14.08.2024

Verständigung ist möglich

Gemeinsame Einsichten aus der KMU-Kontroverse

Martin Fritz und Edgar Wunder

Der Artikel ist in ZRW 2024/4 erschienen.

Kaum waren im letzten November die ersten Resultate der 6. EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) veröffentlicht, entspann sich eine lebendige Debatte über deren Triftigkeit. Dabei stand ein Teil der Untersuchung im Blickpunkt, der gegenüber den Vorgängerstudien neu war, nämlich die Erhebung der „religiösen Großwetterlage“ in Deutschland. Diese Innovation stützte sich auf die neue Breite der Befragung: Es waren so viele repräsentativ ausgewählte Menschen mit unterschiedlichsten religiös-weltanschaulichen Prägungen so ausführlich befragt worden wie in keiner KMU zuvor. Diese neue Repräsentativität sollte genutzt werden, um ein Gesamtbild der Religiosität bzw. Säkularität der Bevölkerung in Deutschland zu gewinnen und damit gleichsam den allgemeinen Hintergrund der kirchlichen Entwicklungen auszuleuchten.

Kritik und Gegenkritik

Die Debatte wurde auch in der „Zeitschrift für Religion und Weltanschauung“ mit Verve geführt. So entfaltete Martin Fritz, als EZW-Referent unter anderem für die Grundsatzfragen religiöser Gegenwartsdiagnose zuständig, eine Reihe von Einwänden gegen die betreffenden Analysen.1 Seine „kritische Bilanz“ gipfelte in dem Urteil, die 6. KMU weise „gravierende Plausibilitätsdefizite methodischer und inhaltlicher Art“ auf.2 Deshalb sei ihr diagnostischer Gesamtbefund, dass „die Mehrheit der Deutschen mit Religion nur mehr wenig am Hut hat“ (so das pointierte KMU-Resümee der F.A.Z.), „mutmaßlich“ eine „Fehldiagnose“.3

Auf diese scharfe Kritik antworteten Edgar Wunder und Christopher Jacobi, die als Referenten des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD die Durchführung und Erstauswertung der 6. KMU maßgeblich mitverantwortet hatten.4 Die Replik bot eine detaillierte Auseinandersetzung mit einem großen Teil der Fritz’schen Argumente und ließ dabei an Schärfe ebenfalls wenig zu wünschen übrig: Fritz wurde ein Mangel an Gründlichkeit bei der Lektüre der KMU-Studie bescheinigt5 und es wurden ihm überdies „Unterstellungen“6, „rhetorische Kniffe“7 und das Werfen von „Nebelkerzen“8 vorgeworfen. Die Ausführungen kamen zu dem klaren Schluss: „Alle im Detail angeführten Kritikpunkte laufen bei näherer Prüfung ins Leere, sind fehlerhaft oder nicht methodisch-empirischer Natur, sondern paradigmatisch-dezisionistische Setzungen.“9

Zurück zur Sache

Wissenschaftler (m/w/d) wollen Recht behalten und streiten gern. Das ist auch nicht ausschließlich ein Zeichen menschlicher Schwäche. Vielmehr sind die hehre Suche nach Wahrheit und die Überzeugung von den eigenen Erkenntnissen, mit denen man den Schleier des Seins, wenigstens an einer Stelle und für einen Augenblick, gelüftet zu haben glaubt, mit der Bestreitung von Irrtümern anderer notwendigerweise verbunden. Dabei mag es auch vorkommen, dass man etwas über’s Ziel hinausschießt. Leicht schleichen sich in das Ringen um die Sache polemische Impulse ein, die von der Verständigung über das Wahre abführen und das Feld der Auseinandersetzung verunklaren. Und davon werden wiederum polemische Gegenimpulse erweckt, die den Streit verschärfen, ihn perpetuieren oder zum feindseligen Gesprächsabbruch führen.

Auch die Kontroverse zwischen Fritz und Wunder/Jacobi war nicht frei von solchen Impulsen. Allzu gerne hätten daher beide Seiten nochmals tiefergehende und weiter ausgreifende Repliken verfasst, um aufzuzeigen, wo jeweils der entscheidende Punkt der eigenen Argumentation von der je anderen Seite verfehlt oder verzeichnet worden war. Aber wie viele Leser:innen hätten wohl die Geduld aufgebracht, den Windungen eingehender Argumentationsanalyse derart exzessiv zu folgen? Auf diesen Zweifel traf der weise Vorschlag von Edgar Wunder, die aufgewühlten Affekte zurückzunehmen und in einem kollegialen Gespräch die fachliche Verständigung zu suchen. So haben wir bei einem langen persönlichen Treffen, bei Kaffee, Kakao und Käsekuchen, eine Reihe von Streitpunkten noch einmal gründlich abgewogen. Dabei konnten wir wichtige Differenzen ausräumen. Bei welchen Aspekten wir Einigkeit erzielt haben, wird im Folgenden thesenhaft festgehalten.

