Dezember 2024

„In Zeiten wie diesen“ – Teil 2

Theologische Beobachtungen zum evangelikalen Erfolgspodcast von Jana Highholder und Jasmin Neubauer

Martin Fritz

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Einblicke in gelebte evangelikale Frömmigkeit

Was für eine Art von Glauben wird nun von „Jana & Jasmin“ kommuniziert?1 Das Stichwort „evangelikal“ ist ja schon gefallen; die Podcasterinnen machen sich diesen Ausdruck auch zu eigen,2 allerdings mit einem gewissen Vorbehalt. Der Vorbehalt ist verständlich, zieht man die Unschärfe des Begriffs, die innere Diversität der betreffenden Bewegung sowie die verbreiteten Ressentiments gegenüber „den Evangelikalen“ in Betracht, die oftmals pauschal als Fundamentalisten und politisch-religiöse Extremisten angesehen werden. An entsprechenden Medienbeiträgen der jüngsten Zeit arbeiten sich die beiden Podcasterinnen denn auch regelmäßig ab, meist im Tonfall der Empörung über Unkenntnis, Voreingenommenheit und Einseitigkeit – und dies durchaus zu Recht.3 Trotz solcher Belastungen ist der Terminus „evangelikal“ als Bezeichnung für eine bestimmte Erscheinungsform von (protestantischem) Christentum nach wie vor unverzichtbar. Und beim Hören des Podcasts drängt sich dieser konfessionskundliche Klassifikationsbegriff unmittelbar auf. Denn die zentralen Züge evangelikalen Christentums lassen sich an „Jana & Jasmin“ geradezu idealtypisch exemplifizieren.4

Christozentrismus

Evangelikale Frömmigkeit ist Jesus- und Christusfrömmigkeit. Dementsprechend bekunden auch Jana und Jasmin als Zentrum ihres Glaubens einen intensiven Bezug zu Jesus Christus, der drei hervorstechende Kennzeichen hat: Er hat erstens die Qualität einer persönlichenBeziehung zu Jesus, die Züge einer engen Freundschaft oder gar Partnerschaft5 trägt und die das Leben durch und durch prägt. Immer wieder wird herausgestellt, es komme beim Christsein alles darauf an, Jesus persönlich zu kennen und zu lieben.6 Zu dieser „lebendigen Beziehung“ (7, 33:34) gehört es, sich „in allen Lebenslagen“ (8, 44:13) und über alle Lebensfragen mit Jesus zu verständigen, bis hin zu „den kleinsten Details. Ich muss einfach nur Jesus fragen – es kommt eine Antwort, immer. Jesus ist richtig treu“ (8, 44:31).7 Diese intensive Kommunikation findet wohl vorwiegend im Gebet und bei der Bibellektüre statt, wo sich über die Antworten und Weisungen Jesu in inneren „Eindrücken“8 Klarheit gewinnen lässt.9

Der Grundakt der Jesusbeziehung aber ist es – das ist das zweite Kennzeichen –, den stellvertretenden Sühnetod Christi persönlich anzunehmen: Weil Jesus am Kreuz für meine Sünden gestorben ist, bevor er vom Tode auferstand, werde ich nach meinem Tod im göttlichen Gericht Gnade finden und in das himmlische Reich eingehen (vorausgesetzt, ich bleibe nicht in der Sünde und halte an der engen Glaubensbeziehung fest). Alle Menschen ohne persönlichen Glauben an Kreuz und Auferstehung werden hingegen von Gott verworfen werden: „Wir predigen das Evangelium von Jesus Christus. Wir sagen, du bist Sünder, du brauchst Rettung, Jesus ist deine Hoffnung, Jesus lebt. Wenn du nicht an Jesus glaubst, dann kommt die Verdammnis“ (10, 25:19). Damit ist bereits das dritte Charakteristikum des evangelikalen Christusglaubens berührt: der Exklusivismus seiner Heilsverheißung. Wir glauben, sagt Jana mit einem Anklang an Joh 14,6, „dass Jesus Christus der einzige Weg ist“ zur Errettung aus Sünde und Tod zum ewigen Heil.

