Nachruf auf Aga Khan IV., den 49. Imam der Ismailiten
Philanthropie und Bildung

Er galt der Gemeinschaft der Ismailiten als Nachfahre des Propheten Muhammads, als autoritativer Interpret des Koran und als rechtmäßiger Imam der Muslime: Am 5. Februar ist Aga Khan IV. (1936-2025), der 49. Imam der dem schiitischen Islam zuzurechnenden Ismailiten, im Alter von 88 Jahren in Lissabon, verstorben. Das Imamat besitzt dort seit 2018 diplomatischen Status und steht nicht nur den weltweit geschätzt 15 bis 18 Millionen Ismailiten vor, sondern auch einem unüberschaubaren Imperium an Besitztümern, Stiftungen und Unternehmen, das der Aga Khan von seinem Großvater Sultan Muhammad Shah (1877-1957), Aga Khan III., übernommen und im Laufe seiner fast siebzigjährigen Herrschaft mit großem ökonomischem Gespür ausgebaut hat. Die stetig wachsenden Gewinnmargen der diesem Imperium einverleibten Firmen, Luxushotels, Bankbeteiligungen, Versicherungen, Fluggesellschaften und Medienunternehmen hat der als großzügiger Philanthrop geachtete Imam vornehmlich in wohltätige Zwecke investiert. Am 13. Dezember 1936 in Creux-de-Genthod im Kanton Genf geboren, war Karim Al Husseini 1957 mit gerade einmal zwanzig Jahren von seinem Großvater zu dessen Nachfolger gekürt worden – der eigene Sohn Prinz Aly wurde aufgrund seines extravaganten Lebenswandels schlicht übergangen. Damit wurde er von einem Tag auf den anderen der hochverehrte, als göttlich inspiriert geltende Imam der ismailitischen Muslime. Der Adelstitel Aga Khan (pers., „Herr Fürst“) war bereits dem Ururgroßvater, dem 46. Imam Hassan Ali Schah (1800-1881), Aga Khan I., in den 1830er Jahren vom persischen Herrscher Fath Ali Schah zuerkannt und seither vererbt worden.
Das Aga Khan Development Network und die Abgaben der Gläubigen
Zum 10-jährigen Jubiläum der eigenen Thronbesteigung am 11. Juli 1957 gründete Aga Khan IV. in Genf die Aga-Khan-Stiftung, die heute als Aga Khan Development Network (AKDN) mit einem Jahresbudget von fast einer Milliarde Dollar und rund 96000 Angestellten als eine der weltweit größten NGOs bzw. privaten Entwicklungsorganisationen gilt.1 Das heute mit zahlreichen internationalen Geldgebern wie der Weltbank oder der Europäischen Kommission kooperierende Netzwerk2 investiert als transreligiöse und -konfessionelle Einrichtung in mehr als dreißig Ländern in Gesundheitsversorgung, Bildung, Kultur, Umwelt und lokale Wirtschaft, und wird neben privaten und staatlichen Spenden aus einer spezifischen, allein den Ismailiten obliegenden Abgabe finanziert. Im Gegenüber zu der im sunnitischen Islam üblichen, sich auf ungefähr 2,5 Prozent des Einkommens belaufenden „Almosensteuer“ führen Ismailiten in Entsprechung zu einer traditionell-ismailitischen Abgabe (naǧwa) 10 bis 12,5 Prozent ihrer Einkünfte direkt an das Imamat und das Netzwerk der AKDN ab.3 Begründet wird diese Abgaberegelung heute mit dem Bestreben der ismailitischen Gemeinde, „das soziale Gewissen des Islam durch einheitliches Handeln zu realisieren“.4
Philanthropisches Engagement und Bildungsarbeit
Der Aga Khan selbst beschrieb in einem 2007 mit der „New York Times“ geführten Interview die Armut als eine der zentralen Ursachen für die in vielen Entwicklungsländern herrschende „tragische Verzweiflung“ und wirtschaftliche Hilfe als das Mittel der Wahl, den Armen zu helfen und sie so gegenüber Extremismen zu schützen.5 Weit wichtiger erachtete er jedoch die Bekämpfung der von ihm als „gefährliche Unwissenheit“ bezeichneten Bildungsmisere: Dieser begegnete er mit der Gründung von mehreren Universitäten, über 200 Schulen und rund 700 Gesundheitszentren in der islamischen Welt. Das von zahlreichen Entwicklungsökonomen hochgeschätzte philanthropische Engagement des Aga Khan begründete er selbst mit seinem Glauben an Gott und der Dankbarkeit ihm gegenüber: „Wenn Gott einem die Fähigkeit oder das Glück gegeben hat, ein privilegiertes Individuum in der Gesellschaft zu sein“, dann habe man der islamischen Ethik zufolge auch „eine moralische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.“6
Spirituelle Herrschaft und esoterisches Wissen
