Unter dem Titel „Konflikte im Klassenzimmer? Oder: ‚The Kids Are Alright‘“ („Mit den Kindern ist alles in Ordnung“) stellt die Studiengemeinschaft ufuq.de unentgeltlich eine Handreichung zum pädagogischen Umgang in islambezogenen Konflikten zur Verfügung. Sie macht in Form von praktischen Karteikarten „Vorschläge zum pädagogischen Umgang mit Positionen und Verhaltensweisen von Jugendlichen im Kontext von Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus“ (so der Untertitel). Der in der politischen Bildung und Prävention zu den Themen Islam, antimuslimischer Rassismus und Islamismus aktive Träger der freien Jugendhilfe wird vom Bundesfamilienministerium, von der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung, vom Landesprogramm Demokratie. Vielfalt. Respekt in Berlin sowie vom Bundesprogramm Demokratie leben gefördert. Er bietet in dieser Handreichung schulischen Lehrkräften nicht nur „Hintergrundinformationen und Vorschläge für pädagogische Optionen zum Umgang mit schwierigen Positionen und Verhaltensweisen von Jugendlichen“, sondern auch ein „Glossar“ mit „wissenschaftlich, politisch und pädagogisch relevanten Hinweisen zu ausgesuchten Fragen und Konflikten im Themenfeld von Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus“. Zwei „Servicekarten“ nennen Literatur und Adressen zur weiteren Beratung von Fachkräften und Einrichtungen.
Als Beweggrund zu dieser aufgrund der hohen Nachfrage vergriffenen und wieder neu aufgelegten Veröffentlichung nennt der in die Karteikarten einführende achtseitige Folder „die spezifischen Herausforderungen“, vor der „Schule und Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft“ stehen. Ihnen könne nur, so stellt der Folder gleich zu Beginn unter Punkt I programmatisch fest, angemessen begegnet werden, wenn vergegenwärtigt werde, dass die „allermeisten“ den Lehrkräften begegnenden Konflikte weder mit etwaigen islamistischen Radikalisierungen von Jugendlichen noch überhaupt etwas mit Religion zu tun haben, sondern schlicht mit „Wünschen nach Anerkennung und Zugehörigkeit“ (ebd., Abschnitt If). Lassen sich a) „legitimer Protest“ gegen als ungerecht empfundene Ereignisse sowie b) jugendliche „Provokationen“ im Schulalltag problemlos bearbeiten oder „als Gesprächsangebote interpretieren“, könne c) der „extrem seltene“ Fall einer bereits von einer politischen Ideologie getragenen „Propaganda“ dann tatsächlich ein Anlass zur Hinzuziehung externer Beratungsstellen sein (ebd., Abschnitte II-IV).
Wesentlich ist jedoch, hinter all diesen Formen von Protest, Provokation und Propaganda das „Thema hinter dem Thema“ – die „Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus, die viele Jugendliche mit muslimischem Hintergrund in ihrem Alltag machen“ (Abschnitt V) – zu erfassen. „Suchen Sie Ursachen von Konflikten nicht ‚im Islam‘“, empfiehlt der Leitfaden und spricht von Jugendlichen, „die sich in Suchprozessen befinden und experimentieren“, die „dazugehören“ wollen und, anders als die ersten zwei Generationen muslimischer Migranten, von einem „Wunsch nach Zugehörigkeit und Partizipation“ getrieben sind: „Soziale Fragen, familiäre Krisen, Gefühle von Perspektivlosigkeit und Armut“ sowie „universelle patriarchale Denkmuster und Erziehungsstile“ sind es, „die zu ‚problematischen‘ Positionen und Verhaltensformen von Jugendlichen führen“ (ebd.), nicht aber der mit der Demokratie und den Grundrechten „selbstverständlich vereinbar[e]“ Islam. Eine abschließende, „das Rezept für alle Fälle“ enthaltende Karteikarte (Nr. 26) verleiht dieser Grundeinsicht nochmals ausdrücklich Nachdruck: „Beziehen Sie schwierige Positionen und Konflikte nicht auf Kultur, Islam oder Islamismus! Oder anders: Fragen Sie sich nicht, was ‚problematische‘ und provozierende Positionen und Verhaltensweisen von Jugendlichen mit Islam, Kultur oder Islamismus zu tun haben könnten. […]. Fragen Sie vielmehr: […] Was ist das ‚Thema hinter dem Thema‘“.