Biblizismus

Evangelikale Frömmigkeit ist Bibelfrömmigkeit. Daher versteht es sich von selbst, dass der exklusive Christusglaube – gut protestantisch –, auf der Bibel gründet und aus der Bibel schöpft. Charakteristisch evangelikal ist am Schriftbezug von Jana und Jasmin erstens die indisputable Voraussetzung der Autorität der gesamten Bibel als Wort Gottes. Damit folgen die bibelfrommen Frauen der Radikalisierung des reformatorischen Schriftprinzips durch die altprotestantische Orthodoxie des 17. Jahrhunderts. Dort wollte man sich nicht mehr damit begnügen, das Wort Gottes in der Heiligen Schrift zu vernehmen, sondern setzte stattdessen die Bibel in Gänze mit dem Wort Gottes gleich.10 Diese Identifikation spiegelt sich in einer Bemerkung Jasmins zu einer Fotografie auf ihrer Website, die eine Bibel auf ihrem Schreibtisch zeigt – unumwunden spricht sie von der „Präsenz des Wortes Gottes auf meinem Schreibtisch“ (10, 29:43).

Die vorausgesetzte Bibelautorität beinhaltet nun aber zweitens den Anspruch auf Relevanz für alle wesentlichen Lebensfragen der Gegenwart – die Bibel kann und muss als autoritatives, im Wesentlichen klares Anleitungsbuch für die Lebensführung gelesen werden. Damit ist in der Bibelauslegung jede historisch-kritische Problematisierung des geschichtlichen Abstandes zwischen der Bibel und der Gegenwart sowie überhaupt jede „Anpassung“ (vgl. 2, 26:43) der biblischen Wahrheit(en) an das gegenwärtige Wahrheitsbewusstsein kategorisch ausgeschlossen: „Wir glauben, dass die Bibel zeitlos ist und dass sie allgemein gültig ist für uns und unser Leben und uns Richtungsweisung gibt“ (10, 28:10). Aus der umfassenden Autoritäts- und unmittelbaren Relevanzzuschreibung folgt aber drittens der hohe Rang regelmäßiger Bibellektüre für die fromme Durchdringung des Lebens. Das persönliche Studium des Wortes Gottes gilt als Schlüssel zu göttlicher Lebensweisung, zu einer lebendigen Jesusbeziehung und zu „tiefer Gotteserkenntnis“ (2, 44:21). Darum lautet Jasmins bündige Aufforderung an alle Christen: „Hey Leute, spitzt eure Ohren und lest die Bibel!“ (7, 1:01:12).

Konversionismus

Evangelikale Frömmigkeit ist Bekehrungsfrömmigkeit. Allgemeiner formuliert: Sie ist Umwandlungsfrömmigkeit. Dementsprechend wird die rettende und heilschaffende Christusbeziehung, die sich durch die Bibel erschließt, auch von Jana und Jasmin als große Lebenswende begriffen, als radikale Durchbrechung des zuvor Selbstverständlichen, die ein Vorher und Nachher begründet, ein altes und ein neues Leben. Diese Konversion (im allgemeinen Sinne von Umwendung, Umwandlung) manifestiert sich auf dreierlei Weise. Sie wird ausdrücklich an einem bestimmten biografischen Punkt verortet, an dem man sich infolge einer einschneidenden Gotteserfahrung zum Glauben „bekehrt“ oder „wiedergeboren“ wird. Lebensentscheidend ist die Frage: „Hast du eine Begegnung mit Jesus gehabt? […] Du musst von Neuem geboren werden. Das ist der Moment deiner Wiedergeburt. Und wenn du Jesus Christus in einer Wiedergeburt erfahren hast, dann hast du den heiligen Geist“ (11, 14:22).11 Die Konversion im weiten Sinne verdichtet sich also erstens anfänglich in einer Bekehrung oder Konversion im zeitlich-punktuellen Sinne (vgl. engl. conversion, das die generelle und die punktuelle Bedeutung trägt).

Die Bekehrung oder Wiedergeburt beläuft sich aber nicht auf ein bloßes Widerfahrnis. Vielmehr erfordert die radikal neue Erfahrung zweitens eine entsprechende Umwendung seitens der Bekehrten, und zwar in Gestalt einer grundsätzlichen Entscheidung für Jesus und den Glauben. Eine solche Entscheidung muss dem Bekehrungserlebnis vorausgehen und sie muss im nachfolgenden Glaubensleben stets festgehalten oder immer wieder erneuert werden. Evangelikales Christentum ist entschiedenes Christentum, es hat einen markanten dezisionistischen Einschlag. Dies drückt sich bei Jana und Jasmin in geläufigen Wendungen aus, so wenn es von dem frisch bekehrten Leonard Jäger alias „Ketzer der Neuzeit“ (von Jasmin liebevoll „Ketzi“ genannt)12 heißt: Er hat „Jesus […] sein Leben gegeben“ (3, 10:56); er „bekennt jetzt Christus“ (3, 11:58). Treten im späteren Leben Anfechtungssituationen auf, kommt es laut Jana darauf an zu „wählen“, „trotzdem zu glauben“ (2, 30:00) und „im Glauben sozusagen durchzuhalten“ (2, 40:39). Das „Geheimnis“ (2, 40:29) eines solch „trotzigen Glaubens“ (2, 44:01) ist offenkundig ein starker Wille, die einmal getroffene Entscheidung gegen alle Einreden des Zweifels aufrechtzuerhalten. Janas und Jasmins „entschiedenes Christentum“ ist maßgeblich Willenschristentum.