Wissenschaftstheoretisch und methodisch Grundsätzliches

(1) Es besteht kein Grund zur Annahme, dass die eingesetzten sozialwissenschaftlichen Methoden bei der KMU fehlerhaft zur Anwendung kamen. Die Erhebung kam – soweit das der am Gespräch beteiligte Theologe überhaupt beurteilen kann – nach den „Regeln der Kunst“ heutiger Sozialwissenschaften zustande. Alle zunächst wahrgenommenen „Ungereimtheiten“ auf der Ebene des Methodischen konnten auf Rückfrage ausgeräumt werden. Dies gilt unbeschadet dessen, dass es auch innerhalb der Sozialwissenschaften einen Methodenpluralismus gibt.

(2) Gleichwohl hat jede wissenschaftliche Methode bestimmte Grenzen. Sie fokussiert ihren Gegenstandsbereich aus einem bestimmten Blickwinkel und mit einer bestimmten „Optik“, einschließlich gewisser optischer Brechungen und perspektivischer Begrenzungen. Der avisierte Gegenstand – hier: die gegenwärtige Religiosität in Deutschland – wird deshalb selbstverständlich auch in der KMU in bestimmter Weise perspektiviert und konstruiert. Denn das „Ding an sich“ (Kant) ist keiner Methode zugänglich. Schon aufgrund dieser grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Überlegung gilt, dass die KMU über die gegenwärtige Religiosität in Deutschland „an sich“ keine Aussagen zu treffen vermag, so wenig wie jede andere Untersuchung. Die KMU bietet ein Bild der gegenwärtigen Religiosität in Deutschland, wie sie sich „durch die Linse“ der angewandten Methodik darstellt. Ein solches Bild hat zwangsläufig „blinde Flecken“.

(3) Bei einer empirischen Untersuchung sind die „blinden Flecken“ nicht zuletzt durch ihre (bewussten oder unbewussten) Vorannahmen bedingt. Unweigerlich sind auch in die 6. KMU Vorannahmen eingegangen. Aber sie hat sich ernsthaft um möglichst „harmlose“ Prämissen bemüht, die das Ergebnis möglichst wenig determinieren und die unvermeidlichen blind spots möglichst klein halten.

(4) Jede Form empirischer Forschung (qualitative wie quantitative) hat ihre Anwendungsgrenzen. Bei der Datenerhebung mit Fragebögen wird die (Nicht-)Zustimmung zu Aussagen erfasst. Die Aussagen können entsprechend den Möglichkeiten unserer Sprache konkret oder vage gehalten sein. Sie müssen konkret genug sein, damit ihr Sinngehalt überhaupt verstanden wird, sie müssen aber auch vage genug sein, um einen Phänomenkreis in der Breite abdecken zu können. Hier die aus methodischer Sicht goldene Mitte zu finden, ist nicht immer einfach. Es ist möglich, dass dabei bestimmte Phänomene als methodisches Artefakt über- oder untererfasst werden. Beispielsweise könnte in Bezug auf „Religiosität“ durch zu spezifische, „überfixierte“ Fragestellungen manch fluide Gestalt von Religion übersehen werden. Oder es könnte bei zu vagen, unspezifischen Formulierungen vorkommen, dass manche Zustimmung in Wirklichkeit gar nichts mit dem konzeptionell Intendierten zu tun hat. Alle Befunde, auch die der KMU, sind in dieser Hinsicht kritisch und im Einzelfall zu reflektieren.  

Zum Religionsbegriff der KMU

(1) Nachvollziehbarerweise hat die KMU darauf verzichtet, den Religionsbegriff definitorisch festzulegen. Denn dies hätte das Blickfeld für die empirische Untersuchung von vornherein eingeschränkt. Zugleich hat sie aus nachvollziehbaren Gründen an einzelnen Stellen (im Zusammenhang der Erhebung von „Spiritualität“) auf ein bestimmtes Merkmal von Religion („Transzendenzbezug“) fokussiert.

