Seit Anfang dieses Jahres gibt es auf dem „Markt“ der Studien- oder Begabtenförderung auch einen Anbieter mit einem dezidiert säkularen, also antireligiösen, religionskritischen oder mindestens religionsdistanzierten Profil: das „Bertha von Suttner-Studienwerk“. Es wurde gemeinsam vom Humanistischen Verband Deutschland (HVD), der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), der Humanistischen Akademie Deutschland (HAD) und der Bundesarbeitsgemeinschaft humanistischer Studierender (BAG) gegründet.1 Das Studienwerk soll besonders talentierten, leistungsstarken und engagierten Studierenden mit einer „humanistischen“, das heißt einer ethischen, aber nichtreligiösen Lebenshaltung finanzielle und ideelle Unterstützung angedeihen lassen. Es ist nach der österreichischen Pazifistin und Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (1843–1914) benannt.
Ziel der Gründung ist es, die „humanistische Lücke in der Begabtenförderung [zu] schließen“2 und die Zurücksetzung säkular-humanistischer Studierender bei den staatlichen Fördermöglichkeiten zu beenden. Denn bisher gibt es neben der Studienstiftung des deutschen Volkes sowie den politischen und wirtschafts- oder gewerkschaftsnahen Studienwerken nur ein katholisches, ein evangelisches, ein jüdisches und ein muslimisches Begabtenförderwerk (Cusanuswerk, Evangelisches Studienwerk Villigst, Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk, Avicenna Studienwerk). Sie werden nicht unwesentlich durch Finanzmittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) getragen, weil der Staat sich daran beteiligen will, „hoch qualifizierte und verantwortungsbewusste Persönlichkeiten heranzubilden, die der Gesellschaft etwas zurückgeben“3.
Der Anspruch des Ministeriums, dass sich in den staatlich unterstützten Studienwerken „die verschiedenen weltanschaulichen, religiösen, politischen, wirtschafts- oder gewerkschaftsorientierten Strömungen in Deutschland abbilden“4 sollen, ist damit aus Sicht der humanistischen Organisationen bisher offenbar nicht vollständig erfüllt, weil säkulare Weltanschauungen nicht eigens repräsentiert sind. „Dass sich Humanist*innen nur an die ‚Studienstiftung des deutschen Volkes‘ wenden können, während sich katholische, evangelische, jüdische und muslimische Studierende zusätzlich noch für ein Begabtenförderwerk ihrer Präferenz entscheiden können, ist Ausdruck weltanschaulicher Diskriminierung“, heißt es in der Broschüre des Suttner-Studienwerks.5 Diese „Diskriminierung“ ist auch durch die Neugründung noch nicht behoben. Denn das neue Studienwerk wird noch nicht durch das BMBF gefördert. Es kann damit vorerst nur zehn Stipendien pro Jahr vergeben. Die staatliche Förderung wird aber nachdrücklich angestrebt. „Alles andere wäre ein fundamentaler Verstoß gegen das Verfassungsprinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates, gegen den sich die beteiligten Organisationen zur Wehr setzen müssten.“6
An den Verlautbarungen ist nicht in erster Linie der Ton der Drohung und Anklage bemerkenswert – offenkundig herrscht trotz der prinzipiellen rechtlichen Gleichstellung säkularer Weltanschauungen immer noch ein nachhaltiges Benachteiligungsgefühl gegenüber „den Religiösen“ und ihren Gemeinschaften. Interessant ist vor allem die Strategie zur Begründung der erhobenen Ansprüche. Gefordert werden kirchen- bzw. religionsgemeinschaftsanaloge Privilegien vonseiten des Staates. Bedingung einer solchen Kooperation mit dem Staat ist eine institutionelle Verfassung als Weltanschauungsgemeinschaft. Sie erfordert institutionelle Träger von signifikanter Größe mit maßgeblicher Repräsentanz für eine hinreichend bestimmte Religion bzw. Weltanschauung. Hier liegen freilich im Falle der „humanistischen“ Weltanschauung Probleme, zu denen sich die Gründer des Suttner-Studienwerks verhalten müssen.