Der fragliche Wille zur eingreifenden Glaubenswende betrifft indessen sämtliche Bereiche des Lebens, die durch die Jesusbeziehung und anhand des Wortes Gottes umzuformen sind. Demgemäß legen Jana und Jasmin drittens besonderes Augenmerk auf die umfassende Heiligung des Lebens. Heiligung aber bedeutet Reinigung von aller Sündhaftigkeit und Gehorsam gegenüber dem biblisch offenbarten Willen Gottes. Jasmin: „Gott vergibt, Gott macht rein, Gott hat mich reingewaschen. Von daher lebe ich das Prinzip jetzt, nachdem ich mich bekehrt habe […]. Ich will das leben und will Gott gehorsam sein […]. Das ist das Schöne bei Jesus, er macht einfach einen neuen Menschen aus dir“ (8, 53:02). Dabei bedeutet „Reinheit“ für die beiden Frauen namentlich sexuelle Reinheit – ein schlechthin zentrales Thema des Podcasts –, und das heißt im Wesentlichen die Befolgung der beiden Grundsätze: „kein Sex vor der Ehe, Homosexualität ist Sünde“ (2, 33:52).13 Als von Gott erneuerter Mensch hat man sich für die „Gesetze und Prinzipien Gottes“ (1, 28:24) zu entscheiden und konsequent nach ihnen zu leben, in einer Selbsthingabe, die bis zur Selbstaufgabe reicht.14

Wer aber solchermaßen verwandelt ist zu einem durch Gott geheiligten Leben, wird dies auch nach außen tragen und danach trachten, andere Menschen ebenfalls einer solchen Verwandlung näher zu bringen. Darum gehört zum Konversionismus viertens ein gesteigerter Evangelisierungsaktivismus. Jana und Jasmin bestätigen das mit ihrem gesamten Social-Media-Engagement, das von der Überzeugung getragen ist: „Wir haben voll den Auftrag und Gott nutzt uns unglaublich doll, auf dieser Welt Menschen zu Jüngern zu machen, [sie] wirklich in die radikale Nachfolge zu ziehen“ (3, 42:46).

Dualismus

Evangelikale Frömmigkeit ist Oppositionsfrömmigkeit. Wer mit Jesus im Herzen und dem Wort Gottes in der Hand ein radikal gewandeltes Leben zu führen sucht, begibt sich damit in der westlichen Welt von heute in eine geistige und gesellschaftliche Außenseiterposition. Denn die durch Aufklärungsideale wie individuelle Freiheit und freien Vernunftgebrauch sowie durch die modernen Geschichts- und Naturwissenschaften geprägte Welt- und Lebensauffassung europäischer Bildung verträgt sich schlecht mit dem Gedanken, der Wille Gottes sei unmittelbar einem antiken Buch zu entnehmen und die darin enthaltenen „Gesetze und Prinzipien“ (1, 28:24) verdienten entschiedenen Gehorsam. Wer dennoch einem solchen Christentum anhängt, gerät zwingend in eine kognitive Dissonanz mit seiner kulturellen Umwelt, die sich seinem oder ihrem Glauben als strukturelles „Dagegensein“15 mitteilt. Indem er oder sie im Namen von Jesusnähe, Bibeltreue und Gottesgehorsam jeder Vermittlung mit den Prinzipien des modernen Geistes abschwört, tut sich in ihm oder ihr gewissermaßen ein „geistiger Spalt“ auf zwischen der gottfernen „weltlichen“ Sphäre „draußen“ und der Innensphäre der Glaubensvollzüge und -prinzipien (sowie derer, die sie teilen).

