In kaum einer Frage verdichten sich die Herausforderungen einer multireligiösen (Einwanderungs-)Gesellschaft so sehr wie in der nach dem Verhältnis von Staat und Religion. Die religionspolitische (Gretchen-)Frage, wie neutral der Staat sein müsse, um Religions- und Weltanschauungsfreiheit für alle (Religiöse wie Nichtreligiöse) garantieren zu können, ist zugleich eng mit der Frage verknüpft, welchen öffentlichen Raum derselbe Staat der Religion zu gewähren bereit ist: Wieviel Religion verträgt der staatlich geschützte öffentliche Raum?
In Kooperation mit der Europäischen Akademie Berlin (EAB) und finanziell unterstützt durch die Dr. Buhmann Stiftung für interreligiöse Verständigung richtete die Evangelische Akademie zu Berlin Mitte November ein dreitägiges Praxisseminar aus, das sich der „Religion in der Einwanderungsgesellschaft“ widmete und sich zum Ziel setzte, aus unterschiedlichen Perspektiven Licht auf die kontroverse religionspolitische Debatte zu den damit verbundenen Fragen zu werfen. Workshops und Vorträge nahmen die unterschiedlichen Formen der Ausgestaltung des Verhältnisses von Religion und Staat in Frankreich und Deutschland in den Blick und schufen so ein Bewusstsein für die komplexe religionspolitische Gemengelage, mit der sich PolitikerInnen hierzulande konfrontiert sehen.
Einen lebendigen Einblick in die unterschiedlichen Interessenlagen bot eine öffentliche Podiumsdiskussion, die das Praxisseminar in Kooperation mit dem interreligiösen Bündnis „Grenzgänge“ in der Berliner Apostel-Paulus-Kirche veranstaltete und die aufgrund kurzfristiger Absagen zweier Teilnehmerinnen (Bettina Jarasch, Bündnis 90/Die Grünen; Cemile Giousouff, ehem. MdB CDU) in reduzierter Besetzung stattfinden musste. Nicht reduziert war damit das mit dem Thema Staat und religiöse Neutralität verbundene Konfliktpotential. Dieses gewann sogar nochmals an Schärfe dadurch, dass sich mit Christine Buchholz, der religionspolitischen Sprecherin der Fraktion „Die Linke“ und Martin Hikel, dem Bezirksbürgermeister von Neukölln (SPD), zwei Vertreter der Politik das Podium teilten, die aus ihren Positionen zur Frage nach der Religion in der Politik und der Neutralität des Staates keinen Hehl machten.
Fahrt nahm das engagierte Streitgespräch vor allem in dem Moment auf, als Hikel auf die für Neukölln eingeworbene und befristete „Anlauf- und Registerstelle konfrontative Religionsbekundungen“ zu sprechen kam, die sich zur Eindämmung mutmaßlich religiös bedingter Konflikte an Schulen mit Fällen beschäftigen soll, in denen spezifische Dominanzverhältnisse gewollt oder ungewollt zur Einschränkung religiöser Praxen führen. Weil dabei – wie schon der Antrag für diese Stelle zeigt – der Fokus vornehmlich auf muslimische Schüler gerichtet sei, impliziere eine solche Einrichtung, so Buchholz kritisch, eine Reduktion komplexer Gemengelagen auf die Religionszugehörigkeit vor allem muslimischer Schüler. Die latent antimuslimische Schlagseite der bislang von keinem wissenschaftlichen Beirat begleiteten Projektstelle und die damit verbundene Stigmatisierung von Muslimen könne dem gedeihlichen Miteinander in einer multireligiösen Gesellschaft kaum förderlich sein.
Hikel hingegen verwies auf Stimmen von Schülern, die sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu religiösen Minoritäten von Mitschülern diskriminiert fühlen und nicht ignoriert werden dürften. Gleiches gelte für die Stimmen von Lehrenden, die aufgrund ihrer Erfahrungen an sog. Hotspot-Schulen für eine Beibehaltung des Berliner Neutralitätsgesetzes plädieren. Aufschluss über den tatsächlich vorliegenden politischen Handlungsbedarf könne erst ein - über welchen Zeitraum, blieb offen – eingerichtetes Monitoring geben. Offen blieb in den Ausführungen Hikels auch das Forschungsdesign zur Gewinnung der für dieses Monitoring notwendigen Daten und die Frage nach der wissenschaftlichen Einordnung, Bewertung und Kommunikation der Ergebnisse. In einer multireligiösen Gesellschaft wie der Neuköllns, in der sich Menschen aus fast hundert Nationen und ebenso vielen Religionsgemeinschaften den öffentlichen Raum teilen, sei es, so Hikels Überzeugung, die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass die individuelle Entfaltung eines jeden religiösen Menschen keine Einschränkung erfahre.
