100 Jahre Azusa-Street-Erweckung
Die Pfingstbewegung blickt in diesen Tagen auf die Anfänge ihrer Geschichte zurück. Vom 25. bis 29. April 2006 findet das „Azusa Street Centennial“ in Los Angeles statt. Anlässlich der Feierlichkeiten zum hundertjährigen Jubiläum sollen sich die „zahlreichen Strömungen der Pfingstbewegung (...) vereinen, sich das reiche Erbe der Bewegung wieder gemeinsam vor Augen (...) halten, die Vielfalt der Bewegung (...) feiern, während gleichzeitig deren Einheit demonstriert wird“. Es gilt, den „dynamischen Fortschritt der ersten 100 Jahre der Bewegung“ wieder ins Gedächtnis zu rufen und „die Antwort der Bewegung auf das von Gott in der Azusa Street gegebene Mandat“ zu überprüfen.
Zahlreiche leitende Personen der weltweiten Pfingstbewegung haben ihre Mitwirkung zugesagt. Das pentekostal-charismatische Christentum wird sich in seinen facettenreichen Ausprägungen zeigen: als klassische Pfingstbewegung, als innerkirchliche charismatische Erneuerung, als konfessionsübergreifende und -unabhängige Gemeindegründungs- und Missionsbewegung, die in Theologie und Frömmigkeit eine große Nähe zur Pfingstbewegung aufweist, jedoch in organisatorischer Distanz zu ihr bleibt.
Das Fest in Los Angeles wird freilich auch deutlich werden lassen: Die verschiedenen pentekostalen Bewegungen sind durch unverkennbare Prozesse der Verkirchlichung und Fragmentierung bestimmt. Die erfahrene Institutionalisierung verstärkt die Sehnsucht nach neuen Erweckungen (revivals) durch den Heiligen Geist. Das Urbild, auf das sich die pentekostale Erweckungssehnsucht bezieht, ist mit einem Ort und einer Adresse verbunden: Los Angeles, Azusa Street 312.
William J. Seymour (1870-1922) und die Anfänge der Pfingstbewegung
Am 22. Februar 1906 kam der Afroamerikaner und schwarze Heiligungsprediger William J. Seymour nach Los Angeles. Zuerst predigte er in einer Heiligungs-Gemeinde. Er vertrat dort die Lehren seines aus der methodistischen Heiligungsbewegung kommenden Lehrers Charles F. Parham. Dieser hatte das Zungenreden als das „anfängliche Zeichen“ (initial pysical sign oder initial evidence) für das Getauftsein mit dem Heiligen Geist bezeichnet und war zu dieser Erkenntnis aufgrund seiner Beschäftigung mit der Bedeutung der Glossolalie in der Apostelgeschichte gekommen, u.a. aufgrund von Apg 2,4.1 Am 1. Januar 1901 hatte er der 18-jährigen Agnes Ozman die Hände aufgelegt. Nach intensiven Gebetsbitten und begleitet von ekstatischen Bewusstseinszuständen hatte sie danach die ersehnte Taufe im Heiligen Geist erlebt.
Für die Heiligungschristen in Los Angeles waren Praxis und Lehre der Geistestaufe jedoch neu. Sie lehnten sie ab. Seymour wollte bereits nach Houston zurückreisen, als ihm die Möglichkeit eröffnet wurde, zu bleiben. Seit dem 9. April 1906 entwickelten sich seine Heiligungsversammlungen zum Ausgangspunkt einer überaus wirkungsvollen weltweiten Verbreitung pfingstlerischer Frömmigkeit in bald eigenständigen Gemeinden, Gemeindeverbänden, missionarischen Unternehmungen, Glaubenswerken und Bibelschulen. Die über einen Zeitraum von ca. drei Jahren durchgeführten Gebets- und Heilungsversammlungen in einer ausrangierten Methodistenkirche wurden zum Vorbild pfingstlicher Erweckung. In Häufigkeit und Länge der Versammlungen entsprach das, was in der Azusa Street erlebt wurde, den Erweckungsversammlungen von Wales. Die Versammlungen fanden von morgens 10 Uhr bis Mitternacht, zum Teil noch länger statt. In zahlreichen eindrucksvollen Zeugnissen ist das religiöse Ergriffensein beschrieben worden. Das dort erlebte „Pfingsten“ äußerte sich in der ganzen Vielfalt ekstatischen Verhaltens: in unkontrollierten Zuckungen von Kopf, Gesicht und Schultern, im Umfallen, Schreien, Weinen und im Zur-Ruhe-Kommen und Durchströmtwerden von einer wunderbaren Macht. Außergewöhnliche Heilungen und visionär-prophetische Eingebungen begleiteten die Ekstase. Als Höhepunkt wurde die Zungenrede erlebt, die bald als Fremdsprache (Xenoglossie) gedeutet wird. Die jeweiligen Auslegungsworte unterstrichen vor allem das gesteigerte endzeitliche Selbstverständnis der entstehenden Pfingstbewegung. „Fast jeder, der anfängt, in Zungen zu reden, sagt zuerst: ‚Jesus kommt bald! Macht euch bereit!’“2 Noch im April 1906 kam das „Feuer Gottes“ zu vielen anderen Gemeinden.