Der Dualismus zwischen den wahrhaften Christen und der sie umgebenden „Welt“ (im johanneischen Sinne der Sphäre der Gottlosigkeit) ist ein Dauerthema im Podcast, und zwar in vierfacher Weise. Jana und Jasmin markieren durchgängig ihre Grundopposition gegen den modernen „Zeitgeist“16 und insbesondere gegen jedes „progressive“17 oder „liberale“18 Christentum, das sich bewusst mit diesem bibelfernen Geist ins Benehmen zu setzen versucht. Das dualistische Gepräge ihrer Frömmigkeit zeigt sich also erstens in einem essenziellen Antimodernismus.19 So wird es beispielsweise als „eine der größten Lügen unserer Zeit“ eingestuft, „dass uns erzählt wird, das höchste Gut ist Freiheit“ (1, 28:33). Den landeskirchlich-liberalen Mainstreamtheologinnen und -theologen wird vorgeworfen: „Ihr habt euren Glauben, ihr habt die Wahrheit angepasst der Realität, der Zeit, in der wir leben, den Bedürfnissen, die wir empfinden, der Gesellschaft, die wir vor uns sehen“ (2, 53:40). Dieser Zeitgeistkonformität wird Gefallsucht20 und „Lauheit“21 attestiert; sie wird als Ausdruck menschlicher Selbstüberhebung und mangelnder „Ehrfurcht vor Gott“ (3, 40:14) interpretiert. Denn gegenüber bibelkritischen Einreden des Verstandes müsse schlicht der ehrfürchtige Wille zur Selbstverleugnung mobilisiert werden.22 Die Frage ist: „Lasse ich Gott Gott sein? […] Oder sind meine Maßstäbe höher als Gottes Maßstäbe?“ (2, 32:06). Die folgerechte Antwort lautet: „Ich würde einfach sagen: Hey, es steht in der Bibel“ (2, 37:29).

Die fromme Opposition gegen den Zeitgeist äußert sich zweitens in einer Neigung zur generellen Dekadenzdiagnose: Jana und Jasmin sind sich einig, dass sich gegenwärtig alle möglichen althergebrachten Werte und Ordnungen verschieben, insbesondere bei Gender- und Sexualitätsthemen, um einem „neuen Normal“ (1, 36:45) zu weichen. Diese und ähnliche Urteile münden in das Generalurteil, die Welt sei heute eben „verrückt“ (1, 37:34) geworden. Der strukturelle Dualismus begünstigt dabei einen Hang zu selektiven, einseitigen, pauschalisierenden und übertreibenden Wahrnehmungen, welche die Schwarz-Weiß-Polarisierung des Weltbildes bestätigen. So gipfelt, um nur ein Beispiel zu nennen, die Problematisierung aktueller Genderdebatten in Janas hoch besorgter Frage: „Wie kann ich in dieser Welt und ‚in Zeiten wie diesen‘ und in den noch kommenden, wie kann ich meine Kinder großziehen und ihnen sagen, so: Hey, Max, du bist ein Junge. Und: Hey, Clara, du bist ein Mädchen. Und wie kann ich die in den Kindergarten schicken?“ (1, 40:17).23

Den beiden Frauen zufolge kann die allgemeine Tendenz zum Verlust der gottgegebenen Ordnungen und Werte auch nicht verwundern, treibt in der Welt doch augenscheinlich der Teufel sein gottfeindliches Unwesen. Jene traditionellen Lebensordnungen – „also, das alles hasst der Teufel“ (10, 32:56). In direktem Anschluss an biblische Vorstellungen wird die dualistische Polarität zwischen geheiligtem Innen und gottlosem Außen zum „geistlichen Kampf“24 zwischen Jesus und Satan stilisiert, an dem man sich mit der „Waffe des Gebets“ (6, 16:00) auch selbst zu beteiligen hat. Dieser Kampf tobt auch und gerade innerhalb des Christentums, im Streit um das wahrhaft Evangelische: „Satan will das Evangelium unterbinden durch alles Mögliche“ (6, 13:58). Daher untergräbt er es durch die Stimmen kirchlich-liberaler Theologinnen und Theologen: „Der Teufel nutzt halt auch genau diese Leute“ (3, 42:24). Der Dualismus in Janas und Jasmins Glauben artikuliert sich demnach drittens in seiner satanologischen Dramatisierung. Selbige reicht bis in alltägliche Lebenskonflikte hinein: „Also die Dinge, die mir am meisten wert sind“, sagt Jasmin, „da haut der Teufel richtig drauf. […] Das ist so, der Teufel, also Satan, versucht uns täglich runterzudrücken“ (3, 2:44). „Da kann ich echt immer nur sagen: Jesus wird für mich kämpfen“ (3, 3:16).