Die so prägnant herausgestellte Gewährleistung der Entfaltung individueller und selbstbestimmter Religiosität lieferte Buchholz das Stichwort für eine engagierte Intervention zugunsten muslimischer Frauen, deren Anstellung im öffentlichen Dienst allein aufgrund ihrer Kopfbedeckung bzw. ihrer sichtbaren Religionszugehörigkeit zum Problemfall würde. Ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen verstoße, so Buchholz, ebenso gegen die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit wie die von der Großen Koalition auf den Weg gebrachte Regelung zum Erscheinungsbild von Beamten. Was jemand als Teil seiner religiösen Identität und Glaubenspraxis ansehe, könne und dürfe nicht der Staat entscheiden.
Hikel hingegen war der Ansicht, eine Lehrerin habe im staatlichen Dienst aufgrund ihrer hoheitlichen Amtstätigkeit die Nichtidentifikation des Staates mit der Religion und die verfassungsrechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen auch äußerlich widerzuspiegeln und sich am Mäßigungsgebot des Beamtenrechtes zu orientieren. Die Bekundung der eigenen Religiosität und damit die Berufung auf die individuelle positive Religionsfreiheit müsse daher mit Blick auf die damit konfligierenden Rechtsgüter des staatlichen Erziehungsauftrags, des elterlichen Erziehungsrechts sowie der positiven und negativen Religionsfreiheit der Eltern und Schüler zurückgestellt werden. Aufgrund der Heterogenität muslimischer Positionierungen zur religiösen Kopfbedeckung, der Mehrdeutigkeit ihrer Symbolik und der gesellschaftlichen Irritationen, die das Mosaik an diesbezüglichen Rechtsprechungen in den Bundesländern veranlasse, wünsche er sich in dieser Frage sogar – damit wäre das BVG-Urteil von 2015 de facto hinfällig – eine bundeseinheitliche Regelung.
Es wäre sicher interessant gewesen, zu erfahren, welche Akzente Jarasch und Giousouf in dieser religionspolitisch hoch aufgeladenen, von Buchholz und Hikel exemplarisch repräsentierten Debatte rund um konfrontative Religionsbekundung und das Kopftuch noch gesetzt hätten. Eines ist jedoch an diesem von Dr. Sarah Albrecht (Evangelische Akademie zu Berlin) souverän moderierten Abend klar geworden: Im hier zwischen zwei Politikern ausgefochtenen Streit um Religion im öffentlichen und schulischen Raum verdichten sich nicht nur unterschiedliche Verständnisse von staatlicher Neutralität, sondern auch divergente Interessen und Perspektiven auf die (Mit)Gestaltung und (Mit)Verwaltung des religiösen Feldes. Religionsgemeinschaften begehren zivilgesellschaftliche Anerkennung, gläubige Individuen religiöse Selbstbestimmung, Nichtreligiöse und ‚Liberal‘-religiöse die Bewahrung von Säkularität und Neutralität, politische Akteure die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts: Je nachdem, aus welchen Erwartungshaltungen religions- und integrationspolitische Fragen angegangen und reflektiert werden, ergeben sich unterschiedliche Schlussfolgerungen und (Konflikt-)Lösungsstrategien. Dabei ist die zur Debatte stehende Frage nicht nur, wieviel Religion der Staat und wieviel religiöse Pluralität eine säkulare Gesellschaft verträgt. Zu fragen ist auch, wieviel religiöse Pluralität die Religionen selbst vertragen bzw. inwieweit Religionen oder besser: deren Angehörige bereit sind, das von ihnen eingeforderte Recht auf Religionsfreiheit – das als solches immer auch das Recht auf Religionslosigkeit und Religionswechsel miteinschließt – uneingeschränkt zu akzeptieren.
Rüdiger Braun
Quellen
https://www.eaberlin.de/seminars/data/2021/rel/staat-und-gott/
https://www.eaberlin.de/aktuelles/2021/wie-viel-religion-vertraegt-der-oeffentliche-raum/
https://www.eab-berlin.eu/de/veranstaltung/15-11-2021/staat-und-gott-religion-der-einwanderungsgesellschaft
https://idw-online.de/de/news770289