Die Faszination ekstatischer Erfahrungen
Während Seymour die zentrale Figur der dreieinhalbjährigen Erweckungsversammlungen war, kam Frank Bartlman (1871-1935) eine Schlüsselrolle für die schnelle und wirkungsvolle Ausbreitung der Pfingstbewegung zu. In einem Vorwort zu Bartlmans Buch „Feuer fällt in Los Angeles“ („How Pentecost came to Los Angeles“, erstmals 1925 erschienen, dt. 1983) schrieb der international bekannte Pfingsttheologe Vinson Synan: „Bis zu jenem Zeitpunkt war Bartlmans ganzes Leben praktisch eine Vorbereitung auf die Rolle gewesen, die er als Berichterstatter über die Ereignisse in der Azusa-Straße erfüllen sollte. Es ist anzunehmen, dass sich die Pfingstbewegung ohne seine Berichterstattung nicht so schnell und auch nicht so weit ausgebreitet hätte. Als Journalist ‚informierte‘ er nicht nur die Welt über die Pfingstbewegung, sondern trug auch in großem Maße dazu bei, daß sie sich ‚formierte‘.“3
Berichte über die damaligen Erfahrungen unterscheiden sich kaum von dem, was heute über pfingstlich-charismatische Erweckungen wie den Toronto-Segen oder die Pensacola-Erweckung berichtet wird: „Männer und Frauen wurden unter der Macht niedergeworfen rings in der Halle“, eine Dame „lag stundenlang auf dem Fußboden, während zeitweise der himmlischste Gesang von ihren Lippen strömte“.4 Dass beim Übergang dieser Bewegung in andere kulturelle Kontexte – wie zum Beispiel im Jahre 1907 nach Indien – die religiöse Ergriffenheit noch weiter gesteigert werden konnte, geht aus entsprechenden Schilderungen hervor. In Indien begannen mit dem Geist getaufte Mädchen „in dem quälenden Bewußtsein ihrer Sündennot sich schrecklich zu schlagen. Ungefähr 30 Mädchen kamen auf einmal in einen Trancezustand, stundenlang bewußtlos für diese Welt, einige sogar 3 bis 4 Tage. Während dieser Zeit sangen sie, beteten, klatschten in die Hände, rollten umher oder saßen still.“5
An außergewöhnlichen religiösen Erfahrungen hatte auch schon die damalige Medienöffentlichkeit großes Interesse. So berichtete die „Los Angeles Daily Times“ vom 18. April 1906 auf ihrer ersten Seite über das merkwürdige Treiben: „Seltsame Laute ausstoßend und mit einem Gestammel, das, so könnte man meinen, kein vernünftig denkender Sterblicher versteht – so stellt sich die neueste religiöse Sekte in Los Angeles dar. Die Zusammenkünfte finden in einem baufälligen Schuppen in der Azusa-Straße statt und die Anhänger dieser unheimlichen Lehre praktizieren die fanatischsten Riten, verkünden die unsinnigsten Theorien und arbeiten sich in ihrem absurden Glaubenseifer in einen Zustand verrückter Begeisterung hinein.“6 Die kritische Berichterstattung weckte bei vielen die Neugier und trug dazu bei, dass immer mehr Menschen angezogen wurden und die Erweckung sich in einem noch dramatischeren Tempo verbreiten konnte. Bartlmans Tagebuch und seine Publikationen (Apostolic Faith) enthielten die ausführlichsten und wohl auch vollständigsten Berichte über das, was tatsächlich in der Azusa-Straße vor sich ging. Mit dem Öffentlichwerden wuchs zugleich die Faszination und Strahlkraft dieses ekstatischen Aufbruchs. Man pilgerte nach Los Angeles und trug die Erfahrungen in alle Welt. Für das Bewusstsein der damaligen Pastoren wurde hier durch das Blut Jesu die Rassentrennung aufgehoben. Der die Schranken der Rassen überwindende Charakter der Pfingsterfahrung blieb in der Anfangsphase der Bewegung ein wichtiges Merkmal, verblasste aber in dem Maße, wie sich verschiedene schwarze und weiße Pfingstkirchen bildeten.7
Interpretationen