(2) Aus dem Verzicht auf einen einheitlichen Religionsbegriff im Fragebogen folgt aber auch, dass der Gegenstand der KMU-Religionsdiagnose vielschichtig ist. Dementsprechend haftet auch dem Befund dieser Religionsdiagnose eine gewisse Unschärfe an. Da die KMU nicht definitorisch sagen kann und will, was sie unter „Religion“ versteht, gewinnt sie ihren Religionsbegriff „operational“, d.h. unter „Religiosität“ wird jenes empirisch auftretende Antwortmuster verstanden, das sich aus den statistischen Korrelationen zahlreicher Einzelfragen ergibt, die in vielschichtiger Weise mit dem Begriff der „Religiosität“ assoziiert werden. Das kann bei der Interpretation und Rezeption der Studie zu dem Problem führen, dass sich jener operational gewonnene Begriff womöglich nicht mit dem jeweils eigenen Verständnis von „Religiosität“ deckt.

(3) Dabei wird angenommen, dass das Antwortverhalten der Befragten bei den einschlägigen Fragen im Großen und Ganzen auf ein in der Bevölkerung dominierendes „Alltagsverständnis“ von Religion verweist. Die starken Korrelationen zwischen den Antworten auf recht verschiedene Fragen deuten darauf hin, dass tatsächlich ein einigermaßen trennscharfer „Allerweltsbegriff“ von Religion in Gebrauch ist. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist es deshalb sinnvoll, bei der Diskussion der KMU-Diagnose ebenfalls auf einen Religionsbegriff zu rekurrieren, der Anschluss an dieses „Alltagsverständnis“ sucht statt an elaborierte theologische oder religionssoziologische Konzeptionen.

(4) Indessen ist es selbstverständlich auch legitim, den besagten „Allerweltsbegriff“ von Religion, je nach Verwendungszweck, für zu weit oder für zu eng zu halten. Ebenso ist es legitim, die Stringenz dieses „Alltagsverständnisses“ von Religion zu bezweifeln. In all diesen Fällen relativiert sich die KMU-Diagnose entsprechend.

Zur Limitation des Fragebogens

(1) Da die Zahl möglicher Fragen in einer empirischen Erhebung immer begrenzt ist, wird sich niemals der gesamte mit dem Begriff „Religion“ assoziierte Phänomenbereich im Detail abbilden lassen. Auch hier liegt eine unüberschreitbare methodische Grenze empirischer Religionsforschung.

(2) Die Zahl der Items im Assoziationsfeld von „Religiosität“ ist in der 6. KMU indessen sehr hoch (etwa 500 Items, bezieht man alle auch in den Vortests analysierten Fragestellungen mit ein). Es erscheint unwahrscheinlich, dass dabei – im Rahmen der angewandten Methodik – etwas sehr Grundlegendes übersehen wurde. Es ist aber auch nicht grundsätzlich auszuschließen.

(3) Die Begrenzung des Fragebogens macht eine Beschränkung auf exemplarische Items notwendig, von denen angenommen werden kann, dass sie eine Indikatorfunktion für das Vorliegen noch weiterer Merkmale haben (im Sinne einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen solcher anderen Merkmale, niemals deterministisch). Zusammenhänge können in Vortests empirisch überprüft werden, und so ist die 6. KMU bei der Auswahl konkreter Items auch vorgegangen. Trotzdem ist jeder konkrete Vorschlag willkommen, welche sich dabei möglicherweise einschleichenden Einseitigkeiten in künftigen Studien durch andere Items vermieden werden könnten.

(4) Der in der KMU-Auswertung enthaltene Satz „Im Großen und Ganzen ist davon auszugehen, dass etwa 15–20% der Bevölkerung einer regelmäßigen religiösen Praxis nachgehen10 bezieht sich – wie könnte es anders sein – auf jene konkreten Praktiken, mit denen in der KMU „religiöse Praxis“ abgefragt wurde. Natürlich ist es möglich, dass der Wert höher oder niedriger ausgefallen wäre, wenn andere Praktiken abgefragt worden wären. Ein „Absolutwert“ ist unerreichbar, denn der gemessene Wert hängt immer davon ab, was konkret als „religiöse Praxis“ in Anschlag gebracht wird. Wichtiger ist, ob ein bestimmter Ausschnitt „religiöser Praxis“ – in gleicher Weise gemessen – im Zeitverlauf ab- oder zugenommen hat. Dazu ist es erforderlich, die Fragen nicht bei jeder Erhebung anders zu formulieren.

