Erfolgreich dank psychologischer Selbstdiagnose

Wie Social Media die Wahrnehmung von seelischer Gesundheit und Krankheit beeinflussen

Martina Wildfeuer
Eine junge Frau hält ein Handy in ihren Händen.

„Social Media … könnten … zum Überträger psychischer Symptome werden“1, warnt die Soziologin Laura Wiesböck in einem aktuellen Spiegelartikel. Dabei bezieht sie sich auf sogenannte Mental-Health-Influencer:innen, die – wie die Namensgebung verrät – von ihren (Selbst-)Diagnosen und der eigenen Biografie berichten und ihre Follower:innen mit Behandlungstipps und Symptomlisten versorgen. Grundlage dafür sind allein eigene Erfahrungen, nicht psychologische oder psychotherapeutische Kriterien. Durch vage Beschreibungen von Symptomen und das Darstellen des eigenen emotionalen Innenlebens transportieren sie, so die Kritik zahlreicher Fachexpert:innen, einen defizitorientierten Blick auf psychische Gesundheit und Verhaltensweisen. Die Folgen sind Nachahmungseffekte, Druck auf andere Betroffene sowie Selbst- und Fremddiagnosen im direkten Umfeld.

Die Ursachen für diese Darstellung psychischer Leiden liegen laut Wiesböck einerseits im Effizienz- und Produktivitätsdenken unserer Gesellschaft, andererseits in dem Trend, möglichst individuell und besonders sein zu wollen. Das Bedürfnis, die eigene Psyche zu erforschen und auf ‚Diagnosensuche‘ zu gehen, hat einen lukrativen Markt an Produkten hervorgebracht, der von entspannenden Duftkerzen über Anti-Stress-Malbücher zu Healingyoga und Coachingangeboten reicht. Besonders der Life-Coachingmarkt stillt die Bedürfnisse der Mental-Health-Bubble: Selbstoptimierung, Selbstverwirklichung, Selfcare und wortwörtlich Heilsversprechen – zusammengefasst unter #healing. Basis für die Nachfrage dieser Angebote ist die Identifikation mit den Diagnosen und Erfahrungen der Anbieter:innen – die vermeintliche „Macke“ wird zur „Marke“2.

Gefährlich können diese einfachen Anleitungen zu Glück und Gesundheit für psychisch belastete Personen sein, da Coachingangebote zwar möglicherweise eine Therapie unterstützen, sie jedoch nicht ersetzen können. Nichtsdestotrotz ziehen Online-Kurse und Coaching-Kongresse zunehmend psychisch belastete Personen an: Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass sie schnelle Lösungen und klare Antworten auf existenzielle Fragen versprechen, während Behandlungsplätze in der Psychotherapie mit langen Wartezeiten verbunden sind.3

Jenseits aller Kritik können öffentliche Bekenntnisse zu psychischen Erkrankungen und Therapien gleichwohl maßgeblich zur Entstigmatisierung dieser Themen und zur Früherkennung von Depressionen beitragen.


Martina Wildfeuer, 19.02.2025

 

Quellen:

Becker, Tobias, „Die Macke als Marke“, Der Spiegel Nr. 6, 1.02.2025, 112-114.

Utsch, Michael, Life-Coaching, ZRW 88/1 (2025), 70-78. Ggf. Link zur HP.

 

Anmerkungen

  1. Zitiert in: Tobias Becker, „Die Macke als Marke“, in: Der Spiegel Nr. 6; 1.02.2025, 112-114, 113.
  2. Vgl. den Titel des Artikels aus dem Spiegel und die dortigen Ausführungen zu Andreas Reckwitz und der „Gesellschaft der Singularitäten“, ebd. 114.
  3. Vgl. dazu ausführlicher Michael Utsch, „Life-Coaching“, ZRW 88,1 (2025), 70-78.