer („Es gibt kein Amt in der Schweiz, das nicht unterwandert ist.“) zu erkennen. Auch die Co-Leiterin von Castagna, der Zürcher Beratungsstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs spricht von Berichten über Tier- und Menschenopfer durch Angehörige einer reichen Oberschicht. Sie habe „keinen Grund, den Berichten der Betroffenen nicht zu glauben“.
Den meisten Interviewten ist bewusst, dass jahrzehntelange polizeiliche Ermittlungen noch nie einen RG-Verschwörungsring aufgedeckt, Spuren gefunden oder auf anderem Weg die Existenz des Phänomens bestätigt haben. Einziger „Beleg“ sind von jeher die Berichte von Frauen, die (meistens in einer Psychotherapie) frühkindliche Erinnerungen an satanische Rituelle „wiedergefunden“ haben bzw. sie dort suggeriert bekamen. Wegen der fehlenden Fakten fordern die Anhänger mehr Forschung, mehr Beratungsstellen, mehr „auf die Betroffenen hören“. Sie alle wollen das Phänomen explizit aus der „Betroffenenperspektive“ wahrnehmen. Wissenschaftliche Erkenntnisse der Gedächtnisforschung werden ignoriert, die Faktenfrage tritt hinter eigener Emotion und Hilfswillen zurück. Der infolge des Films derzeit suspendierte Psychiater einer Fachklinik formuliert es so: „Mein größter Lehrer ist kein Buch und kein Kongress, mein größter Lehrer sind die Betroffenen.“ CARA erklärte im Anschluss an die Sendung „Für uns … sind die Betroffenen in erster Linie die Beweise. Wenn [die] Polizei bis jetzt keine – verwertbaren – Beweise gefunden hat, bedeutet dies, dass die Polizei bis jetzt keine verwertbaren Beweise gefunden hat. Es bedeutet nicht, dass es ORG [Organisierte Rituelle Gewalt] nicht gibt.“
Der Soziologe Marko Kovic sieht in der Entwicklung ein Wiederaufflammen der „Satanic Panic“, einer Verschwörungstheorie, die zwischen 1980 und 1995 in den USA und Kanada zum Massenphänome, zu einer veritablen Hexenjagd wurde. Wie ein Steppenbrand verbreitete sich damals der Glaube an gigantische Verschwörungen mit Blutritualen, Kindesmissbrauch, Menschenopfern, Geheimtunneln und Hundertausenden Opfern. Dabei sieht Kovic bei den Anhängern der RG-Theorie durchaus ehrenwerte Intentionen. Sie seien hochengagiert und wollten definitiv Opfern helfen. Leider aber schadeten sie ihnen eher.
Der Film ist ungewöhnlich, weil große Medien im deutschsprachigen Raum fast nie kritisch über die Rituelle-Gewalt Theorie berichten. Gegen Ende des Films konfrontieren die beiden Journalisten die Interviewten mit der Einschätzung, es handele sich um eine klassische Verschwörungstheorie. Das löst Empörung aus. Weil ihnen die kritisch-analytische Stoßrichtung der Recherche nicht klar gewesen war, hatten viele ungeschützt von „Satanismus“ gesprochen, was die Szene in der Öffentlichkeit normalerweise vermeidet. Zu ihrer Verteidigung betonten mehrere, sie hätten doch nur allgemein „Rituelle Gewalt“ gemeint, nicht Satanismus. Auf diese Position ziehen sich auch deutsche Anhänger der RG-Theorie gegenüber Kritik in der Regel zurück. Hintergrund: Die Begriffe gehen (auch im Film) durcheinander. Mal wird von „Satanismus“, mal von „Freimaurern“, mal allgemein von „Ritualen“ gesprochen. Allerdings sind die beschriebenen Inhalte immer gleich. Die Begriffe „Rituelle Gewalt“ (das häufigste), „Organisierte Rituelle Sexualisierte Gewalt“ (das neueste) und „Satanistisch-ritueller Missbrauch“ (das älteste, ab 1980) usw. sind inhaltlich seit Jahrzehnten bedeutungsgleich. Lawrence Pazder, der 2004 verstorbene kanadische Psychiater, der 1980 mit dem Buch Michelle Remembers die Satanic Panic ausgelöst hatte, könnte bruchlos in die heutige Diskussion der RG-Theorie Anhänger einsteigen.
In einer zweiten Sendung mit Zuschauerfragen betonen die Filmemacher Robin Rehmann und Ilona Stämpfli, es gehe ihnen vor allem darum, hilfsbedürftige Patienten vor bestimmten auf der RG-Theorie basierenden unseriösen Traumatherapien zu bewahren, in denen ihnen Wahnvorstellungen suggeriert werden. Ein solches Therapieopfer hat kürzlich beim Sekten-Info NRW eindrücklich über seine Erfahrungen berichtet.
Mehrere Beteiligte des Films mussten sich nach Ausstrahlung vor ihren Arbeitgebern verantworten, ein Psychiater wurde suspendiert, ein Lehrer entlassen, bei mehreren dauern die Untersuchungen an. „Wenn Lehrpersonen diese Theorie in der Schule verbreiten, wäre das – vor allem bei Kindern – sehr problematisch“, so Dagmar Rösler, Präsidentin des Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerverbands. Auch Castagna, die Anlaufstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs, kritisiert die eigene Mitarbeiterin. Deren „Aussagen geben in keiner Weise unsere Haltung wieder. Wir gehen den aktuellen Vorwürfen nach.“
Nach der Satanic Panic wurden ab 1995 in Amerika rund tausend Psychotherapeuten wegen falscher Behandlungen und der Suggestion von traumatisierenden Scheinerinnerungen zu Schadensersatz verurteilt. So weit ist es in der Schweiz noch nicht gekommen. Aber auch hier regen sich nun bei einigen offiziellen Stellen Zweifel, ob Menschen geeignet sind, mit Opfern sexuellen Missbrauchs und mit Kindern zu arbeiten, wenn sie zugleich an Q-Anon-artige, dunkle Elitenverschwörungen, Kinderopfer, Kannibalismus, Blutrituale und mysteriöse Mind-Control-Techniken glauben, die angeblich aus Menschen willenlose Marionetten machen können.
Kai Funkschmidt
Links:
SRF-Doku: Der Teufel mitten unter uns. „Satanic Panic“ in der Schweiz?, SRF 14.12.2021: https://tinyurl.com/y5xfewxk (deutsche Untertitel)
Antworten auf Zuschauerfragen zum Film: https://tinyurl.com/2p89s5bu
Gegendarstellung von CARA: https://tinyurl.com/mtkcuawe
Bericht eines Traumatherapie-Opfers beim Sekteninfo NRW: https://tinyurl.com/2xmzad9b
Berichte über dienstrechtliche Folgen des Films: https://tinyurl.com/yckzkfsk und https://tinyurl.com/2p8mrej6