Legt man die Mitgliedszahlen des HVD von gut 25.0007 zugrunde (davon weit mehr als die Hälfte, nämlich über 15.000, in Berlin-Brandenburg)8, kann im gesamtdeutschen Maßstab von einem „signifikanten Anteil der Bevölkerung“9 kaum die Rede sein. Es ist daher verständlich, dass die Trägerorganisationen des Suttner-Werks für ihre Ansprüche andere Zahlen geltend machen. Diesem Unterfangen ist eine eigene Broschüre gewidmet.10 In ihr soll eine „realistische Schätzung“ darüber abgegeben werden, wie viele „Humanistinnen und Humanisten“ an deutschen Hochschulen studieren, um den Bedarf an humanistischen Stipendien zu veranschlagen. Dabei beruft sich der Verfasser Tobias Wolfram, Vorsitzender der BAG, auf eine Bestimmung des Bundesverwaltungsgerichts von 2005, wonach ein „Minimum an Organisation“ genügt, um eine Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaft zu konstituieren. Dazu wiederum seien solche Gemeinschaften berechtigt, „ein ihrem Selbstverständnis entsprechendes, von der förmlichen Vereinsmitgliedschaft unabhängiges Kriterium für die Zugehörigkeit“ zu definieren.11
Redlicherweise wird bei der Anwendung dieser Bestimmung auf den „Humanismus“ nicht auf das naheliegende, aber kurzschlüssige Verfahren zurückgegriffen, ihm umstandslos die wachsende Zahl der Konfessionslosen zuzuschlagen.12 Denn offensichtlich ist diese Bevölkerungsgruppe dafür zu heterogen. Auch Esoteriker und Pantheistinnen finden sich darin, fromme Katholiken und Protestanten, die wegen konkreter Enttäuschungen ausgetreten sind, aber auch Anhängerinnen einer fernöstlichen Yoga- oder ZEN-Spiritualität. Außerdem ist unter den Konfessionslosen – wie unter den Angehörigen der Kirchen und Religionsgemeinschaften auch – mit einer großen Zahl von Zeitgenossen zu rechnen, die ihr Leben innerhalb der Bahnen bürgerlicher „Normalsittlichkeit“ mit Alltagsgeschäften, Karriereplänen, Freizeitvergnügungen sowie Familien- und Freundschaftsbeziehungen verbringen, ohne sich über grundsätzliche Weltanschauungs- und Lebensführungsfragen allzu intensive Gedanken zu machen.
Demgegenüber nimmt der „Humanismus“ durchaus ein Mindestmaß an ausdrücklicher Aneignung und Reflektiertheit im Blick auf „humanistische Werte“ für sich in Anspruch, also einen gewissen Grad an weltanschaulich-ethischer Bestimmtheit oder „Bekenntnishaftigkeit“ der Lebenshaltung. Nur eine derart explizite ethische Selbstbestimmung oder -verpflichtung kann auch eine staatliche Studienförderung begründen – es handelt sich ja um eine Förderung gesellschaftlicher Eliten. Bei den Mitgliedern des HVD ist von einer entsprechenden humanistisch-ethischen Selbstdefinition zweifellos auszugehen – der Beitritt zu diesem Weltanschauungsverband kann mit Fug und Recht als „Weltanschauungsbekenntnis“ gewertet werden. Wie ist aber die große Masse derer einzuschätzen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, die aber gleichwohl nicht dieses humanistische Alternativbekenntnis ablegen? Wer von ihnen lässt sich dennoch dem genuinen „Humanismus“ zurechnen und damit derjenigen Bevölkerungsgruppe, für die sich HVD und gbs als Interessenvertretung empfehlen?
Drei Optionen zur Schätzung der fraglichen Gruppe unter den Studierenden werden in der Broschüre „Zahlen und Daten“ erwogen. Nach Methode 1 sind diejenigen von ihnen als HumanistInnen anzusprechen, die „sich in ihrer persönlichen Lebensführung vollständig mit einem konkreten Katalog humanistischer Werte identifizieren“ und die zugleich „nicht an eine höhere Macht oder einen personifizierten Gott glauben“.13 Gestützt auf Daten der Shell-Jugendstudie von 2015 wird der Anteil solcher Studierender in einem hochgradig undurchsichtigen Verfahren auf 15,9% taxiert.14 Demnach gab es im Jahre 2015 knapp 400.000 Studierende, die (höchst unspezifischen!) Wertbegriffen wie Toleranz, Selbstbestimmung und soziale Verantwortung zustimmten – darunter auch: „das Leben in vollen Zügen genießen“ –, und die nicht explizit ein Bekenntnis zu einem theistischen oder nichttheistischen Glauben ablegen wollten – und die hier kurzerhand zu Humanistinnen und Humanisten getauft werden.