Privilegiert war der Aga Khan nicht nur in finanzieller und politischer, sondern auch in religiöser Hinsicht. Die hohen Abgaben der ismailitischen Gläubigen liegen auch in der überaus hohen Verehrung des Imams und in einer spezifischen Imamatsdoktrin begründet, welche die im 8. und 9. Jahrhundert u.Z. aus zwei Spaltungen innerhalb des schiitischen Islam hervorgegangenen Ismailiten7 ausbildeten. Dieser Doktrin zufolge besitzt der als Nachkomme der Prophetentochter Fātima und ʿĀlis geltende Imam nicht nur vollkommenes Wissen über innere, „esoterische“ (bāṭin) Bedeutung der im Koran offenbarten islamischen Ordnung; als „Bevollmächtigter“ (wāsiʾ) des Propheten ist er zugleich mit der „Rechtleitung“ der Gläubigen in allen weltlichen und spirituellen Angelegenheiten beauftragt. Diese selbst besteht im Wesentlichen darin, den Gläubigen den geistigen Sinn der koranischen Verse zu enthüllen, bevor am Ende der Zeiten der wiederkehrende siebte Imam die „äußeren“ Religionen des Zoroastrismus, Judentums, Christentums sowie ebenso des Islam aufheben und den inneren Kern der Religion, die unverstellte Urreligion des Paradieses bzw. „wahre Religion“ wieder restituieren wird.8 Aufgrund der erkennbar gnostischen und neuplatonischen Prägung ihres Glaubens werden die Ismailiten von ihren Gegnern auch als Batiniten bzw. als Esoteriker bezeichnet. Die bis in die 1970er Jahre hinein vernachlässigte Forschung zu dieser besonderen, als liberal angesehenen Richtung des schiitischen Islam ist durch das Institute for Ismaili Studies (IIS) in London9 auf völlig neue Füße gestellt worden: Im Jahr 1977 zum 20. Thronjubiläum des Aga Khan IV. gegründet, widmet sich das hoch anerkannte Institut in Kooperation mit internationalen Wissenschaftlern der Erforschung der Ismailiten – dies auch mit der erklärten Absicht, die im sunnitischen Islam diskreditierte Minderheit als untrennbaren Teil der kulturellen Vielfalt und des schöpferischen Potentials der islamischen Welt zu präsentieren.
Generationenwechsel
Zwei Tage nach der Beisetzung des Aga Khan IV. in einem von und für seinen Großvater Sultan Muhammad Shah (1877 – 1957) errichteten Mausoleum bei Assuan/Ägypten übernahm am 11. Februar nun dessen ältester Sohn Prinz Rahim al-Hussain (1971*) die Würde des 50. Imam der Ismailiten. Als Aga Khan V. wird der in den USA und Spanien ausgebildete Familienvater seine leitenden Funktionen in den Agenturen des AKDN sowie im Londoner IIS fortführen und dabei zugleich den guten Ruf, den sich die Ismailiten in der westlichen Hemisphäre aufgrund ihrer weltweiten Wohltätigkeitsaktivitäten, Entwicklungshilfe- und Bildungsprogramme, ihrer spirituellen Lesart des Islam sowie ihrer Anpassungsbereitschaft an die Gesellschaft ihres jeweiligen Umfeldes bislang erworben haben, weiter ausbauen.
Rüdiger Braun, 24.02.2025
Anmerkungen
- Vgl. AKDN (2025), What we do: https://the.akdn/en/what-we-do/.
- Vgl. ausführlicher dazu https://the.akdn/en/resources-media/whats-new/news-release/peace-security-and-cooperation-discussed-at-the-un-alliance-of-civilizations-global-forum und Liane Wobbe, „Ismailiten feiern Thronjubiläum. 60 Jahre Imamat von Karim Aga Khan IV.“, https://www.ezw-berlin.de/publikationen/artikel/ismailiten-feiern-thronjubilaeum/.
- Vgl. dazu Ulrich Dehn, „Toleranzpreis für Aga Khan IV.“, https://www.ezw-berlin.de/publikationen/artikel/toleranzpreis-fuer-aga-khan-iv/ sowie Heinz Halm, The Fatimids and their Traditions of Learning (Ismaili Heritage Series 2), 2. Aufl. (London: 2001), 69f.
- Vgl. dazu Nora Meyer, „Karim Aga Khan IV. – religiöses Oberhaupt und Mäzen für Kunst und Kultur“, https://www.ezw-berlin.de/publikationen/artikel/karim-aga-khan-iv-religioeses-oberhaupt-und-maezen-fuer-kunst-und-kultur/.
- „Jetsetter und Religionsführer: Der Aga Khan ist tot“, NZZ 5.02.2025, https://www.nzz.ch/panorama/vermoegender-religionsfuehrer-aga-khan-stirbt-mit-88-jahren-ld.1869609; nachfolgende Zitation: ebd.
- Zitiert aus einem 2003 mit „Vanity Fair“ geführten Interview in: Adrian Meyer, „Der Imam, der zum Jetset gehörte. Ein Nachruf“, NZZ 8.02.2025; https://www.nzz.ch/report-und-debatte/milliardaer-philanthrop-lebemann-und-religioeser-fuehrer-nachruf-auf-aga-khan-iv-ld.1869501.
- Vgl. ausführlicher dazu Friedmann Eißler, Schiitischer Islam, https://www.ezw-berlin.de/publikationen/lexikon/schiitischer-islam-schia/
- Vgl. ausführlicher dazu Heinz Halm, Schiiten (12er, 7er und Zaiditen, Alawiten), in: Georges Tamer (Hg.), Islam I. Entstehung, Konfessionen, Dynastien (Die Religionen der Menschheit 25,1) (Stuttgart: Kohlhammer 2023), 213-239, 231.
- Vgl. https://www.iis.ac.uk.