(Letzter Bericht: 1/2020, 63-65) Dass die zunehmende religiöse und weltanschauliche Diversifizierung von Gesellschaften auch praktische Probleme und Konfliktpotenzial birgt, ist bekannt. Ein offensichtliches Feld für Auseinandersetzungen ist hierbei das Essen, da die meisten Religionen besondere Ernährungsvorschriften haben. Wenn Menschen in größeren Gruppen gemeinsam verpflegt werden (Schulen, Universitäten, Kliniken), stellt sich bald die Frage, wessen religiöse Gebote gelten beziehungsweise – da die freie Religionsausübung geschützt ist – wie man allen Gruppen gerecht werden könne.
Immer häufiger taucht diese Frage nun im Zusammenhang des Veganismus auf. Wie ist mit seinen Anhängern dort umzugehen, wo sie auf Gemeinschaftsverpflegung angewiesen sind? Im österreichischen Bundesheer fordern derzeit Veganer Essen, das auf ihre weltanschaulichen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Für Muslime und Juden wird das bereits praktiziert. Diese Soldaten werden an bestimmten Standorten zusammengezogen. Veganer allerdings gibt es deutlich weniger als Anhänger dieser alten und etablierten Religionen. Vegane Aktivisten verweisen nun darauf, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Veganismus bei entsprechend ernsthafter Überzeugung schon 1993 als Weltanschauung (englisch belief) anerkannt habe. Damals hatten zwei vegane Straftäter in Britannien erfolgreich geklagt (H v UK [1993] 16 EHRR CD 44). Sie forderten, im Gefängnis veganes Essen zu erhalten. Veganismus ist laut höchster europäischer Rechtsprechung, sofern er als Weltanschauung gelebt wird, gemäß § 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention ebenso geschützt wie Religionen. Es hat in Britannien seitdem wiederholt Gerichtsentscheidungen in diesem Sinne gegeben.
Die Leitungsinstanzen des Bundesheeres reagierten zurückhaltend und verwiesen auf praktische Probleme. Schon jetzt gebe es jeden Tag ein vegetarisches Essen zur Auswahl. Das Bundesheer sei aber „kein Gastronomieunternehmen“. Alle Nahrung, die gekocht werde, sei für den Einsatz im Feld vorgesehen. „Da müsste man dann schauen, wo sich jetzt genau der vegane Soldat befindet – der liegt unter der vierten Tanne“, spottete ein Sprecher. Auch beim Einsatz in der Westsahara würde es mit der veganen Verpflegung schwierig werden. Die naheliegende Frage, wie sich der Soldatenberuf, in dem es unter anderem um das Töten von Menschen geht, mit einer Weltanschauung vertrage, die jedes Tierleid vermeiden will, wurde nicht thematisiert.
In den weitaus größeren Armeen Britanniens und Israels, Länder, in denen zudem der Veganismus weiter verbreitet ist als in Österreich, gibt es schon seit längerem vegane Versorgung. Kritiker befürchten jetzt, dass bald auch in Österreichs Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen entsprechende Ansprüche gestellt würden, wenn sich die veganen Soldaten mit ihrer Forderung durchsetzten.
In anderen Zusammenhängen wehren sich vegane Organisationen oft vehement gegen die Zuschreibung, ihre Weltanschauung trage Züge einer Religion.
Quellen
www.berliner-zeitung.de/news/veganismus-eine-religion-bundesheer-will-soldaten-nicht-vegan-bewirten-li.240983 (Abruf: 04.07.2022).
www.derstandard.at/story/2000136819011/bundesheer-will-kein-veganes-menue-auftischen?ref=loginwall_articleredirect (Abruf: 04.07.2022).
Kai Funkschmidt