Bei Methode 2 wird eine Abfrage der „Einstellung zu Humanismus und humanistischen Organisationen“15 zugrunde gelegt. Die betreffende Erhebung ist allerdings schon deshalb wenig repräsentativ, weil sie allein „im säkularisierten Berlin“16 stattgefunden hat, wo aufgrund der relativen Stärke des HVD mit einer größeren Kenntnis und größeren Zustimmungsraten zu rechnen ist als andernorts. Auch ist die Schwelle für „Zustimmung“ sehr niedrig angesetzt: Es gilt als Humanist/Humanistin, wem gbs oder HVD bekannt ist und wer „die Arbeit der beiden Organisationen nicht ablehnt“17. Das Ergebnis: ca. 10,5 % der Studierenden. „Dies entspricht 259 476 Humanistinnen und Humanisten an Deutschen [sic] Hochschulen.18
Methode 3 schließlich bezieht sich auf die „Inanspruchnahme humanistischer Angebote mit Bekenntnischarakter“19, nämlich Jugendweihe bzw. Jugendfeier. Weil dazu „keine zuverlässigen Daten existieren“20 wird auf der Basis von zwei Studien wiederum eine Schätzung vorgenommen, wonach um die 11% der aktuell Studierenden (in Zahlen: 286.933) eine Jugendweihe oder -feier begangen haben. Das Gesamtergebnis: „Alle drei Annäherungen führen zu ähnlichen Werten in einer vergleichbaren Größenordnung. Hiervon ausgehend kann die Zahl der Humanistinnen und Humanisten an Deutschen [sic] Hochschulen konservativ auf 250 000 – 400 000 beziffert werden. Diese Gruppe […] umfasst einen eng definierten Personenkreis, dem ein positiver weltanschaulicher Charakter zugesprochen werden kann und welcher im Rahmen der Stipendienvergabe über das bestehende Maß hinaus förderwürdig ist.21
Man muss sich gar nicht auf das humanistische Prinzip der Skepsis berufen, um hinter diesen Schluss eine Reihe von Fragezeichen zu setzen. Abgesehen vom Mangel an statistischer Transparenz erlaubt es allenfalls Methode 3, von einem „eng definierten Personenkreis“ zu sprechen – die anderen Zugänge fassen den Kreis vielmehr äußerst weit. Und auch an diesen dritten Zugang ist die Frage zu richten, ob man von einem Ritual im Jugendalter mit einem im Einzelnen schwer zu gewichtenden Bekenntnischarakter auf das „Bekenntnis“ Erwachsener schließen darf. Denn unter den Konfessionslosen haben ja auch etliche eine Firmung oder Konfirmation gefeiert, um sich dann von diesem Herkunftsbekenntnis durch Kirchenaustritt zu distanzieren. Warum sollte das bei Jugendgeweihten anders sein – abgesehen davon, dass sie keinen Austritt erklären müssen?
Insgesamt wird man sagen müssen, dass der Versuch der zahlenmäßigen Unterfütterung die Ansprüche des neuen humanistischen Studienwerks eher schwächt als stärkt. Dabei sind sie ja gar nicht von Grund auf abzulehnen. Auch aus christlicher Sicht kann man es durchaus begrüßen (von der antikirchlichen und antireligiösen Polemik einmal abgesehen, die in solchen Zusammenhängen häufig erklingt), wenn sich religionsdistanzierte oder areligiöse Menschen zu sozialem Engagement und ethischer Bildung zusammentun. Auch ein humanistisches Studienwerk kann man unter diesem Gesichtspunkt gutheißen. Aber Fakt ist, dass sich nur ganz wenige für den Schritt entscheiden, ihrem areligiösen Ethos durch den Beitritt zu einer humanistischen Organisation bekenntnishaften Ausdruck zu verleihen. Trotz anderslautender Erwartungen und Wünsche stagnieren die Zahlen seit Jahren – für die Engagierten vermutlich ein steter Quell von Frustration. Dies ist für den christlichen Beobachter kein Grund für Häme – ohnehin ein recht „unchristliches“ Gefühl. Aber es hilft nichts: Mangels Mitgliederwachstum fehlt bei den „Humanisten“ wohl die institutionelle Basis für die von ihnen erhobenen Forderungen. Ein künstliches Hochrechnen der eigenen Anhänger führt hier nicht weiter. Stattdessen ist Aufrichtigkeit und Realismus am Platze.
Martin Fritz
Anmerkungen
1 Vgl. zum Folgenden https://suttner-studienwerk.de/ (Aufruf der Internetseiten am 12.3.2021).
2 https://bag-humanismus.de/.
3 https://www.bmbf.de/de/die-begabtenfoerderungswerke-884.html.
4 https://www.bmbf.de/de/die-begabtenfoerderungswerke-884.html.
5 Talente fördern – Wissenschaft und Humanität stärken. Das Humanistische Begabtenförderwerk (online: https://tinyurl.com/46y49xf2), S. 3.
6 Talente fördern, S. 15.
7 Vgl. https://humanistisch.de/hvd-bundesverband.
8 https://humanistisch.de/hvd-bb.
9 Talente fördern, S. 3.
10 Zahlen und Daten. Humanistische Studierende in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme: https://suttner-studienwerk.de/wp-content/uploads/2021/03/Zahlen-und-Daten-1.pdf.
11 Zahlen und Daten, unpag. [S. 2]. Die Quelle ist nicht nachgewiesen.
12 Diese Argumentationsstrategie ist nur noch in Anspielungen präsent; vgl. Talente fördern, S. 7. 15; aber Zahlen und Daten, unpag. [S. 5]: „Selbstverständlich können Personen, welche Religion und Glaube als in ihrem Leben unwichtig erachten, nicht automatisch für den Humanismus vereinnahmt werden.“
13 Zahlen und Daten, unpag. [S. 2].
14 Vgl. dazu Zahlen und Daten, unpag. [S. 5–8].
15 Zahlen und Daten, unpag. [S. 2].
16 Zahlen und Daten, unpag. [S. 9].
17 Zahlen und Daten, unpag. [S. 2]; Hvhg. M.F.
18 Zahlen und Daten, unpag. [S. 2].
19 Zahlen und Daten, unpag. [S. 2].
20 Zahlen und Daten, unpag. [S. 11].
21 Zahlen und Daten, unpag. [S. 2].