Walter J. Hollenweger sieht in der Azusa-Street-Erweckung den realgeschichtlichen Zugang zur Geschichte der Pfingstbewegung und gibt ihr für seine Deutung des gesamten Phänomens die Präferenz. Die Erfahrungen von Agnes Ozman im Kontext der Bibelschule stellen für ihn den ideengeschichtlichen Hintergrund dar, dem er nur sekundäre Bedeutung zuerkennen will.8 Daran richtig ist fraglos, dass die Azusa-Street-Erweckung für die Ausbreitung der „neuen Frömmigkeit“ das größere Gewicht haben dürfte und hier die Pfingsterfahrung in ihrer die Schranken von Kultur und Rasse überwindenden Ausprägung erlebt wurde. Freilich verlegt nur eine schematisierende Darstellung den Beginn der Pfingstbewegung auf das Wirken des Predigers Seymour oder des Bibellehrers Parham. Am Anfang der pfingstkirchlichen Bewegungen stand keine überragende Gründerpersönlichkeit mit theologischem Profil und organisatorischem Geschick wie Martin Luther, Jean Calvin, John Wesley oder Nikolaus Graf von Zinzendorf. Charles Parham, methodistischer, und William J. Seymour, ehemals baptistischer Heiligungsprediger, waren Leute, die ganz aus dem frömmigkeitsmäßigen Erbe des nordamerikanischen Erweckungschristentums kamen und nur in einer lebensgeschichtlich begrenzten Phase im Zusammenhang der Entstehung und Verbreitung der Pfingstbewegung bedeutsam wurden. Schon im Herbst 1906, als Parham die Erweckungsversammlungen der Azusa Street besuchte, distanzierte er sich scharf von Seymours Versammlungen. Personenfixierung wurde erst später zu einem Merkmal einzelner Ausprägungen pfingstlerischer Frömmigkeit. Am Anfang stand ein individuelles und gemeinschaftliches religiöses Ergriffensein, das von den Geistgetauften als Durchbruch zu einer tieferen Glaubensgewissheit und zu größerer Freiheit zum christlichen Zeugnis gedeutet wurde und in der Dynamik der Heiligungsfrömmigkeit lag. Jedoch wurde dieser Durchbruch offensichtlich von Anfang an mit dem schematisierenden Deutungsmuster der Geistestaufe und der mit ihr verbundenen Konzentration der Geisterfahrung auf die Glossolalie reflektiert.
Soziologisch gesehen waren es eher die unteren Schichten und einfachen Leute, die in den ersten Versammlungen erreicht wurden. Viele dieser Menschen suchten eine tiefere Begegnung mit dem auferstandenen Christus, wollten die Gegenwart des Heiligen Geistes in den Charismen (vor allem Glossolalie, Heilung, Prophetie; vgl. 1. Kor 12) erleben und dadurch zum missionarischen Zeugnis bevollmächtigt werden.
Pfingstfrömmigkeit und Heiligungsbewegung
Ihre historischen Wurzeln hat die Erweckung der Azusa Street in der Heiligungs- und Erweckungsfrömmigkeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, für die u.a. ein starker missionarischer Antrieb (Großstadt- und Massenevangelisation), die Bildung eines erwecklichen Laienchristentums und die Betonung der Hoheit und Unabhängigkeit der Einzelgemeinde (Kongregationalismus und Independentismus), verbunden mit dem Ideal der Glaubenstaufe, charakteristisch waren.9 Die Sehnsucht nach Glaubensgewissheit und Erweckung, der Hunger nach einem Mehr an Vollmacht in der missionarischen Praxis sowie die Suche nach Überwindung einer allzu nüchternen Glaubensfrömmigkeit waren für Entstehung und Entwicklung der Pfingstbewegung zentrale Momente. Man war offen dafür, dass sich göttliche Kraft in besonderen enthusiastischen und ekstatischen Erfahrungen manifestiert, die den Bereich des Rationalen übersteigen und als „übernatürlich“ und wunderbar erlebt und angesehen wurden. In diesem Zusammenhang hat die Glossolalie in der Pfingstbewegung zentrale Bedeutung erlangt, so dass die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehende Bewegung als „Zungenbewegung“ bezeichnet werden konnte. Das Anliegen pfingstlicher Erweckung kommt in solcher Begrifflichkeit freilich nur reduziert und ausschnitthaft zur Geltung.
