Esoterik

Neue Spiritualität, Ganzheitlichkeit, kosmisches Bewusstsein – das sind Schlüsselbegriffe, die im Kontext moderner Esoterik immer wieder auftauchen. Ein Blick in die Regale größerer Buchhandlungen zeigt ein verwirrendes Bild unterschiedlicher Themen und Praktiken: von Pendeln, Tarotkarten und I Ging über Heilsteine, Bachblüten und Reiki bis hin zu Channeling-Kontakten mit außermenschlichen Wesenheiten (z. B. Engel, Aufgestiegene Meister). Gefragt sind vor allem esoterische Heilungspraktiken und magische Techniken für die individuelle Lebensbewältigung. Fast immer geht es in den esoterischen Offerten um ein „Ur-Wissen“ der Menschheit, das nun dem Einzelnen für die eigene Praxis erschlossen werden soll („Hexenwissen im Alltag für jedefrau und jedermann“). Vermittelt werden sollen dabei einerseits unmittelbare, stark auf individuelle Bedürfnisse abgestimmte und angeblich auf höherer Erkenntnis basierende Praktiken, die der menschlichen Sehnsucht nach innerem Wohlbefinden, Harmonie und persönlicher Heilung entgegenkommen. Andererseits geht es um eine Selbstermächtigung durch Magie im Sinne von Kraftübertragung.

Kritische Beobachter sprechen inzwischen von einem „Milliardenmarkt Esoterik“. Die geschätzten Umsatzzahlen (20 bis 25 Milliarden Euro pro Jahr in Deutschland) sind mitunter beträchtlich, besonders im Bereich kommerzialisierter Beratungsangebote, die über Telefon, Internet, durch thematische Zeitschriften oder crossmediale Angebote (z. B. AstroTV) vermittelt werden. Darüber hinaus gibt sich die moderne Esoterik durch Bücher und Zeitschriften als literarisches Phänomen zu erkennen, das sich zwischen Unterhaltung und Lebenshilfe bewegt. Nach Umfrageergebnissen sind es vor allem Frauen zwischen 30 und 40 Jahren, die sich von der Esoterik angezogen fühlen. Auffällig ist auch eine „Esoterisierung der Gesellschaft“: Esoterische Themen sind ihrem ursprünglich subkulturellen Nischendasein entwachsen und zu einem gesellschaftlich-kulturellen Faktor in der modernen Erlebnis- und Wohlfühlwelt aufgestiegen.

Anspruch

Der Begriff Esoterik leitet sich vom griechischen Adjektiv esōterikós ab, was wörtlich übersetzt „zum inneren Kreis gehörig“ bedeutet. In antiken Philosophenschulen war damit ein Wissen gemeint, das nur für einen Kreis von Eingeweihten bestimmt war und als „Insider-Wissen“ einer Art „Geheimhaltung“ unterlag. Das Substantiv „Esoterik“ ist wesentlich jünger und meint dasselbe wie der etwa zeitgleich aufgekommene Begriff Okkultismus. Letzterer umfasst die diversen überlieferten okkulten und magischen Praktiken und Vorstellungen (z. B. Astrologie, Alchemie, Magie, Mantik, Hexentum, Rosenkreuzertum, Theosophie).

Vom Wesen und Begriff her bezeichnet Esoterik also ursprünglich ein exklusives Sonderwissen, ein Elitedenken, ein Geheimwissen von „Eingeweihten“. Die „inneren“ Kreise einer Gemeinschaft, denen das „esoterische Wissen“ vorbehalten ist, definieren sich als „Orden“, „Logen“, „Esoterische Schulen“ usw. Zu den esoterischen Überlieferungen gehören u. a. die Lehren von Gnosis, Hermetik, Kabbala, Alchemie, Rosenkreuzertum u. a. m. Seit den letzten 150 Jahren steht die Rezeption dieser Überlieferungen im Zeichen des Okkultismus: Diese Weltanschauung versucht, die traditionellen esoterischen Anschauungen und Praktiken auf der Basis des modernen Monismus und Evolutionismus u. a. als Ausdruck einer esoterischen „Ur-Weisheit“ hinter den verschiedenen Religionen zu vereinheitlichen. Das klassische Beispiel dafür ist die „Theosophie“ Helena Petrovna Blavatskys (1831 – 1891). Dieser Entwurf gilt als „Stammmutter der modernen Esoterik“. Damit erweist sich die Esoterik als universalreligiöse Bewegung, die beansprucht, über den traditionellen Religionen zu stehen bzw. diese auf einer neuen Ebene als „Bruderschaft der neuen Menschheit“ zusammenzuführen.