Die notwendige Isolation der Frommen gegenüber dem Geist der „Welt“ wird schließlich auch in Aufnahme der biblischen Topoi apokalyptischer Prüfung, Spaltung und Verfolgung gedeutet und mithin als Zeichen der erwarteten Endzeit verstanden. „Ich glaube, das ist gut und richtig, dass es erst eine dicke, dicke, dicke Spaltung gibt“, meint Jana. „In den nächsten Jahren wird sich genau zeigen, wer positioniert sich wo. Und es fängt jetzt in unseren Reihen an. Gott säubert, Gott zieht, leider Gottes, wirklich Leute raus, wo man merkt, die verlassen den Glauben, die fallen vom Glauben ab, die dekonstruieren und so weiter. Und da wird eine kleine Menge übrigbleiben. Das werden nicht viele sein. Und wir werden die Minderheit sein“ (1, 46:58). Auch die endzeitliche Christenverfolgung hat schon gegenwärtig begonnen, nicht zuletzt in der medialen Kritik an ihnen selbst: Das ist „eine Erfüllung des Wortes Gottes, das sagt: Wundert euch nicht, wenn die Welt euch hasst; sie haben mich zuerst gehasst“ (10, 53:48). Der Dualismus biblizistischen Christentums neigt viertens zur apokalyptischen Dramatisierung der Gegenwart und der eigenen Situation in ihr.

Innerevangelikale Diversität und antievangelikale Kritik

Die ausführliche Zusammenschau macht deutlich, dass sich im Podcast „Jana & Jasmin“ vieles hören lässt, was „typisch“ ist für die evangelikale Bewegung. Das verleiht dem Tondokument seinen exemplarischen Wert. Die beiden Frauen repräsentieren eine Gestalt protestantischen Christentums, die zentrale „gemeinprotestantische“ Motive (Christusbezug, Schriftprinzip, Lebenswandlung, Weltdistanz) in einer spezifischen, besonders ernsthaften, konsequenten und intensiven Form realisiert. Sie erlauben mithin Einblicke in eine – weltweit hoch bedeutsame – „Intensivgestalt“ des modernen Protestantismus. Wer ein wenig für protestantische Frömmigkeit übrighat, wird den beiden ob ihres religiösen Ernstes sowie ihres Konsequenz- und Intensitätsstrebens einen gewissen Respekt nicht versagen können. Was das „typisch Evangelikale“ angeht, ist aber sogleich einschränkend hinzuzufügen: Nicht jede Äußerung, die im Podcast fällt, darf für typisch genommen werden. Denn nichts, was individuell ist, repräsentiert das Allgemeine, an dem es Anteil hat, bruch- und lückenlos.

Repräsentativität kann erst recht nur eingeschränkt erreicht werden, wo der Typus, wie im Falle des Großbegriffs „Evangelikalismus“, noch einmal viele Unterarten unter sich fasst. Folglich verkörpern Jana und Jasmin nicht etwa den deutschen Gegenwartsevangelikalismus schlechthin. Dafür ist die evangelikale Bewegung auch in Deutschland zu vielgestaltig. Mögen die aufgeführten Grundmerkmale der Tendenz nach von vielen Gemeinden, Gruppierungen und Individuen in Kirchen und Freikirchen geteilt werden, gibt es doch große Unterschiede beispielsweise in der Radikalität und Konsequenz der Durchführung.25 Eine andere wichtige innerevangelikale Differenzierung betrifft den Stellenwert des Heiligen Geistes und seines gegenwärtigen Wirkens in der Gemeinde und im Leben der Gläubigen. Einige Bemerkungen im Podcast zeigen Offenheit gegenüber dem neocharismatischen Flügel des Evangelikalismus, Janas und Jasmins Frömmigkeit scheint aber nicht dominant pfingstchristlich geprägt zu sein.26

Religiöse und weltanschauliche Haltungen verdienen grundsätzlich Respekt (sofern sie nicht die Menschenwürde anderer beeinträchtigen). Dies gilt auch dann, wenn sie in manchem fremd erscheinen und selbst wenn sie gewisse allgemein anerkannte Werte infrage stellen wie im Falle der Ablehnung von Homosexualität und außerehelichem Sex, die in weiten Teilen des Islam, des Katholizismus und eben des Evangelikalismus geteilt wird. In solchen grundlegenden Wertdifferenzen ist Toleranz gefragt, das Ertragen des nur schwer Erträglichen.