Donald Dayton hat in einer wichtigen Arbeit über die theologischen Wurzeln des Pfingstlertums dargelegt, dass in ihm vier fundamentale Lehren vertreten werden, die allesamt auch auf pastorale Handlungszusammenhänge bezogen sind: Erlösung, Heilung, Taufe im Heiligen Geist und die Erwartung der Wiederkunft Christi.10 Seine Darlegungen unterstreichen die enge Verbindung zwischen Heiligungs- und Pfingstfrömmigkeit, die auch in der Person Seymours erkennbar wird. Dass die Wiege der Pfingstbewegung in der Heiligungsbewegung steht, die sich in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts aus dem Methodismus entwickelt hatte, ist für ihr Verständnis historisch wie theologisch fundamental. Anliegen und Themen der Pfingstbewegung waren bereits in der Heiligungsbewegung vorgebildet. Das Flehen und Bitten um ein neues Pfingsten war Kennzeichen der Heiligungsfrömmigkeit und wurde zum bleibenden Charakteristikum pentekostaler Erweckungen. Die typisch pfingstlerischen Erfahrungen (Glossolalie, Heilungen, Visionen) wurden bereits im Zusammenhang der Heiligungsbewegung gesucht und gefunden. Ebenso vollzog sich die begriffliche Explikation dieser Erfahrungen unter der Chiffre der Geistestaufe bereits hier. Die pfingstliche Erfahrung des Durchströmtwerdens von einer heilenden, emporhebenden und zugleich erschütternden Kraft wurde hier erlebt.
Die Heiligungsversammlungen waren das Urbild der pentekostalen Gottesdienste. Ihr interkonfessioneller bzw. „überkonfessioneller“ Charakter gewann in der Geschichte der Pfingstbewegung weitere Entfaltung. Die von einzelnen Forschern betonten „ökumenischen Anfänge“ der Pfingstbewegung sind aus der „Überkonfessionalität“ des amerikanischen Erweckungschristentums zu begreifen. Zwar entstand die Pfingstbewegung in einer gewissen zeitlichen Parallelität zur ökumenischen Bewegung, der ökumenische Gedanke verbreitete sich jedoch jenseits und außerhalb der Pfingstbewegung.
Der interkulturelle Beitrag der Pfingstbewegung steht im Zusammenhang mit dem Wirken William J. Seymours und ist zugleich den Impulsen der methodistischen Erweckungsfrömmigkeit verdankt. Die ältesten Pfingstgemeinden waren Heiligungsgemeinden. In der Logik dieser Überlegungen liegt auch, dass das Pfingstlertum keinen neuen religiösen Entwurf im engeren Sinn liefert. Es ist keine neue christliche Religion oder sektiererische Neubildung, sondern in seinen vielfältigen Ausformungen vor allem als gesteigerte Erweckungsfrömmigkeit zu begreifen. Die komperativische Struktur der Frömmigkeit bezieht sich auf die Intensität der als geistgewirkt verstandenen emotionalen Ergriffenheit und führt gleichzeitig dazu, dass der Absturz in krasse Entfernungen von Realität – zum Beispiel durch einen überzogenen Wunderglauben oder die Meinung, es sei aufgrund der Gabe der Glossolalie für Missionare entbehrlich, die Sprache des Landes zu lernen, in dem sie ihren Dienst ausüben – sehr nahe liegen konnte. Angesichts des Anspruchs der Pfingstbewegung, geistgewirkte Erweckung am Ende der Zeit zu sein, mussten die Verzerrungen des Christlichen in ihr besonders krass ins Auge fallen.
Die genannte Annahme, dass die Pfingstfrömmigkeit im wesentlichen gesteigerte Erweckungsfrömmigkeit ist, kann aus verschiedenen Perspektiven – historisch, phänomenologisch und theologisch – erläutert und für das Verstehen der gegenwärtig beobachtbaren Ausbreitung pentekostaler-charismatischer Frömmigkeit aufgezeigt werden.