Aspekte gegenwärtiger Esoterik

Mit der Popularisierung der Esoterik seit den 1980er Jahren im Rahmen der sog. „Esoterik-Welle“ ergibt sich der paradoxe Vorgang, dass ein ursprünglich elitäres Wissen öffentlich, für die breite Masse zugänglich, kommerzialisiert und marktförmig wurde. Es bildete sich ein entsprechender Esoterik-Markt, wobei sich das Spektrum des zur Esoterik Gerechneten stetig erweitert. Als Teil der modernen „Erlebnisgesellschaft“ wurde Esoterik auf diese Weise inzwischen auch in Deutschland zu einem beachtlichen Geschäftszweig. Dabei sind allerdings zwei Ebenen zu unterscheiden: die kommerzialisierte Szene freier „spiritueller“ Angebote und ein dementsprechendes „Publikum“ oder eine „Klientel“, die Ebene organisierter Weltanschauungsgruppen (Rosenkreuzer, Templer, Theosophen, Anthroposophen, Spiritisten u. a.).

Während Letztere zahlenmäßig kaum vom „Esoterik-Boom“ profitieren, vollzieht sich die eigentliche religiös-weltanschauliche Dynamik auf dem „freien Religionsmarkt“ kommerzieller Anbieter. Nur bezogen auf diese Ebene kann inzwischen von Esoterik als Alltagsphänomen die Rede sein. Die elitären esoterischen „Sucher“ und Weltanschauungsgemeinschaften neben der marktförmigen Esoterik distanzieren sich meist von dieser Art der Popularisierung (z. B. Vertreter der Anthroposophie).

Als Publikumsreligion begegnet die Esoterik v. a. im Zusammenhang entsprechender (Ratgeber-)Literatur und Zeitschriften sowie in Gestalt deutschlandweit stattfindender Esoterik-Messen (Verkauf von Gegenständen und Dienstleistungen) mit begleitenden Vortrags- und Workshop-Angeboten. Hier kann es auch zur „Klientenreligion“ kommen: Der Nutzer dieser Angebote bleibt nicht bloß Konsument, sondern wird zum Klienten, von dem ein höheres Maß an zeitlichem und finanziellem Engagement erwartet wird. In der Esoterik gibt es – im Unterschied zu fest strukturierten Gruppen – keine verbindliche Mitgliedschaft. So kann man von einer Esoterik-Szene sprechen: Es gibt offene Zugangsbedingungen, aber keine verbindlichen Lehrinhalte bzw. kein gemeinsames Credo. Von besonderer Bedeutung sind sog. Events, die das Wir-Gefühl steigern sollen.

In der gegenwärtigen Esoterik wird neben den Rationalitätskriterien des wissenschaftlichen und weltanschaulichen Denkens eine besondere und höhere Erkenntnisform postuliert, die sich in der Vergangenheit „angeblich nur einem Innenkreis von entsprechend Sensiblen, Erleuchteten, spirituell Fortgeschrittenen oder Eingeweihten erschlossen hat oder heute erschließt“ (Grom 2002). Daraus ergeben sich folgende esoterische Überzeugungen und Haltungen:

  • Antiinstitutionelle Affekte: In der Esoterik dominiert eine stark antiinstitutionelle Haltung. Sie richtet sich gegen die etablierten Wissenschaften und gegen eine rational geprägte Weltdeutung. Dabei lassen sich Vorbehalte gegenüber der wissenschaftlichen Medizin und eine große Offenheit gegenüber nichtkonventionellen Heilweisen feststellen. Der stark individualisierte, konsum- und entdeckungsfreudige Religionsvollzug in der Esoterik ist verbunden mit einer Absage an organisierte und traditionelle Formen von Religion. Er entspringt einem tiefen Misstrauen gegenüber institutionalisierten Formen insgesamt. Daher ist innerhalb der Esoterik eher von Spiritualität oder generell vom Spirituellen die Rede.
  • Esoterische Verschwörungsmythen: Die Haltung in der Esoterik ist seit den 2000er Jahren stark bestimmt von Vorbehalten und Misstrauen gegenüber den Medien und der Politik insgesamt. Dabei kommt es zum Rückgriff auf mitunter obskure Quellen und durch höhere Erkenntnisse vorgenommene geschichtliche (Um-)Deutungen. So soll die angeblich ursprünglich in der Bibel enthaltene Reinkarnationsvorstellung von christlichen Konzilien entfernt worden sein. Einzelne Protagonisten haben in Verbindung mit der um 2001 entstandenen sog. Truther-Bewegung alternative esoterische Videoportale geschaffen, die angeblich vom „Mainstream“ unterdrückte Erkenntnisse zu Gesundheitsthemen und zur „Hintergrundpolitik“ präsentieren.
  • Suche nach dem Überwissen bzw. Ur-Wissen der Menschheit: Die moderne Esoterik geht davon aus, dass das Wissen, auf das sie sich beruft, im kollektiven Unbewussten der Menschheit „gespeichert“ ist. Es muss vom Menschen angezapft und individuell bewusst gemacht werden.
  • Erlebnisreligiosität: Die Esoterik thematisiert sehr stark den Innenbereich des Menschen. Sein Ich soll erweitert, vertieft und spirituell entfaltet werden. Gegenüber den Dogmen der großen Religionen betont die Esoterik die Erfahrungsdimension von Religiosität. Sie offeriert in Seminaren und Workshops Einübungen in unzähligen Formen und Angeboten.
  • All-Einheit als Ausgangspunkt und Ziel (Monismus): Prägend für die moderne Esoterik ist ein monistischer Grundzug: Dinge oder Ereignisse an sich gibt es nicht. Die Unterschiede zwischen Gott, Mensch, Tier- und Pflanzenwelt werden als nur graduell aufgefasst. Alles sei lediglich Erscheinungsform fließender Energie.
  • Anthropozentrische Weltsicht: Der Mensch wird gedacht als spirituelles Wesen, dessen innerster Kern göttlich ist. Er ist Motor und Impuls für die spirituelle Evolution. Die Esoterik hält Ausschau nach Methoden und Praktiken, die dem Menschen höhere Erkenntnis, Bewusstseinserweiterung und spirituelles Wachstum ermöglichen (spiritueller Evolutionismus).
  • Westlich geprägte Karma- und Reinkarnationsvorstellungen: Im Unterschied zu östlichen Reinkarnationsvorstellungen ist hierbei der Gedanke eines pädagogischen Evolutionismus leitend: Der Mensch soll über mehrere, aufeinander folgende irdische Leben dazulernen, sich höher entwickeln und vervollkommnen. Mithilfe karmischer „Gesetzmäßigkeiten“ wird alles menschliche Leid, Krankheit etc. als selbst verursacht gedeutet. Das Kontinuum der wiederholten Erdenleben ist das Ich, der menschliche Geist oder die ewige Individualität. Ziel ist die geistige Welt. Das Karma begründet den Schicksalsrahmen eines Lebens. Was dem Menschen in diesem Leben schicksalhaft widerfährt, ist durch ein früheres Leben verursacht.

Heutige Esoterik hat ein Sensorium für gesamtgesellschaftliche Krisenlagen entwickelt. Im Zuge der Pandemie 2020/2021 zeigten sich bei sog. Anti-Corona-Demonstrationen überraschende Allianzen von Esoterikern und rechtsextremen Ideologien, die besonders über Verschwörungserzählungen milieu- und szeneübergreifend wirken. Diese Tendenzen rechter Esoterik erweisen sich als anschlussfähig an unterschiedliche antidemokratische, antisemitische Strömungen und Initiativen (Pöhlmann 2021).

Einschätzung

Die nachhaltige Verbreitung und Akzeptanz der Esoterik hängen mit religiösen und gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten zusammen, ohne die sie nicht zu verstehen und zu deuten sind. Das Entstehen eines „Religions-Marktes“ freier Anbieter, ein „freies religiöses Unternehmertum“ ist weit über die Esoterik-Szene hinaus ein Kennzeichen gegenwärtiger „Religiosität“. Prognosen hängen also damit zusammen, wie weit künftig dieser „Religions-Markt“ expandiert, bei dem esoterische Angebote eine zentrale Rolle spielen.

Die inzwischen inflationären esoterischen Überzeugungen und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft verdeutlichen, dass hier tiefe menschliche Sehnsüchte nach Heil und Heilung berührt werden. Die Esoterik in ihrer aktuellen Erscheinungsform ist zudem Ausdruck von Pluralismus und Individualismus, resultiert aus der Suche nach ichbezogenen Formen und Erlebnissen, außergewöhnlichen Erfahrungen sowie nach unverbindlichen und auf persönliche Bedürfnisse zugeschnittenen Formen von Religiosität.

