Das am 7. Oktober 2023 von der Terrororganisation Hamas an jüdischen Zivilisten verübte Massaker, der nachfolgende Anstieg antisemitischer Vorfälle in Deutschland und die Zuspitzung des Israel-Palästina-Konflikts mit unzähligen zivilen Todesopfern im Gaza- und Libanonkrieg – niemanden lassen diese Geschehnisse unberührt. Viele Zeitgenossen fragen besorgt, wie sich in dieser höchst komplexen und verfahrenen geopolitischen Gemengelage die unterschiedlichen Positionen im Konflikt in einen konstruktiven, lösungsorientierten Diskurs überführen lassen. Wie kann den damit verbundenen Problemstellungen Antisemitismus und Antizionismus sowie den verschwörungstheoretischen Bezugnahmen auf den Nahost-Konflikt produktiv begegnet werden?
Der an der LMU in München lehrende Ägyptologe und Religionspädagoge Stefan Jakob Wimmer hat sich jüngst mit einer „Lösungssuche“ betitelten „Handreichung zum Umgang mit dem Israel-Palästina-Konflikt“ den betreffenden Herausforderungen gestellt und dabei fundamentale Fragestellungen prägnant benannt, die es bei der Lösungssuche zum Thema Antisemitismus im Allgemeinen sowie zum Antizionismus und Israel-Palästina-Konflikt im Besonderen zu vergegenwärtigen gilt („Begegnung & Gespräch. Ökumenische Beiträge zu Erziehung und Unterricht“ Nr. 201, III/2024: https://begegnung-online.de/online-ausgaben/493-loesungssuche-handreichungen-zum-umgang-mit-dem-israel-palaestina-konflikt).
Wenngleich sich Wimmers Argumentation einer spezifischen, mit Akzentsetzungen und Ausblendungen verbundenen Hermeneutik verdankt, die manchen zu kritischem Widerspruch veranlassen könnte, trägt sie mit ihren profilierten Thesen fraglos zu einer produktiven Weiterführung der kontroversen Debatte bei.
Ein junger, zweiseitiger, ausdrücklich nicht religiöser und daher auch überwindbarer Konflikt
Wimmer spricht in seiner Handreichung zunächst von „denkbar weit auseinanderklaffenden Sichtweisen und Interpretationen“, welche die Zivilgesellschaft ebenso wie politische Verantwortungsträger dort, wo diese aufeinandertreffen, vor „kaum zu bewältigenden Herausforderungen“ (PDF der Handreichung, 1) stellen. Und er benennt im Anschluss daran in einem Abschnitt zu den „A‘s und O’s“ der Lösungssuche einige „grundsätzliche Axiome“, die den Konflikt, so vielschichtig er auch sein mag, „seinem Wesen nach kennzeichnen“ und die „am Beginn einer jeden Auseinandersetzung mit der Materie“ stehen müssen (ebd., 1): Der Israel-Palästina-Konflikt hat, so Wimmer, (1.) zwei Seiten, ist (2.) „seinem Wesen nach kein Religionskonflikt“ und (3.) wie jeder Konflikt „überwindbar“. Wenngleich er (4.) von Deutschland aus nicht gelöst werden kann, lässt sich hierzulande zumindest „ein friedliches und wertschätzendes Miteinander verwirklichen“. „Kritik an Israel“ schließlich ist (5.) „nicht per se antisemitisch“, jedoch „häufiger antisemitisch, als die Kritiker oft meinen“ (ebd., 1).
Der auf eine „Lösungssuche“ zielende Argumentationsstrang sei hier – auch zur schnelleren Vergegenwärtigung grundlegender Problemkreise, die es mit Wimmer in den Blick zu nehmen gilt – in seinen wesentlichen Elementen thesenhaft zusammengefasst:
- Kräftekonflikt: Es handelt sich beim gegenwärtigen Israel-Palästina-Konflikt ausdrücklich nicht um einen Konflikt zweier Völker, sondern zweier gesellschaftlicher Kräfte: kompromissbereiter vs. fundamentalistischer, einen Totalanspruch auf das Land erhebender Kräfte (vgl. ebd., 2-6).
- Kein Religionskonflikt: Eine auch mit religiösen Konnotationen arbeitende Deutung des Israel-Palästina-Konflikts steht ausdrücklich und „vom Grundsatz her“ gegen das „Wesen beider heiliger Schriften“, die beide „nirgends einen zwingend vorgegebenen Konflikt“ (ebd., 7) erkennen lassen.
- Religiöse Vorbehaltlosigkeit: Es gibt aus jüdischer und islamischer Sicht „keine religiös bedingten Vorbehalte“ gegen ein Zusammenleben von Juden und Muslimen „in einem säkular oder anders geprägten System“ (ebd., 9), so dass bei einer zu favorisierenden Zweistaatenlösung ein gleichberechtigtes Leben von Juden in einem Staat Palästina grundsätzlich gewährleistet ist.
