20 Jahre staatliche Beobachtung der Scientology-Organisation
Im Sommer 1997, also vor 20 Jahren, beschloss die Konferenz der Innenminister des Bundes und der Länder, die Scientology-Organisation durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen.1 Das baden-württembergische Landesamt nahm dies zum Anlass für einen Rückblick, eine aktuelle Bestandsaufnahme sowie eine Einschätzung zur zukünftigen Entwicklung dieser umstrittenen Gruppe. Wir dokumentieren hier eine leicht gekürzte Fassung des Textes, der im Original im Internet nachgelesen werden kann (www.justiz-bw.de/pb/site/jum2/node/4385602/Lde/index.html).
Aufnahme der Beobachtung
Die „Scientology-Organisation“ (SO) besteht in Deutschland seit 1970. In der Öffentlichkeit blieb sie lange Zeit weitgehend unbeachtet. Das änderte sich in den frühen 1990er Jahren, als sie mit fragwürdigen Anwerbepraktiken zunächst eine Phase der Expansion einleitete. Ihre Ziele und Gefahrenpotentiale waren damals vielen Menschen nicht bekannt. Die Organisation warb so zeitweise zahlreiche neue Mitglieder und erlangte Einfluss auf eine Reihe mittelständischer Betriebe. Wegen der oft rüden und konfliktträchtigen Methoden wuchs die Zahl der Beschwerden aus der Bevölkerung. Daraus entstand die politische Diskussion, ob die SO den Bestand der Demokratie gefährden könnte.
Im Jahr 1996 kam eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Verfassungsschutzbehörden nach Sichtung zahlreicher Scientology-Schriften zu dem Ergebnis, dass die SO politisch relevante Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verfolgt. Diese Schriften sind bis heute gültig. So ist ein Ziel, dass nur vermeintlich perfekt funktionierende Scientologen („Nichtaberrierte“) Bürgerrechte haben sollten. Die Gesellschaft gilt als geisteskrank („aberriert“) und kann aus SO-Sicht nur durch Scientology als allein funktionierendes System gerettet werden. Die Organisation sieht sich als Elite, deren Aufgabe es ist, die Gesellschaft zu „klären“ (d. h. säubern), Gegner kompromisslos zu bekämpfen und Widerstand gegen Scientology aus dem Weg zu räumen. Den SO-Schriften liegt ein polarisierendes Freund-Feind-Denken zugrunde, das Intoleranz und eine aggressive Einstellung fördert. Die oft feindselig-kämpferisch formulierten Richtlinien brandmarken Kritiker als Verbrecher und „Unterdrücker“, mit denen sich Scientology im „Krieg“ wähnt.
Auf der Grundlage solcher Ergebnisse und Bewertungen stellte die Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder am 6. Juni 1997 fest, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz gegeben sind. Zugleich beschloss sie die bundesweite Beobachtung.
Erste Ergebnisse
Durch die nachrichtendienstliche Arbeit wurde bald deutlich, dass die Behauptungen von Scientology, über 30 000 Mitglieder in Deutschland und über Millionen Anhänger weltweit zu verfügen, weit übertrieben waren und sind. In der Bundesrepublik hatte sie in den späten 1990er Jahren etwa 5000 bis 6000 Mitglieder; heute sind es noch etwa 3000 bis 4000. Weltweit zählt Scientology heute unter 100 000 Anhänger, wobei der harte Kern der Anhängerschaft etwa 40 000 bis 60 000 Personen umfassen dürfte.
Diese Erkenntnisse sorgten in relativ kurzer Zeit für Klarheit über die tatsächliche Größe und Situation der SO in Deutschland. Dadurch wurden manch übersteigerte Szenarien in Bezug auf eine gemutmaßte Unterwanderung von Politik und Wirtschaft korrigiert, die zuvor diskutiert worden waren. Zugleich bestätigte die Beobachtung aber auch, dass die Warnungen vor Scientology berechtigt waren. Die SO verfolgt bis heute eine aggressive Expansionsstrategie. Vor allem mittels getarnter Anwerbeversuche und durch ihren Wirtschaftsverband „World Institute of Scientology Enterprises“ (WISE) will sie langfristig politische Macht und Kontrolle über Politik, Wirtschaft und Medien erlangen.
