Die österreichische Bundesstelle für Sektenfragen („Bundessektenstelle“) hat im April 2024 ihren ersten Bericht zum Online-Monitoring-Projekt mit dem Titel „Ende der Maßnahmen – Ende des Protests? Das Telegram-Netzwerk der österreichischen COVID-19-Protestbewegung und die Verbreitung von Verschwörungstheorien“ vorgelegt.
Es handelt sich um ein vom Bundeskanzleramt finanziertes Projekt zur Erforschung von Verschwörungstheorien im digitalen Raum, das Trends und Verbreitungswege von verschwörerischen und demokratiefeindlichen Narrativen analysiert. Im Fokus des ersten Online-Monitoring-Berichts steht dabei der Messenger-Dienst Telegram. Warum? Weil sich nach Einschätzung vieler Beobachter:innen vor allem auf dieser Plattform die COVID-19-Protestbewegung organisiert und vernetzt habe. Die Forschungsergebnisse des Projektteams der Bundesstelle belegen nunmehr empirisch, dass sich der Protest während der COVID-19-Pandemie tatsächlich mithilfe von Telegram formiert und anschließend von der Straße ins Digitale verlagert hat. Der Bericht zeigt außerdem, wie durch breit gestreute und vielfach geteilte Nachrichten Misstrauen vor allem gegenüber demokratischen Institutionen, Wissenschaftler:innen und etablierten Medien gefördert wurde, wobei verschwörungstheoretische Nachrichten eine besondere Rolle spielten.
100-Seiten-Bericht zu Telegram und Verschwörungstheorien
Der vorgelegte Bericht umfasst 100 Seiten und ist ebenso fundiert wie differenziert. Er verortet das Forschungsziel des Projekts sowie die ersten Ergebnisse explizit in den gegenwärtigen und auch kontroversen Debatten um eine kritische Auseinandersetzung mit den während der Pandemie verhängten Maßnahmen sowie deren Evaluierung und reflektiert zudem die vielfältigen Formen von Aktivitäten auf Telegram. Im Bericht wird ausdrücklich betont, dass man nicht „die Ängste und Sorgen der von der Pandemie betroffenen Menschen (...) relativieren oder das Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit infrage (...) stellen wolle“ (4); ebenso weist man auf die relative Begrenztheit der getroffenen Aussagen und den beabsichtigten Fokus auf konkrete Phänomenbereiche hin. So wird etwa klargestellt, dass es nicht darum gehe, „ein heterogenes Online-Milieu unter einen Generalverdacht zu stellen oder es in der Gesamtheit als problematisch zu charakterisieren“ (4). Das ist redlich. Es entspricht auch der Pluralität der Debatten über die Pandemie sowie der weitgefächerten Praxis auf Telegram. Der zurückhaltend moderierte und hinsichtlich des Datenschutzes als vergleichsweise „sicher“ geltende Messenger-Dienst erfüllt schließlich zahlreiche Funktionen. Telegram ist per se nichts Gefährliches.
Eine bemerkenswerte Datenbasis
Basis für die Analysen ist ein beachtlicher Datenpool: Fast 300 Kanäle mit unterschiedlichen Profilen (vgl. die Abbildung zur Kategorisierung unten), mehr als eine Million Nachrichten und mehr als 700.000 Postings wurden den Angaben der Bundessektenstelle zufolge analysiert: „Der untersuchte Datensatz setzt sich aus 287 Kanälen zusammen, die aufgrund ihrer Inhalte der Protestbewegung zugerechnet werden konnten. In der Gesamtheit umfasst der Datensatz etwa 1,3 Millionen Nachrichten, die im Zeitraum zwischen Jänner 2020 und September 2023 auf Telegram veröffentlicht wurden. Neben den textbasierten Inhalten enthält der Datensatz etwa 770.000 Postings mit Bild- oder Audio- bzw. Videomaterial“ (7). Angesichts der Komplexität audiovisueller Social-Media-Daten und der entsprechend anspruchsvollen Erfassung und Auswertung derselben handelt es sich um eine bemerkenswert breite Datenbasis, die ohne automatisierte Analyseverfahren gar nicht zu bewerkstelligen wäre. Der Methodik ist im Bericht ein eigener Abschnitt gewidmet.
Sind Telegram-Nutzer:innen gefährlich?