- „Antisemitismus-Falle“: Die durch die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina generierte Feindseligkeit der angestammten Bevölkerung gegen die Juden mitsamt ihrem Widerstand gegen Israel ist nachvollziehbar und somit ein palästinensischer Antizionismus noch nicht per se antisemitisch (vgl. „Die Antisemitismus-Falle“, 28f).
- Fremdinduzierter Antisemitismus: Die unter Muslimen und Palästinensern verbreiteten antisemitischen Stereotypen wurden „von Europa aus in die Länder des Osmanischen Reiches, in arabische und islamische Gesellschaften exportiert“ und migrieren im Zuge der modernen Migrationsbewegungen nun wieder nach Deutschland zurück (ebd., 12-13).
- Definitionsmächte: Gegenüber der zu allgemeinen, Feindschaft gegenüber Israel teils bereits als antisemitisch klassifizierenden „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2016 liefert die 2021 vorgelegte Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) eine präzisere Differenzierung dazu, wo Antisemitismus vorliegt und wo nicht (ebd., 12-13).
- Wider eine selektive Lagersolidarisierung: Glaubwürdigkeit beanspruchen und einer einseitigen Solidarisierung (z.B. von Christen mit Juden) wehren kann der Kampf gegen Antisemitismus nur dann, wenn er gemeinsam mit dem Kampf gegen Muslim- und Islamfeindlichkeit und andere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit geführt wird („Die Antisemitismus-Falle“, 31-33).
In der Zusammenschau dieser Thesen ergeben sich folgende Fragen-, Problem- und Diskussionskreise, die hier selbstverständlich nur angerissen werden können:
(A)symmetrische Konstellationen: Weiterer kritischer Reflexion bedürfte die in These 1 („Kräftekonflikt“) implizit vorausgesetzte Symmetrie von zwei dasselbe Land beanspruchenden „Völkern“. Sie vermag im Hinblick auf deren genealogische Verfasstheit und epigenetische Erinnerungskultur nur sehr begrenzt zu überzeugen.
Fremdimport und Empfänglichkeiten: Rückfragen provoziert auch die in den Thesen 2, 3 und 5 vorausgesetzte Annahme einer externenreligiösen Aufladung eines genuin nicht religiös konnotierten, sondern historisch und geopolitisch begründeten Konflikts zweier Völker, die sich aufgrund der historischen und religiösen Nähe von Judentum und Islam eigentlich zu einer gedeihlichen und friedvollen Konvivenz in einem gemeinsamen Staat oder zwei benachbarten Staaten zusammenfinden müssten. Demnach gehe die religiöse Aufladung des Konflikts auf antisemitische Stereotypen zurück, die aus Europa in arabische und islamische Gesellschaften exportiert wurden. Weil fremdinduziert und mit der islamischen Tradition selbst unverbunden, könnten diese Stereotypen durch antisemitismuskritische Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit überwunden werden. Unzureichend reflektiert bleibt die Frage, warum die zweifellos dem europäischen Antisemitismus entstammenden verschwörungstheoretischen Narrative (z.B. Bezüge zu der 1903 auf Russisch publizierten und in den 1920er Jahren ins Arabische übersetzten „Protokolle der Weisen in Zion“, in denen die Juden als die hinter allen Kriegen, Krisen und innergesellschaftlichen Kontroversen stehenden Weltverschwörer imaginiert werden), in der arabischen und islamischen Welt auf eine solche Resonanz stießen und warum diese Narrative dort auch weiterhin – befördert noch durch die gegenwärtige geopolitische Gemengelage – so lebendig sind. Es ist die Frage nach kulturellen oder auch religionsbezogenen Hintergründen, die genealogisch tiefer reichen als nur bis ins 19. Jahrhundert. Ihr auszuweichen wäre einer nachhaltigen Aufarbeitung und Bekämpfung antisemitischer Stereotypen und Ressentiments kaum förderlich.
Verflechtungen und Differenzen – Antisemitismuskritik und Antirassismus: Bei aller wiederholten Betonung der spezifischen Phänomenologie des Antisemitismus zeigt Wimmer in der in den Thesen 4, 6 und 7 zusammengefassten Argumentation das unverkennbare Bestreben, den Antisemitismus mit Formen und Facetten der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zusammenzuführen und, in Entsprechung zum Ansatz der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA), in den Kontext einer übergreifenden antirassistischen und menschenrechtsorientierten Bildungsarbeit zu stellen. Die gleichsam symmetrische Solidarisierung nicht nur mit den Juden, sondern auch mit den Palästinensern soll es zugleich ermöglichen, den spezifisch jüdischen Exzeptionalismus im Opferstatus (vgl. den Historikerstreit zur Singularität der Shoah) zu überwinden und dem Kampf gegen alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit endlich die nötige Glaubwürdigkeit zu verleihen. Damit dürfte eine der kompliziertesten Fragen angeschnitten sein, die es in der Diskussion zum Antisemitismus fortwährend mit zu vergegenwärtigen gilt. Wenn die vorliegende Handreichung auch keine abschließende Antwort auf diese Frage gibt, ist es doch ihr Verdienst, das Bewusstsein für sie geschärft zu haben.
Rüdiger Braun, 02.10.2024