Aber Respekt und Toleranz schließen Kritik nicht aus, sondern ein. Daher ist es erlaubt und geboten, auch an evangelikalen Positionen Kritik zu üben, zumal dann, wenn sie sich offensiv in der Öffentlichkeit präsentieren. Solche Kritik hat sich um sachliche Angemessenheit und eine adäquate Tonlage zu bemühen, möglichst auch dann, wenn man solches von den Kritisierten selbst nicht in gleichem Maße erwarten kann. – Vier ausgewählte Problemfelder der Theologie von Jana und Jasmin sollen in Teil 3 und 4 dieses Artikels kritisch beleuchtet werden.


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Martin Fritz, 05.12.2024

 

Anmerkungen

  1. Bis Ende November 2024 wurden folgende Podcast-Folgen veröffentlicht: (1) „Erste Folge, In Zeiten wie diesen …“ (27.3.2024) – (2) „Was TrashTV mit Dekonstruktion zu tun hat …“ (3.4.2024) – (3) „Was Sexarbeit und Christentum miteinander zu tun haben – Wie woke darf christlich sein?“ (18.4.2024) – (4) „Warum wir lieber Atheisten wären als ‚liberal gläubig‘“ (1.5.2024) – (5) „Let’s talk about ‚Männer‘ …“ (26.5.2024) – (6) „Tübinger Hochschultage, UNUM und Herzschmerz“ (17.6.2024) – (7) „UNUM, Einheit und Katholizismus“ (25.6.2024) – (8) „Let’s talk about Dating, Olympia & Co.“ (20.8.2024) – (9) „Perfekte Dates und wie dein verletztes Herz heilen kann“ (25.9.2024) – (10) „Pro7, das Sonntagsblatt und die Demokratie“ (26.10.2024). Hinzu kommt die Aufzeichnung eines Livetalks beim „Fire Festival“ in Stuttgart (veranstaltet von der neocharismatischen Initiative „Europe Shall Be Saved“ und der neocharismatischen Gemeinde „Gospelforum“) am 3.10.2024, die am 23.11.2024 hochgeladen wurde: (11) „#1 Livepodcast – Warum Jana lieber Hausfrau wär [sic] und Jasmin nicht gendert“. Zitatnachweise erfolgen in diesem Artikel durch Nennung der Folgennummer plus Zeitangabe.
  2. Vgl. z.B. 3, 41:22, wo das eigene Frömmigkeitsmilieu als „evangelikale Bubble“ bezeichnet wird.
  3. Zum Beispiel ist die Ende Oktober 2024 ausgestrahlte Pro7-Dokumentation „Zurück zum Glauben. Radikale Christen und ihr Griff nach der Macht?“, in der es einige Szenen mit Jasmin gibt, tatsächlich sehr einseitig auf das Thema der politischen Machtambitionen des (neocharismatischen) Evangelikalismus zugeschnitten und schlägt dabei sehr Unterschiedliches über diesen einen Leisten. Vor allem schließt sie dabei die Verhältnisse in den USA viel zu direkt und pauschal mit deutschen Phänomenen kurz. Vgl. dazu die Besprechung in Folge 10 von „Jana & Jasmin“, ab 08:41.
  4. Im Folgenden wird die geläufige Evangelikalismusbestimmung des Religionshistorikers David W. Bebbington variiert, das „Bebbington-Quadrat“ aus biblicism, crucicentrism, conversionism und activism. Siehe dazu die Kurzzusammenfassung bei Oliver Dürr, „Wer hat Angst vor Evangelikalen? Post-Evangelikalismus und die Zukunftsformen des christlichen Glaubens“, Theologische Literaturzeitung 149,11 (2024), 987–1002, 994; ferner Michael Hochgeschwender, „Evangelikalismus. Begriffsbestimmung und phänomenale Abgrenzung“, in: Frederik Elwert, Martin Radermacher und Jens Schlamelcher (Hg.), Handbuch Evangelikalismus (Bielefeld: transcript, 2017), 21–32. Siehe ansonsten die einführenden Einträge (mit weiterer Literatur) in Michael Utsch (Hg.), ABC der Weltanschauungen, 2. Aufl. (Baden-Baden: Nomos, 2024), https://tinyurl.com/2nme67dm, vor allem Reinhard Hempelmann, „Evangelikale Bewegung“ (69–77); Martin Fritz, „Fundamentalismus, christlicher“ (89–98); außerdem die umfassende Darstellung von Thorsten Dietz, Menschen mit Mission. Eine Landkarte der evangelikalen Welt (Holzgerlingen: SCM, 2022). Letzter Aufruf aller in diesem Beitrag genannten Internetseiten am 25.11.2024.