Gewachsene Probleme und krisenhafte Entwicklungen
Die von Scientology stereotyp behauptete Expansion lässt sich zumindest in Deutschland nicht bestätigen. Neben einem schleichenden Mitgliederschwund gab es in den letzten Jahren Hinweise auf eine krisenhafte Entwicklung der SO, die selbst vor ihrem Stammland USA nicht haltmacht, etwa im Hinblick auf einen Rückgang bei den Einnahmen und den dortigen Mitgliederzahlen. Im Jahr 2008 manifestierte sich eine Führungskrise, als der Ausstieg hochrangiger Funktionäre öffentlich wurde, die in der Folge schwere Vorwürfe gegen das Management unter SO-Führer David Miscavige erhoben. Ein Vorwurf lautete, im oberen Management sei ein Klima der Gewalt und Einschüchterung entstanden. Die SO bestritt dies, geriet aber immer wieder in die Defensive. Auch ihre Werbung mit Prominenten, z. B. aus der Unterhaltungsbranche, funktioniert inzwischen offenbar weniger gut als früher. Stattdessen kann der schlechte Ruf von Scientology für ihre prominenten Vertreter zur Belastung werden.
Neben der langfristigen breiten Aufklärung über die Praktiken von Scientology ist die Entwicklung des Internets ein wesentlicher Grund, warum die SO inzwischen wohl nicht nur in Deutschland große Probleme bei der Mitgliederwerbung hat. Informationen verbreiten sich heute online mit hoher Geschwindigkeit weltweit. Die Organisation hat daher vor allem mit dem Mittel des Urheberrechts immer wieder versucht, eine Art Kontrolle über Scientology-kritische Informationen im Netz zu erlangen. Es ist ihr aber bis heute nicht gelungen, dieses Medium zu kontrollieren.
Durch all das ist in Deutschland der Druck auf den bestehenden Mitgliederstamm, Spenden zu leisten und Scientology in der Gesellschaft zu verbreiten, beständig gestiegen. Dies hat in der Scientologen-Szene zu Unzufriedenheit und dazu geführt, dass sich in den letzten Jahren in einem schleichenden Prozess Mitglieder zurückgezogen oder ganz von der SO abgewandt haben. Andere sind in Abspaltungen abgewandert, die zu einer Alternative für Anhänger des 1986 verstorbenen Scientology-Gründers L. Ron Hubbard geworden sind. Dadurch ist die eher heterogene Szene der sogenannten freien Scientologen in den letzten Jahren stärker geworden. Diese vertreten zwar mehr oder weniger noch die Lehre des SO-Gründers, werfen aber dem SO-Management vor, es handle nicht mehr im Sinne des Gründers. Die SO duldet jedoch keine Abweichung und brandmarkt diese Aussteiger als Verräter.
Finanzkraft und politische Beeinflussungsversuche
Trotz der geschilderten Probleme ist Scientology nach wie vor eine überaus finanzstarke Organisation. Ehemalige Funktionäre haben die gesamten Finanzreserven auf etwa drei Milliarden US-Dollar beziffert. Die ergiebigsten Geldquellen weltweit sind Spendeneinkünfte und die Vermarktung von Publikationen, Seminaren und Lizenzen. Wegen ihrer finanziellen Reserven und ihres hohen Organisationsgrades kann Scientology auch länger anhaltende Krisen durchstehen. Zudem gibt es ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass die SO mit hohem finanziellen Aufwand vor allem in den Vereinigten Staaten Lobbyismus bei Politikern betreibt. Durch unbegründete Behauptungen über angebliche Diskriminierungen ihrer Mitglieder in Deutschland konnte die SO in der Vergangenheit wiederholt die US-Diplomatie zu Interventionen zugunsten von Scientology bewegen.