Pfingstbewegung und Moderne
Die wirkungsvolle Ausbreitung der pentekostalen Bewegung (mehrere hundert Millionen Mitglieder) resultiert u.a. aus ihrer Kommunikationsfähigkeit in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. In der westlichen Welt ist ihre Attraktivität u.a. in ihrem Protestcharakter und ihrer Verbindung mit der religiösen Alternativkultur begründet. Anders ist dies in Afrika und Lateinamerika, wo sie an Elemente der einheimischen Kultur anknüpfen, diese positiv aufgreifen, christlich interpretieren und umformen kann. Hier hat die Pfingstbewegung offensichtlich eine nicht zu unterschätzende soziale Bedeutung: Stärkung des Selbstvertrauens, Erschließung der eigenen Emotionalität, Interesse an Bildung und sozialer Neugestaltung. Ihr Glaubensverständnis ist konservativ und antimodernistisch geprägt, zugleich profitiert sie von der gesellschaftlichen Pluralisierung und beschleunigt auf ihre Weise Modernisierungsprozesse, z.B. durch die Nutzung der Medien. In verschiedenen Kontexten hat die Pfingstbewegung unterschiedliche Wirkungen.
• Mit dem Anliegen der Geistestaufe geht die Pfingstbewegung auf das die Moderne bestimmende Bedürfnis nach Sichtbarkeit und Greifbarkeit der religiösen Erfahrung ein. Sie ist darin gewissermaßen „moderner“ als ein rationalistisch gefärbter Wort-Fundamentalismus, der den Beweis des Glaubens allein rückwärtsgewandt durch ein Verständnis der Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift zu erreichen versucht. Sie ist mit diesem in vielfacher Hinsicht verbunden, vertritt in zahlreichen ihrer Ausprägungen dessen dogmatische Positionen und verhält sich zu ihm insofern inklusiv. Sie bietet dem modernen Menschen jedoch nicht nur ein vermeintlich gesichertes und keiner Anfechtung ausgesetztes Wissen, sondern außerdem (!) ein konkretes Erlebnis- und Erfahrungsangebot an. Beide Bewegungen können als Reaktionen auf den Säkularismus und seine kulturellen, kirchlichen und theologischen Folgen interpretiert werden. Die Betonung der Glossolalie in der Pfingstbewegung – später in der charismatischen Bewegung – ist auch ein Protestphänomen gegen ihre weitgehende kirchliche Ausklammerung und profitiert von den Defiziten der modernen Zivilisation und den theologischen Arrangements und Kompromissen mit ihnen.
• Mit ihrer Frömmigkeit antworten pfingstkirchliche Bewegungen auf die Vergewisserungssehnsucht der Menschen in einem durch religiöse und weltanschauliche Vielfalt geprägten Lebenskontext. Die einfache Antwort, die sie dem verunsicherten Zeitgenossen und Christen geben, lautet: „Du musst nicht die Vielfalt der Möglichkeiten ausprobieren oder intellektuelle Anstrengungen zur religiösen Identitätsfindung unternehmen. Du kannst Gottes Kraft konkret erfahren, indem du Jesus bzw. den Heiligen Geist anrufst und sichtbare und greifbare Zeichen des Berührtwerdens durch ihn erfährst (Zungenreden / Sprachengebet, Heilungen, Visionen und prophetische Eindrücke ...). Die Vergewisserung wird in sichtbaren Geistmanifestationen gesucht und gefunden, die als unzweideutige Zeichen der göttlichen Gegenwart angesehen werden. Sie sprechen dabei die emotionale Seite des Menschen an und bieten ihm stützende Gemeinschaftserfahrungen. Sie drängen auf eine persönliche, unmittelbare Glaubenserfahrung in bewusster Abkehr von institutionell und rituell vorgegebenen Glaubensformen. Das Ausleben der Glaubensemotion soll kein Tabu sein, sondern in Anwesenheit anderer seinen Ausdruck finden. Skepsis gegenüber einem bloßen „Kopfchristentum“ und einem kirchlichen Gewohnheitschristentum verbindet sich mit der Offenheit und dem Hunger nach erlebbarer Transzendenz.