Der Bericht zeigt schonungslos, dass Verschwörungstheorien gerade über Telegram-Netzwerke eine reichweitenstarke Verbreitung gefunden haben. Die Bundessektenstelle erinnert dabei auch an Beobachtungen der Extremismusforschung, die Telegram bereits zuvor als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Problems identifiziert hat: „Seit Jahren wird der Messenger-Dienst Telegram innerhalb der Extremismusforschung als zentraler Rückzugsort für extremistische und verschwörungstheoretische Kreise problematisiert“ (6). Im Bericht spitzt man den Befund auf Basis der neuen empirischen Forschungsergebnisse aus dem Projekt weiter zu: „Der Messaging-Dienst Telegram wurde vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie von überwiegend rechtsextremen und verschwörungstheoretischen Milieus (...) genutzt“ (8). Durch Aussagen wie diese rückt die Plattform insgesamt in ein negatives Licht. Zweifellos hat sich Telegram für verschwörungstheoretische rechtsextreme Milieus zu einer wichtigen Mobilisierungsplattform entwickelt. Wie dies geschah, zeichnet die „Bundessektenstelle“ auch konzise nach. Man mag angesichts der vorgelegten Analyen daher auch dem Befund zustimmen, „dass sich Telegram in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum zur wichtigsten Online-Plattform zur Verbreitung von Verschwörungstheorien und zur Vernetzung entsprechender Akteurinnen und Akteure entwickelte“ (22). Aber wurde (oder wird) Telegram wirklich überwiegend von rechtsextremen und verschwörungstheoretischen Milieus genutzt? Wohl kaum. An dieser Stelle sei daher eine kritische Rückfrage erlaubt: Inwiefern lässt sich von knapp 300 Kanälen im inhaltlichen Umfeld einer Protestbewegung, die als zentrale Datenbasis im Blick sind, auf die generelle Nutzung von Telegram schließen? Dieser Zusammenhang erschließt sich bei der Lektüre des Berichts nicht unmittelbar und erscheint fraglich. Hier wäre wohl eine differenziertere Formulierung sinnvoll gewesen. Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass der Bericht selbst auf die enorme Vielzahl von Kanälen seit Gründung im Jahr 2013 einerseits und auf die zahlreichen Funktionen von Telegram als Hybrid aus Messenger-Dienst und Social-Media-Plattform andererseits hinweist (vgl. 22f.). An der grundsätzlichen Plausiblität der Analysen und Schlüsse ändert dieses spezifische Detail freilich nichts.
Wie es dazu kam, dass Telegram zum Bollwerk für Verschwörungstheoretiker:innen wurde, und welche aktuelle Tendenzen sich in diesem Feld beschreiben lassen, das steht jedenfalls im Mittelpunkt des überaus erhellenden und relevanten Berichts. Die konkreten Ergebnisse der Analysen sind nachvollziehbar präsentiert und teils auch sehr detailliert dargestellt. Der Bericht bietet eine solide Wissensbasis in Bezug auf die Verbreitung von Verschwörungstheorien im digitalen Raum, die sich in verschiedensten narrativen Formen artikulieren. Er ist wichtig und unbedingt lesenswert.
Neue Einsichten und herausfordernde Fakten
Viele aufschlussreiche und neue Einsichten sind im Bericht enthalten. Er bestätigt aber auch bereits bekannte Beobachtungen, die nun auch empirisch besser belegbar sind. Dass die innere Logik von Verschwörungsnarrativen und vor allem ihre polarisierte Ordnung Feindbilder provoziert, wird niemanden verwundern. Dass die Protestbewegung, die massiv gegen die staatlichen COVID-19-Schutzmaßnahmen mobilisierte, heute nachweislich eine höhere Reichweite hat als vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie, dürfte manche Beobachter:innen schon eher erstaunen. Auf eine Rückkehr zur „Normalität“ deutet das jedenfalls nicht hin. Auch die Erkenntnis, dass in der Protestbewegung Milieugrenzen überschritten und Milieus regelrecht transzendiert werden, gibt zu denken – zumal die vom Projekt-Team beobachtete Diversifizierung der Themen die Anschlussfähigkeit des Verschwörungsdenkens an unterschiedliche Milieus noch weiter erhöhen könnte. Einsichten wie diese sind es, welche die Weltanschauungsarbeit und ihre staatlichen, kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure herausfordern.
Gegenstrategien als Notwendigkeit
Vor allem geben die von der Bundessektenstelle gezogenen Schlüsse zu denken: Wenn eine „Normalisierung rechtsextremer und verschwörungstheoretischer Narrative“ (11), die gesellschaftliche Sprengkraft durch die „Entstehung einer digitalen Teilöffentlichkeit“ (12) und die medial florierende „Kultivierung eines verschwörungstheoretischen Weltbilds“ (12) als empirische Tatsachen nachgewiesen sind, so resultiert daraus selbstverständlich ein unmittelbarer Bedarf an Bildungsmaßnahmen, Beratungsangeboten und auch Präventionsmaßnahmen. Die Bundessektenstelle formuliert diese Konsequenz in ihrem Auswertungsbericht so: Man müsse nun „auf verschiedenen Ebenen Gegenstrategien entwickeln, Interventionen durchführen oder präventive Maßnahmen treffen“ (5). Das stimmt.
Bernhard Lauxmann