Die Beobachtung hat ergeben, dass Scientology im Bundesgebiet von jeher sehr unterschiedlich stark vertreten gewesen ist. Nach der deutschen Wiedervereinigung ist es der SO nicht gelungen, in den neuen Ländern nachhaltige Strukturen aufzubauen. In verschiedenen Bundesländern gibt es bis heute weder Scientology-Niederlassungen noch eine nennenswerte Mitgliederzahl. In anderen Ländern, zum Beispiel in Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen, verfügt Scientology jedoch über gefestigte Strukturen und eine größere Zahl von Mitgliedern. Etwa die Hälfte aller Scientologen in Deutschland lebt in Baden-Württemberg und im Freistaat Bayern.
Vor Gericht gescheitert
Nach Beginn der Beobachtung 1997 verhielt sich die SO-Führung zunächst abwartend, weil sie wohl von einer nur vorübergehenden Tätigkeit des Verfassungsschutzes ausging. Schließlich erhob die „Scientology Kirche Deutschland e. V.“ Klage auf Einstellung der Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Das Verwaltungsgericht Köln wies die Klage 2004 ab; die SO legte dagegen Berufung ein. 2008 entschied das Oberverwaltungsgericht Münster, dass die Beobachtung der SO durch das BfV rechtmäßig sei, und wies die Berufung der SO in vollem Umfang zurück. Zur Begründung wurde angeführt, dass sich in den zum Teil nicht allgemein zugänglichen SO-Richtlinien zahlreiche Belege dafür fänden, dass Scientology eine Gesellschaft anstrebe, in der zentrale Werte der Verfassung – Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Recht auf Gleichbehandlung – außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden sollen. Zudem stellte das Gericht fest, dass die verstärkten Expansionsaktivitäten der SO eine Gefahrenlage begründeten, die auch den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel rechtfertige. Diese Entscheidung ist rechtskräftig.
Ideologische Erstarrung
Bis heute will die SO ihre politisch-extremistischen Ziele nach außen verbergen oder stellt sie öffentlich in Abrede. Nach innen vertritt sie diese aber ohne Umschweife gegenüber ihren Anhängern und beruft sich dabei starr auf die Schriften ihres Gründers L. Ron Hubbard. Es ergibt sich das Bild einer ideologisch hermetisch abgeschlossenen Organisation, die ihr totalitäres Programm auf die Gesellschaft ausdehnen will. Diese Ausrichtung hängt stark mit der Person ihres internationalen Führers David Miscavige zusammen. Solange er der SO vorsteht, dürfte sich daran nichts ändern.
Seit einigen Jahren muss die SO nicht nur in Deutschland gegen einen negativen Trend kämpfen, der sich vor allem in einem überaus schlechten Ruf und langfristig in einem schleichenden Mitgliederschwund zeigt. Dabei droht der Organisation in Deutschland langfristig die Überalterung, wenn es ihr nicht gelingen sollte, in größerem Umfang junge Mitglieder zu werben. Derzeit scheint offen, ob es der Organisation in Deutschland gelingen kann, den für sie negativen Trend umzukehren. Scientology wird hauptsächlich auf Tarnangebote setzen, die vor allem auf den Unternehmensbereich und auf Jugendliche zugeschnitten sind. Erhöhte Aufmerksamkeit zwecks Gefahrenabwehr erfordern daher weiterhin besonders der Jugendschutz sowie die Bereiche Unternehmensberatung und IT-Dienstleistungen.
Anmerkungen
- Den Jahresberichten der Landesämter für Verfassungsschutz ist zu entnehmen, dass Scientology heute noch in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Sachsen-Anhalt unter Beobachtung steht, darüber hinaus beim Bundesamt für Verfassungsschutz.