„In dem Glauben, dass wahre Liebe wartet, verpflichte ich mich gegenüber Gott, mir selbst, meiner Familie, meinen Freunden, meinem zukünftigen Ehepartner und meinen zukünftigen Kindern, von diesem Tag an sexuell enthaltsam zu bleiben bis zu dem Tag, an dem ich eine biblische Ehe eingehe.“1
Dieses Keuschheitsversprechen steht auf den Gelöbniskarten von „True Love Waits“ (TLW), der wohl prominentesten Organisation der „Purity Culture“-Bewegung (dt.: Keuschheitsbewegung). Es handelt sich um eine Jugendbewegung, die in den frühen 1990er Jahren innerhalb des US-amerikanischen Evangelikalismus entstand und sich mittlerweile zu einer transdenominationalen Jugend-Subkultur entwickelt hat, die seit Anfang der 2000er auch in evangelikal geprägten Gemeinden in Deutschland an Einfluss gewonnen hat. Die Vertreter:innen der Bewegung propagieren die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe und bringen diese Einstellung durch Gelöbniskarten, „purity rings“ oder durch Teilnahme an „Purity Events“ demonstrativ zum Ausdruck.
Die Ursprünge der purity culture
Die Keuschheitsbewegung kann zunächst als christlich-konservative Reaktion auf die sexuelle Revolution der 1960er Jahre verstanden werden. Allerdings gehen ihre Wurzeln viel weiter zurück, nämlich auf die ersten Reinheitskampagnen im 19. Jahrhundert, als vor allem evangelikale Abstinenzlerinnen und Frauenrechtlerinnen wie Frances Willard (1839–1898) öffentlich sexuelle Unzucht anprangerten. Basierend auf einem typisch viktorianischen Komplementärverständnis von Mann und Frau wurde die (weiße Mittelschicht-)Familie als harmonische Einheit idealisiert und vor ihrem drohenden Zerfall durch Alkohol und sexuelle Freizügigkeit gewarnt. Dabei wurden aufgrund ihrer vermuteten moralischen Überlegenheit vornehmlich die Frauen in die Pflicht genommen, die zügellose Sexualität von Männern in Schach zu halten. Mit Initiativen gegen Alkoholmissbrauch und sexuelles Fehlverhalten sollte dabei nicht nur die Kernfamilie geschützt, sondern zugleich das nationale Wohlergehen bewahrt werden (vgl. Moslener 2015, 17–19).
Nach 1945 entstand erstmals eine lebhafte evangelikale Jugendkultur in den USA. Dadurch rückten Teenager vermehrt in den Fokus von Predigern wie Billy Graham (1918–2018). Diese begriffen es als ihre Aufgabe, den Jugendlichen christliche Familienwerte zu vermitteln und sie von sexueller Unmoral abzuhalten, nicht zuletzt um durch die Stärkung der Ideale des christlichen Amerika ein Erstarken des Kommunismus zu verhindern (vgl. Moslener 2015, 9). Nachdem vom amerikanischen Evangelikalismus nach und nach Werte aus der Hippie-Bewegung aufgenommen worden waren – eine Anti-Establishment-Haltung, ein religiös-therapeutischer Individualismus und die Ausrichtung auf persönliche Transformation –, begann sich auch das Verständnis von sexueller Reinheit zu verändern (vgl. Miller 1997). Sie wurde nicht mehr nur als spiritueller, sondern auch als therapeutischer Prozess verstanden (vgl. Moslener, 13). Neben dem Abfall von einem gottgefälligen Leben rückten damit stärker körperliche und emotionale Gefahren vorehelichen Geschlechtsverkehrs in den Fokus.