Wird z. B. in der Schule mit „buchstäblichen Vorstellungen“ von Himmel, Hölle und einem bestrafenden Gott gedroht, wie sie – nicht anders als „Angehörige anderer Religionen“ – auch Muslime haben, so gilt es dabei „nicht den religiösen Aspekt, sondern Abwertung, Druckausübung und das Zusammenleben in der Klasse“ zu thematisieren (Nr. 3). Geraten Mädchen ohne Kopftuch in der Schule unter Druck, „intervenieren Sie – aber nicht unter Bezug auf religiöse Fragen“ (Nr. 4). Anstatt Gebet, Kopftuch oder das Fasten in der Schule „zum Feld symbolischer Kämpfe“ werden zu lassen, gelte es, „Signale der Anerkennung“ (wie z. B. ein „Raum der Stille“) zu setzen (Nr. 2). Verweigern Jugendliche, als „Symbol vermeintlicher ‚islamischer‘ Besonderheit“, den Handschlag, „bestärken Sie nicht Wir-und-Die-Diskurse“, sondern „greifen Sie unterschiedliche Formen der Begrüßung auf“, zielt doch die Betonung von „Eigenheiten“ „meist nicht auf Segregation und Abgrenzung, sondern bringt im Gegenteil häufig den Wunsch nach Teilhabe zum Ausdruck“ (Nr. 5/10).
Das Bestreben, ein Bewusstsein für das „Thema hinter dem Thema“ zu schaffen, kennzeichnet auch die Karteikarten zum Themenfeld Islamismus. Finden „in Suchprozessen“ befindliche junge Menschen Gefallen am Salafismus („Pierre Vogel? Find ich cool …“, Nr. 14), dann allein, weil dieser ein „gesellschaftliches Vakuum“ bedient: „Wenn die Bedürfnisse und Interessen vieler Jugendlicher in der Gesellschaft nicht genügend bedient werden, kommen eben andere und geben ihre Antworten.“ In der kritischen Auseinandersetzung mit dieser (salafistischen) Lesart des Islam „erwecken Sie nicht den Eindruck, ‚den Islam‘ infrage stellen zu wollen“ (14). Wenngleich der IS zweifellos auch auf die „Bedürfnisse und Sehnsüchte einiger, vor allem vulnerabler, junger Männer und Frauen“ zielt und dabei religiöse Bezüge zur Legitimation dienen, sind diese „in der Regel nicht die Ursache von Ideologisierung und Gewaltbereitschaft“. Die pädagogische Empfehlung ist, „präventiv […] ‚alternative Narrative‘ zu den vom IS propagierten Themen [zu] entwickeln“ (Nr. 15).
Über diese spezifische Vermittlungs- und Erzählkompetenz hinaus sind die Lehrkräfte aber auch in ihrer Funktion als SeelsorgerInnen gefragt, z. B. dann, wenn Mädchen die Teilnahme am Schwimm- und Sportunterricht (Nr. 21) verweigern oder auf bedeckender Bekleidung bestehen: „Nur in vertraulichen […] Gesprächen ist zu klären, ob religiöse Überzeugungen, familiäre Normen, individuelle Schamgefühle, Unsicherheit mit der Periode oder schlicht die Mühsal des Neuschminkens nach dem Schwimmen Schülerinnen davon abhält, am Schwimmunterricht teilzunehmen.“ Ist die Familie selbst gegen eine Teilnahme, „informieren Sie ggf., dass der Unterricht geschlechtergetrennt, unter Aufsicht und/oder im geschützten Raum stattfindet. Schwimmunterricht sollte ab Klasse 5 möglichst geschlechtergetrennt durchgeführt werden“.
Die bestechende Klarheit in der Benennung von Problem und Lösung prägt auch das an die thematischen Karteikarten anschließende Glossar, das selbst weniger problemorientiert als aufklärend angelegt sein will, diesen aufklärenden Impuls jedoch durch Mehrdeutigkeiten konterkariert. Auf die Feststellung, Islam und Demokratie seien „selbstverständlich miteinander vereinbar“, folgt die Einschränkung, es komme eben auf das Islamverständnis an: „Welche Perspektive sich jeweils durchsetzte, war und ist weniger eine theologische als vielmehr eine Frage der politischen, sozialen und ökonomischen (Macht)Verhältnisse“ (Nr. 1). Insofern aber „die allermeisten Muslim_innen“ demokratische Verhältnisse wünschen, ist für die Handreichung die Angelegenheit längst geklärt: „‚Der Islam‘ braucht weder eine Aufklärung noch einen Martin Luther, weil solche Positionen in der politischen und der Geistesgeschichte des Islam längst vertreten wurden“ (ebd.).