Zu einzelnen Items

(1) Auf der Ebene isoliert betrachteter Einzelitems ist immer Kritik möglich, weil nie wirklich sicher sein kann, dass alle Befragten die Formulierung einheitlich und im Sinne des Intendierten verstehen. Es ist deshalb geboten, Interpretationen nicht nur auf einzelne Items zu stützen, sondern auf den Gesamtzusammenhang einer größeren Zahl von Aussagen. Zum Beispiel sollte ein Urteil über die Religiosität von Befragten nicht allein auf deren religiöse Selbsteinschätzung gestützt werden (was in der KMU auch nicht geschah). 

(2) Die in der 6. KMU erhobenen „religiösen Wirksamkeitserfahrungen“ sind überwiegend als außeralltägliche Ausnahmeerlebnisse in der Begegnung mit Transzendentem gefasst. In künftigen Studien wäre es wünschenswert, ein stärkeres Augenmerk auf alltägliche religiöse Erfahrungen niederschwelligen Charakters zu legen. Solches in treffende Itemformulierungen zu bringen, ist allerdings nicht leicht. Beispielsweise zielte eine Formulierung wie „Ich habe schon erlebt, dass ich von Musik so ergriffen war, dass mir die Tränen kamen“ zwar auf ein Erlebnis, das religiös verstanden werden kann. Andere würden derartiges hingegen lediglich als ästhetische Erfahrung qualifizieren, weshalb eine generelle Subsumtion unter das Label „religiöse Erfahrung“ problematisch wäre.

(3) Die Zustimmungsbereitschaft zu der Aussage „Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“ ist in den letzten Jahren rapide zurückgegangen. Im KMU-Auswertungsheft heißt es dazu: „Das kann man als Indiz dafür werten, dass derzeit nicht nur eine Krise der Organisation Kirche zu beobachten ist, sondern der tradierte christliche Gottesglaube selbst in eine Krise geraten ist.“11 Die Aussage kann wie die Diagnose eines Glaubensschwundes gelesen werden. Es ist aber auch eine alternative Lesart möglich: Es könnte auch sein, dass sich mehr Befragte als früher dagegen sträuben, ihren Glauben in einem traditionellen offenbarungstheologischen Bekenntnissatz auszusprechen, weil sie seine metaphysisch-ontologische Ausdrucksweise und/oder Erfahrungsferne ablehnen. Die Nichtzustimmung wäre bei ihnen nicht Ausdruck eines Schwundes, sondern eines Wandels des christlichen Glaubens, nämlich seiner Entkonfessionalisierung oder Entdogmatisierung. Auch nach dieser Deutung des Befunds ist der christliche Gottesglaube in seiner traditionellen konfessionellen Form in eine Krise geraten.

(4) Das angeführte Item hatte innerhalb der 6. KMU exklusiv die Funktion, das Verhältnis der Befragten zu spezifisch christlichen Glaubensgehalten anzuzeigen. Für künftige Studien wäre es wünschenswert, dazu noch weitere Items aufzunehmen, die weniger den Charakter einer Zustimmung zu theologischen Bekenntnisformeln haben und insofern offener sind. Denkbar wären Aussagen wie „Was Jesus über Gott gesagt hat, ist mir wichtig“ oder „Die christliche Botschaft bedeutet mir etwas“.

Zum Gesamtbefund der „Säkularisierung“

(1) Es gab bei der 6. KMU weder eine programmatische säkularisierungstheoretische Prämisse noch eine entsprechende hidden agenda. Dazu waren offenkundig die Vorschlags- und Aushandlungsprozesse bei der Zusammenstellung des Fragebogens zu komplex und der Kreis der beteiligten Wissenschaftler:innen hinsichtlich der theoretischen Prägungen und Präferenzen zu heterogen.

(2) „Säkularisierung“ und „Individualisierung“ bzw. Rückgang und Transformation von Religion schließen einander nicht aus. Sie können als Facetten des gleichen gesellschaftlichen Prozesses angesehen werden und hängen insofern eng zusammen. Eine Transformation der sozialen Gestalt von Religion findet unbestreitbar statt (u.a. in Form einer „Individualisierung“). Ihre Wahrnehmung schließt nicht zwingend die Annahme ein, der „Gesamthaushalt“ von Religion bleibe im Zuge dessen konstant, so dass die Transformation generell als „Nullsummenspiel“ zu gelten habe.  