  5. Vgl. z.B. 8, 1:03:45 (Jana): „Jesus, du bist so wunderschön. Du bist der Schönste von allen. Du bist der beste Liebhaber. Das ist meine erste Liebe. Und ich will ein Gegenüber, das dich widerspiegelt.“
  6. Vgl. z.B. 1, 45:44; 2, 35:48; 6, 01:56; 3, 44:50; 7, 1:14:00.
  7. In der zitierten Schilderung wechselt die Benennung des Gegenübers dieser Beziehung im Sinne der trinitarischen Durchdringung der drei göttlichen Personen zwischen Gott, Jesus und Heiligem Geist.
  8. Vgl. 5, 24:46; 8, 1:04:56.
  9. Aber manchmal lassen die Antworten der göttlichen Trinität auch auf sich warten, bei Jasmin vornehmlich in der „Frage der Partnerwahl“ (8, 44:43): „Ich kann eines sagen, wirklich, Jesus hat bisher in meinem ganzen Leben nicht so unklar gesprochen wie im Thema Beziehungen“ (8, 45:30).
  10. Martin Luther hätte eine solche Gleichsetzung für völlig abwegig gehalten. Siehe dazu Martin Fritz, „Das Schriftprinzip (historisch)“, MdEZW 83,6 (2020), 463–471, https://tinyurl.com/ywjtkz3s.
  11. Vgl. 2, 33:44.
  12. 3, 09:27. Vgl. zu der Verbindung Louis Berger, „Insta, Youtube, Gott. Christliche Influencer*innen gewinnen in Deutschland die Aufmerksamkeit von Zigtausenden. Einige von ihnen predigen besonders konservativ“, taz.de, 19.4.2024, https://tinyurl.com/msr4mbt9; Claudia Jetter, „Das Phänomen Christfluencing. Zwischen Glaubensvermittlung und Lifestyle“, ZRW 86,3 (2023), 159–170, https://tinyurl.com/36su6883; Jason Liesendahl, „Rechtsextremes Gedankengut bei ‚Liebe zur Bibel‘?“, 13.11.2024, https://tinyurl.com/he6t9dvs; Imke Plesch, „Wie christliche Influencer*innen unter dem Deckmantel der Religion rechte Inhalte verbreiten“, Sonntagsblatt, 23.10.2024, https://tinyurl.com/ykz7u7rh.
  13. Vgl. dazu Claudia Jetter, „Purity Culture“, ZRW 86,4 (2023), 301–309, https://tinyurl.com/mr3ezxt9.
  14. Vgl. z.B. 1, 28:20.
  15. Ich entnehme diesen Ausdruck der Auseinandersetzung Janas und Jasmins mit ex-evangelikalen Sinnfluencer:innen in Folge 2 (45:59).
  16. 2, 31:58; 3, 44:28; 10, 29:13.
  17. 2, 18:45 und 36:16; 3, 05:18 („progressiv-liberal“) u.ö.
  18. 6, 08:16 u.ö.
  19. Diese Charakterisierung trifft unbeschadet der unzweifelhaften Modernität nicht nur der Lebenskonzepte der meisten evangelikal Frommen, sondern gerade auch der Verbreitungsmittel evangelikaler Frömmigkeit zu. Charakteristisch für den Evangelikalismus ist gerade die komplexe Verschränkung von Modernität und Antimodernismus.
  20. Vgl. z.B. 2, 34:41.
  21. Vgl. 4, 11:28: „lieber nichtgläubig als liberal oder lauwarm“; 4, 16:05 (mit Bezug auf Offb 3,16): „Gott sagt ja auch noch, darum so: ‚Sei lieber kalt oder heiß, aber alles, was lauwarm ist, werde ich ausspeien.‘ […] Dann bin ich lieber ganz oder gar nicht, aber ich bin nicht so lauwarm, weil das ist das Schlimmste, was es gibt.“
  22. Vgl. z.B. 2, 35:42.
  23. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich der Podcast an mehreren Stellen auch gegen allzu einseitige Urteile verwahrt. In einer Passage zum übermäßigen Einfluss der „links-grünen“ Medien z.B. hält Jasmin fest (1, 11:40): „Ich bin jetzt aber auch niemand, der sagt, alles, was in den Medien gesagt wird, ist Lüge und schlecht und Propaganda, da bin ich auch weit entfernt von.“
  24. 6, 13:45; 10, 33:07.