Den Eindruck selbstverständlicher Evidenz zu vermitteln ist auch das Ansinnen aller weiteren Beiträge: „Patriarchale Normen und Verhaltensmuster sind universell und langlebig“ und überdies – kommen sie doch „weltweit und in den besten Familien“ vor – „kein ‚muslimisches‘ Phänomen“ (Nr. 2 und 11): „99 % der ‚Muslim_innen‘ weltweit haben ihr Verhältnis zur Gewalt längst geklärt“ (Nr. 2). Unter Nr.4 (Islamismus) wird der Leser darüber aufgeklärt, dass „die politische Ideologie (= Islamismus) im öffentlichen Diskus häufig nicht deutlich genug vom ‚Islam‘ als Religion abgegrenzt wird“, unter „Wer ist Wir? Unsere Regeln“ (Nr. 8) schließlich darüber, dass sich „die Ideen von Gleichheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität, Friedfertigkeit, Autonomie und Bindung etc. [...] in allen religiösen und nicht-religiös begründeten ‚Wertesystemen‘ (z. B. Menschenrechte)“ finden, ihre unterschiedliche Interpretation und praktische Umsetzung jedoch „in der Regel weniger auf Religion und Kultur als vielmehr auf politische und ökonomische Entwicklungen zurückzuführen“ sind. Dementsprechend ergeht an die Lehrkräfte die Mahnung, nicht „Stereotype über Islam, ‚Muslim_innen‘ und den ‚Orient‘ zu reproduzieren“ (Nr. 11).
Was an der zweifellos gutgemeinten und durch das Förderprogramm der Landeskommission Berlin gegen Gewalt geförderten Handreichung irritiert, ist nicht allein das hohe Maß an Engagement und Zeit, das sie den schulischen Lehrkräften zur Bearbeitung konfliktiver Situationen abverlangt. Es ist auch nicht nur das nahezu auf jeder Karteikarte vorgetragene, eine erfolgreiche Konfliktbearbeitung in Aussicht stellende „Rezept“, bloß nicht „Religion“ oder „den Islam“ zum Thema zu machen: Die Imperative zur psychologischen, das „Thema hinter dem Thema“ fokussierenden Mediation sind ja so massiv, dass sich dem Leser im Gegensatz zur beschwichtigenden Diktion der Handreichung eher der Eindruck aufdrängen muss, es in manchen Schulen tatsächlich mit handfesten Problemen rund um „Religion“ zu tun zu haben. Was auch immer zur Sprache kommt: Es soll „nicht unter Bezug auf religiöse Fragen“, „auf den religiösen Aspekt“, oder überhaupt auf „die Religion“ thematisiert werden, haben doch die beschriebenen Konflikte nichts mit „dem Islam“ zu tun (V.).
Sehr viel mehr als diese fast schon ermüdende Belehrung über das hinter aller vorgeschobenen Religion verborgene eigentliche Thema irritiert die Selbstverständlichkeit, mit der diese Handreichung den in seiner individualitätstheoretischen Fassung zutiefst partikularen Religionsbegriff der Moderne auf „den Islam“ anwendet: Religion und mit ihr „der Islam“ werden hier von allen Fragen der Anerkennung, der Zugehörigkeit und der (familiären) Sozialität, kurz: vom Sozialen und Kulturellen radikal getrenntes und eigenständiges „Religiöses“ imaginiert. Anders lässt sich die kontinuierliche Aufforderung an die Lehrkräfte, die angesprochenen sozialpädagogischen Herausforderungen und Problematiken auf keinen Fall „der Religion (des Islam)“ anzulasten, nur schwer lesen. Wirklich überzeugend ist die damit implizit gesetzte systematische Unterscheidung zwischen religiösem bzw. nichtreligiösem Gehalt und nichtreligiösen bzw. religiösen Rechtfertigungsgründen von (auch im schulischen Alltag gelebten) Überzeugungen nicht. Dies schlicht und einfach deshalb, weil das, was ein Phänomen „religiös“ werden lässt, nicht etwa sein Gehalt, sondern vielmehr seine spezifische Funktion ist: In der gemeinsam erlebten und gelebten schulischen Realität bleibt das Miteinander von beidem, das heißt von Funktion und Inhalt, unhintergehbar und müsste dementsprechend nochmals sehr viel selbst- und religionskritischer reflektiert und bearbeitet werden, als es in dieser das Thema Religion so wohlwollend umgehenden Handreichung von ufuq.de geschieht. Andernfalls bliebe ihr pädagogischer Nutzen, so ansprechend das (Karteikarten-)Format auch sein mag, für die Lehrkräfte begrenzt.
Rüdiger Braun
Quelle: Ufuq.de (Hg.): „The Kids are Alright“. Vorschläge zum pädagogischen Umgang mit Positionen und Verhaltensweisen von Jugendlichen im Kontext von Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus“, Berlin 2019.