• Pfingstler geben der Dimension des Wunders bzw. des Wunderbaren einen zentralen Platz in ihrer Glaubenspraxis. Sie protestieren gegen ein Wirklichkeits- und Glaubensverständnis, das auf Modernitätsverträglichkeit bedacht, geheimnisleer geworden ist. Die Erfahrungsarmut des Alltags in säkularen Industriegesellschaften und der weitgehende Ausfall einer gelebten christlichen Spiritualität verschaffen diesem Anliegen entsprechende Resonanz. Deshalb kommt es nicht von ungefähr, wenn überstrapazierte Akademiker, Ingenieure und von den Zwängen der Leistungsgesellschaft bestimmte Geschäftsleute das Beten in nicht-rationaler Sprache (Glossolalie) für sich entdecken und ihr einseitiges, auf Berechenbarkeit konzentriertes Wirklichkeitsverständnis korrigieren, oder wenn angesichts der Grenzen der modernen Medizin der Kampf gegen Krankheiten durch das Heilungsgebet beherrschend in den Vordergrund tritt und sich mit der Erwartung verbindet, dass der wirklich Glaubende das Wunder auch empfängt.
• Die Pfingstfrömmigkeit konzentriert sich neben ihren evangelikalen Anliegen (Bekehrung / Wiedergeburt, Gemeinschaft, Mission) auf Erfahrungen und Phänomene (Heilungen, Visionen, ekstatische Bewusstseinszustände), die nicht einer einzelnen spezifischen Religion angehören, sondern religionsüberschreitenden Charakter haben und ein wesentliches Moment und Motiv für die globale Kommunikationsfähigkeit pentekostaler Bewegungen sein dürften. Zugleich integriert die Pfingstfrömmigkeit Elemente von Volksreligiosität in die eigene Glaubens- und Frömmigkeitspraxis.
Die neue Zusammensetzung der Weltchristenheit
Im Eingehen der pfingstlich-charismatischen Frömmigkeit auf gegenwärtige Zeitströmungen und anthropologische Bedürfnisse liegt ihre Stärke, aber auch ihre Schwäche. Ihre Wirkungen sind nicht selten ambivalent: aufbauend und zerrüttend, verbindend und ausgrenzend, helfend zu einem Glauben an Christus und Flucht in eine heile Welt und ein gesetzlich verstandenes christliches Leben. Gefährdungen sind etwa ein überzogener Wunderglaube, der die Offenheit gegenüber dem göttlichen Willen verstellt, oder die Suche bzw. Sucht nach außerordentlichen Geisterfahrungen, die blind macht für die Zweideutigkeit aller christlichen Erfahrung und Gebrochenheit der christlichen Existenz. Wenn die Ausgießung des Geistes, wie sie in der pfingstlich-charismatische Frömmigkeit erlebt wird, selbst als Endzeitgeschehen im engeren Sinn begriffen wird, ist der Weg zu einem elitären Selbstverständnis vorprogrammiert, das wahrnehmungsunfähig ist für das Wirken des Heiligen Geistes in vielfältigen Ausdrucksformen. In dem Maße, in dem ein Bewusstsein beherrschend wird, die zentrale Erweckung der Endzeit zu sein, im gleichen Maße werden fundamentalistische Motive wirksam: Abgrenzung gegenüber anderen Christen, Unmittelbarkeitspathos, weltbildhafter Dualismus, Dämonisierung des Alltags verbunden mit übertriebenen exorzistischen Praktiken, fragwürdige politische Allianzen. Hier können auch Steigerungen erfolgen, die pentekostal geprägte Einzelgruppen in Versektungsprozesse führen, obgleich grundsätzlich zwischen Erweckungschristentum in seinen zahlreichen Ausdrucksformen einerseits und christlichen Sondergemeinschaften und Sekten andererseits deutlich unterschieden werden sollte.
Die rasante Ausbreitung pfingstlich-charismatischer Bewegungen macht diese zu einer Art christlicher Trendreligion. Man muss allerdings über Europa hinausblicken, um dies mit entsprechender Deutlichkeit zu erkennen. Gleichwohl tragen die pfingstlichen Bewegungen auch im europäischen Kontext mit dazu bei, die historischen Monopole des lateinisch-katholischen Südens und des protestantischen Nordens zu beenden. Das Bewusstsein, Teil einer weltweiten und in rasanten Wachstumsprozessen befindlichen Bewegung zu sein, ist jedoch für alle Pfingstler und Charismatiker fundamental. Sie verstehen die dramatische Ausbreitung ihrer Glaubenspraxis als sichtbares Zeichen göttlichen Segens. Geistestaufe und Geisterfüllung werden dabei nicht allein als persönliche Pfingsterfahrung und Bevollmächtigung zum christlichen Zeugnis verstanden, sondern auch als eine Strategie göttlichen Handelns in endzeitlicher Erweckungsperspektive.