  25. Ein Versuch, diese Bandbreite begrifflich zu fassen, ist die analog zur politischen Richtungspolarität gebildete Unterscheidung von „Links“- und „Rechtsevangelikalismus“. Als „linksevangelikal“ wird z.B. die US-amerikanische Bewegung der „Red Letter Christians“ bezeichnet, die den (in manchen Bibelausgaben rot gedruckten) Worten Jesu innerhalb der Bibel eine besondere Autorität zusprechen. Das Attribut „rechtsevangelikal“ meint hingegen solche entschieden „konservative“ Evangelikale, die demgegenüber an der gleichrangigen göttlichen Autorität aller Bibelworte festhalten. Von ihnen können dann noch einmal, gleichsam noch weiter „rechts“, im eigentlichen Sinne „fundamentalistische“ Evangelikale abgehoben werden, die diesen Biblizismus auf die Spitze der Kompromisslosigkeit treiben, indem sie eine Irrtumslosigkeit der Bibel auch in allen Sachfragen behaupten und daher z.B. von einer Schöpfung der Welt in buchstäblich sechs Tagen ausgehen (Kreationismus). Diese zunächst schrifttheologisch gemeinte „Biblizismus-Skala“ ist wiederum mit politischen Aspekten assoziiert. Denn etwa die Red Letter Christians hatten auch ein ethisch-politisches Motiv, das gemeinhin als „links“ eingestuft wird, nämlich die Forderung eines stärkeren sozialen Engagements der evangelikalen Bewegung. Diese Forderung wandte (und wendet) sich gegen die einseitige politische Positionierung (weißer) Evangelikaler für die „rechte“ Politik der US-Republikaner. Generell scheint, wie das Beispiel der USA zeigt, der kompromisslose Antiliberalismus von „Rechtsevangelikalen“ eine gewisse Neigung zu „rechten“ politischen Optionen zu begründen. Vgl. dazu Martin Fritz, „Im Bann der Dekadenz. Theologische Grundmotive der christlichen Rechten in Deutschland“, in: Johann Hinrich Claussen, Martin Fritz, Andreas Kubik, Rochus Leonhardt, Arnulf von Scheliha, Christentum von rechts. Theologische Erkundungen und Kritik (Tübingen: Mohr Siebeck 2021), 9–63, https://tinyurl.com/2h9tapan; ders. „Rechtes Christentum“, ZRW 87,1 (2024), 65–74, https://tinyurl.com/2s3nhp22. Aber nicht alle „Rechtsevangelikalen“ sind automatisch auch politisch „rechts“ oder „rechtspopulistisch“ oder gar „rechtsextrem“. Um solche Missverständnisse in der polarisierten und „schubladisierten“ Debatte zu vermeiden, sollte man auch den Begriff „Rechtsevangelikalismus“ außerhalb der Fachliteratur nicht ohne Erklärung gebrauchen. Darum ist es unglücklich, dass der Autor dieses Beitrags in dem Artikel von Plesch („Influencer*innen“) mit der dort nicht weiter erläuterten Aussage zitiert wird, Jana und Jasmin könnten als „rechtsevangelikale Christfluencerinnen“ bezeichnet werden (vgl. die Auseinandersetzung mit dem Artikel in Folge 10, 24:14). Die Primärintention dieser Aussage war es, den Biblizismus der beiden auf der fraglichen Skala zu verorten und ihn damit vom genuinen Bibelfundamentalismus abzuheben. Was den Podcast betrifft, ist diese Einschätzung mit einem gewissen Vorbehalt zu belegen. Dort sind zwar bisher keine signifikant fundamentalistischen (z.B. kreationistischen) Aussagen gefallen; aber immerhin postuliert Jasmin an einer Stelle die „Irrtumslosigkeit“ (11, 13:17) der Schrift, allerdings ohne nähere Explikation. Dass es bei „Jana & Jasmin“ auch Passagen gibt, die durchaus eine Nähe zu rechtspopulistischen Intentionen vermuten lassen, steht wieder auf einem anderen Blatt. Siehe dazu unten.
  26. Vgl. vor allem 7, 16:47–17:46 und 55:15–56:32; 11, 45:40–51:50. Die Nähe scheint bei Jasmin größer zu sein als bei Jana.

Ansprechpartner

Foto Dr. Martin FritzPD Dr. theol. Martin Fritz
Wissenschaftlicher Referent
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