(3) Der KMU-Befund einer beträchtlichen Säkularisierung in Deutschland ist unstrittig. Er ergibt sich aus der Zusammenschau vieler religionsbezogener Indikatoren. Diskutieren kann man das Ausmaß des festgestellten Rückgangs von Religiosität, weil seine Bemessung zwangsläufig von der Methodik der Erfassung bzw. den konkreten Items abhängt. Dass „blinde Flecken“ bei der Erhebung oder auch bei der Interpretation des Befundes dazu geführt haben könnten, die Verbreitung von Religiosität zu unterschätzen, kann nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Ebenso wenig ist prinzipiell auszuschließen, dass es weitere soziale Phänomene geben könnte, die auch sinnvoll als „religiös“ klassifiziert werden könnten und die nicht abnehmen. Es muss im Einzelfall diskutiert werden, wie sich dazu jeweils der empirische Forschungsstand darstellt und unter welchen Prämissen es analytisch angebracht ist, sie dem Phänomenbereich „Religiosität“ zuzurechnen.

(4) Generell ist es wenig sinnvoll, die Verbreitung von Religiosität in einem absoluten und umfassenden Sinne quantifizieren zu wollen. Es ist lediglich möglich zu sagen: Mit einer bestimmten Erfassungsmethodik ergibt sich diese oder jene Verbreitung, und diese hat – so erfasst – in den letzten Jahren zu- oder abgenommen. Ein Streit um die „absolute Verbreitung“ von Religiosität unabhängig von der Erhebungsmethode verlässt die Grundlagen empirischer Forschung und ist insofern fruchtlos. Bewusst behaupten Wunder/Jacobi daher nicht etwa einen „Rückgang der Religiosität“ insgesamt und absolut, sondern lediglich einen „Rückgang von Religiosität“12, man ergänze: von bestimmten empirisch messbaren und in der KMU gemessenen Formen von Religiosität. Diese an sich selbstverständliche erkenntnistheoretische Einschränkung blieb in der öffentlichen Debatte über die KMU-Befunde oftmals unberücksichtigt.

Damit ist ein Zwischenstand des kollegialen Gesprächs zwischen einem Religionssoziologen und einem Theologen anlässlich der aktuellen KMU dokumentiert. Getragen war und ist dieses Gespräch von der Überzeugung, dass religionsdiagnostische Kontroversen nicht als Streit zwischen Soziologie und Theologie stilisiert werden sollten, bei denen die eine Disziplin die andere grundsätzlich zu belehren oder zu widerlegen hätte. Das ist schon aufgrund der Meinungsvielfalt innerhalb der Disziplinen unsinnig – und weil hier wie dort teils mehr, teils weniger ernstzunehmende Positionen zu finden sind. Gleichwohl spielen in solche Kontroversen auch unterschiedliche Fächer- und Methodenkulturen hinein, etwa das Gegenüber von Geistes- und Sozialwissenschaften.13 Diese Fächerdifferenz ist zwar nicht zu überspringen; aber sie kann im interdisziplinären Dialog fruchtbar gemacht werden, wie der vorliegende Text zu zeigen versucht.


Martin Fritz und Edgar Wunder, 26.05.2024

 

Anmerkungen

  1. Martin Fritz, „Triumph der Säkularisierung. Skeptische Rückfragen an die Erstauswertung der EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU VI)“, ZRW 87,1 (2024), 3–24.
  2. Fritz, „Triumph der Säkularisierung“, 21.
  3. Fritz, „Triumph der Säkularisierung“, 23.
  4. Edgar Wunder/Christopher Jacobi, „Kontroversen zur Religiosität und Säkularität in Deutschland. Antworten zu den „skeptischen Rückfragen“ von Martin Fritz zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD“, ZRW 87,2 (2024), 83–102.
  5. Vgl. Wunder und Jacobi, „Kontroversen“, 98.
  6. Vgl. Wunder und Jacobi, „Kontroversen“, 84.
  7. Vgl. Wunder und Jacobi, „Kontroversen“, 90.
  8. Vgl. Wunder und Jacobi, „Kontroversen“, 90.
  9. Wunder und Jacobi, „Kontroversen“, 102.
  10. Vgl. Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2023), 35.
  11. EKD, Wie hältst du’s mit der Kirche?, 33.
  12. Wunder und Jacobi, „Kontroversen“, 86.
  13. Vgl. Martin Fritz, „So wenig Religion? Ungereimtheiten in der KMU wecken Zweifel“, Zeitzeichen 25,3 (2024), 19–21.

Ansprechpartner

Foto Dr. Martin FritzPD Dr. theol. Martin Fritz
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
Auguststraße 80
10117 Berlin