Im direkten Gespräch wird von esoterischer Seite die christliche Position als „dogmatisch“, rational oder insgesamt als überholt betrachtet. Intuitive Erlebnisse bzw. Fähigkeiten werden im Zuge eines „Erfahrungsfundamentalismus“ sehr schnell als Beweis für die eigene esoterische Wahrheit ins Feld geführt, womit man sich kritischen Anfragen zu entziehen versucht. Dennoch sollten im kritischen Dialog auch die Defizite esoterischer Religiosität und die Differenzen im Gottes- und Menschenbild aus christlicher Perspektive zur Sprache kommen. Protest ist insbesondere angezeigt:

  • wenn religiöse oder magische Erfahrungen für den Einzelnen zum verbindlichen Glaubensinhalt erklärt und damit Abhängigkeiten von einem Medium geschaffen werden;
  • gegenüber überzogenen Heilungsversprechen oder gegenüber Deutungen, die das jetzige menschliche Schicksal auf angeblich „karmische Verfehlungen“ früherer Erdenleben zurückführen wollen;
  • gegenüber einer sehr oft propagierten und auch eingeforderten Methodengläubigkeit, die von einer automatischen, weil magischen Wirksamkeit einzelner Techniken ausgeht;
  • gegenüber „von höherer Ebene“ vorgenommenen esoterischen Deutungen, die im Blick auf Menschen, die zu Opfern von Verbrechen und Naturkatastrophen werden, zynische Aussagen treffen und jegliches menschliche Mitgefühl vermissen lassen.

Gefordert wäre hier auch eine Untersuchung der jeweiligen esoterischen Angebote: Was können sie leisten und was nicht? Welche Risiken sind damit verbunden? Verfügt der Anbieter über eine entsprechende Qualifikation, oder beruft er sich lediglich auf eine höhere intuitive Erkenntnis? Esoterische Angebote stehen in der Gefahr, die Gebrochenheit menschlicher Existenz zu verharmlosen oder generell zu ignorieren. Manche der Offerten, die versprechen, den Menschen mit Vollmacht auszustatten, können diesen tatsächlich nur überfordern, wenn sie vorgeben, alle Kräfte der Heilung und Erlösung lägen im Menschen selbst. Man gewinnt den Eindruck, dass in Teilen heutiger Esoterik auch eine ideologisierte Form von Leistungsoptimierung des Menschen angestrebt wird.

In der Esoterik ist zwar viel vom Göttlichen die Rede; es stellt sich jedoch die Frage, ob hier – wie in traditionellen Religionen – „ein Gott eintritt“ oder ob in der Esoterik-Bewegung nicht vielmehr der Mensch das höchste Wesen bleiben will und soll.

Matthias Pöhlmann, August 2021


Literatur

Grom, Bernhard (2002): Hoffnungsträger Esoterik?, Regensburg.

Gutierrez, Cathy (Hg., 2015): Handbook of Spiritualism and Channeling (Brill Handbooks on Contemporary Religion, Bd. 9), Leiden / Boston.

Hanegraaff, Wouter J. (Hg., 2005): Dictionary of Gnosis and Western Esotericism, 2 Bde., Leiden / Boston 2005.

Hanegraaff, Wouter J. / Forshaw, Peter J. / Pasi, Marco (Hg., 2019): Hermes Explains. Thirty Questions about Western Esotericism, Amsterdam.

Hempelmann, Reinhard (Hg., 2007): Christliche Identität, alternative Heilungsansätze und moderne Esoterik, EZW-Texte 191, Berlin.

Hempelmann, Reinhard / Pöhlmann, Matthias (2008): Esoterik als Trend. Phänomene – Analysen – Einschätzungen, EZW-Texte 198, Berlin.

Pöhlmann, Matthias / Jahn, Christine (Hg., 2015): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, hg. im Auftrag der VELKD, Gütersloh, 561 – 765.

Pöhlmann, Matthias (2009): Gut beraten bei AstroTV? Esoterik-Fernsehen in der Kritik, EZW-Texte 205, Berlin.

Pöhlmann, Matthias (2021): Rechte Esoterik. Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich vermischen, Freiburg i. Br.

Ruppert, Hans-Jürgen (2005): Suche nach Erkenntnis und Erleuchtung – moderne esoterische Religiosität, in: Hempelmann, Reinhard u. a. (Hg.): Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2. Aufl., Gütersloh, 201 – 303.

Zinser, Hartmut (2009): Esoterik. Eine Einführung, München.


Internet

https://www.astrotv.de

https://www.engelmagazin.de

https://www.esoterikmesse.de

https://nuoviso.tv

https://www.questico.de

https://www.spirituelle.info

(Abruf der Internetseiten: 18.6.2021)