Wie immer man die Anliegen und Ausdrucksformen pentekostaler Bewegungen bewerten mag, nicht zu bestreiten ist, dass sie entgegen aller Prophezeiungen ihrer Kritiker in hundert Jahren die Zusammensetzung der Weltchristenheit grundlegend verändert haben. Statistiken zeigen es und demographische Entwicklungen legen es nahe: Das Wachstum der Pfingstbewegung führt zu einem nicht zu übersehenden Wandel der christlich religiösen Landschaft. Die Pentekostalisierung vor allem des Protestantismus – teilweise auch des Katholizismus – ist ein nicht zu übersehendes Phänomen. In Lateinamerika, Afrika und Asien ist es eng verflochten mit gesellschaftlichen Modernisierungs- und Pluralisierungsprozessen. Schon die Komplexität der religiösen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und die Vielgestaltigkeit pentekostaler Bewegungen sprechen dagegen, diese einlinig als Beispiel für religiös-kulturellen Kolonialismus zu interpretieren. Solche Sichtweisen mögen im Blick auf Einzelphänomene durchaus Plausibilität besitzen, können aber die Resonanz, die die Pfingstbewegung beim einfachen Volk gefunden hat, nicht erklären. Das „nächste Christentum“ ist eines, in dem Visionen, Wunder, exorzistische Praktiken und ekstatische Manifestationen eine wesentliche Rolle spielen und das in der südlichen Hemisphäre sein Zentrum hat.11 Rückblickend auf das 20. Jahrhundert wird man wohl konstatieren müssen, dass die Entstehung der Pfingstbewegung für die Christentumsgeschichte ein ähnlich folgenreiches Ereignis war wie die der ökumenischen Bewegung. Ob und wie beide Bewegungen in ein sinnvolles und fruchtbares Verhältnis zueinander treten können, ist bis heute eine weithin offene Frage und Zukunftsaufgabe. Es gibt nur wenige Ereignisse, die die Entwicklung des globalen Christentums im gleichen Maße beeinflusst haben wie die Azusa-Street-Erweckung.12
Reinhard Hempelmann
Anmerkungen
1 Klaude Kendrick bemerkt dazu, dass das Ergebnis der Bibelstudien zum Thema Zungenrede die „einmütige Schlussfolgerung [war], dass das Zungenreden der biblische Beweis für die Taufe des Heiligen Geistes sei“. Vgl., ders., Vereinigte Staaten von Amerika, in: Walter J. Hollenweger (Hg.), Die Pfingstkirchen, Stuttgart 1971, 29.
2 Belege bei Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland, Hannover 1957, 9ff, hier 15.
3 Vinson Synan, Frank Bartlman und sein Verhältnis zur Azusa-Straße, in: Frank Bartlman, Feuer fällt in Los Angeles, Hamburg 1983, 7-24, hier 10.
4 Belege bei Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland, Hannover 1957, 9ff.
5 Ebd., 18.
6 Frank Bartlman, Feuer fällt in Los Angeles, 217.
7 Vinson Synan, The Holiness-Pentecostal Tradition. Charismatic Movements in The Twentieth Century, Second Edition, Grand Rapids, MI, 1997, 167ff.
8 Walter J. Hollenweger, Priorities in Pentecostal Research: Historiographie, Missiologie, Hermeneutics and Pneumatology, in: A. B. Jongeneel, Experiences of Spirit, Frankfurt a. M. 1991, 8-12. Ders., Charismatisch-pfingstliches Christentum, Göttingen 1997, 33ff.
9 Vgl. Hans-Diether Reimer, Art. Pfingstbewegung, in: Wörterbuch des Christentums, hg. von Volker Drehsen u. a., Gütersloh 1988, 961-963.
10 Vgl. Donald W. Dayton, Theological Roots of Pentecostalism, Grand Rapids, Michigan 1987, 21ff.
11 Vgl. Philip Jenkins, The Next Christendom. The Coming of Global Christianity, Oxford 2003.
12 So mit Recht Vinson Synan, Frank Bartman und sein Verhältnis zur Azusa-Straße, a.a.O., 7.