2012 - die globalisierte Apokalypse aus lateinamerikanischer Perspektive
Antje Gunsenheimer / Monika Wehrheim / Mechthild Albert / Karoline Noack (Hg.), 2012 – die globalisierte Apokalypse aus lateinamerikanischer Perspektive (Interdisziplinäre Studien zu Lateinamerika, Bd. 1), V & R unipress / Bonn University Press, Göttingen 2017, 204 Seiten, 30,00 Euro.
Blickt man auf das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zurück, so stellt man fest, dass nach dem raschen Abklingen der Erregung um den Jahrtausendwechsel eine neue Endzeiterwartung in das öffentliche Bewusstsein trat. Die Vorstellung vom angeblichen Ende des Maya-Kalenders im Dezember 2012 verband sich mit optimistischen und pessimistischen Erwartungen um ein Weltenende oder eine grundlegende Transformation der Welt. Diese Heils- oder Unheilserwartungen beschäftigten nicht nur Europäer und Nordamerikaner, sondern weite Teile der Welt; so griffen auch chinesische Medien das Thema auf. Oftmals wurde der vermeintliche Weltuntergang als „erster Weltuntergang des Internetzeitalters“ bezeichnet. Auffällig hinsichtlich der medialen Rezeption des Datums erscheint, dass es schnell kommerziell und letztlich weitgehend losgelöst vom Bezug auf die Kultur der klassischen Maya, deren (angebliche) Kosmovision als ursprünglicher Referenzpunkt diente, vermarktet wurde. Es sei hier etwa auf Roland Emmerichs Katastrophenfilm „2012“ verwiesen, auf dessen Filmplakat ein buddhistischer Mönch die Zerstörung eines tibetischen Klosters durch eine gewaltige Flutwelle beobachtet.
Das Interdisziplinäre Lateinamerika-Zentrum der Universität Bonn nahm den ausgebliebenen Weltuntergang des Jahres 2012 zum Anlass, eine Vortragsreihe über apokalyptische Vorstellungen in Lateinamerika zu veranstalten. Daraus ging das vorliegende Buch hervor. Dem Anspruch des Zentrums folgend vereint der Band Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und wirft sowohl Blicke in die Vergangenheit als auch in die zeitgenössische Welt. Den Kern des Bandes bilden Beiträge zum Phänomen 2012. Beiträge, die sich mit anderen Formen apokalyptischen Denkens in Lateinamerika befassen, kommen ergänzend hinzu. Unter diesen befinden sich auch zwei literaturwissenschaftlich ausgerichtete Aufsätze, die apokalyptische Motive in moderner mexikanischer Literatur untersuchen. Endzeitvorstellungen aus indigenen Kontexten greifen Antje Gunsenheimer in „Prophetie und Heilserwartung unter den kolonialzeitlichen yukatekischen Maya“ (67-96) und Kerstin Nowack in „Geschichten vom Ende der Welt in den Anden“ (97-114) auf. Der erstgenannte Beitrag beschreibt, wie die indigene Bevölkerung Yukatans unter dem Eindruck von Kolonisation und katholischer Mission mit den sog. „Chilam Balam Büchern“ eine neue hybride Textgattung in lateinischer Alphabetschrift schuf, die apokalyptische Inhalte aufweist. Kerstin Nowack befasst sich mit der Frage, was Endzeiterwartungen im Rahmen einer Ontologie ausmacht, die Gottheiten nicht als stabile Entitäten versteht wie in der klassischen westlichen Metaphysik, sondern als stetig im Wandel befindliche Wesenheiten.
Auch wenn viel über diese hoch interessanten Beiträge geschrieben werden könnte, soll der Fokus der Besprechung auf den das sog. Phänomen 2012 betreffenden Beiträgen liegen (Einleitung, drei Beiträge und ein Interview).
Die Einleitung (Antje Gunsenheimer/Monika Wehrheim, Der 21. Dezember 2012 – Die globale Inszenierung eines Weltuntergangs, 9-15) weist bereits auf unterschiedliche Rezeptionsweisen des „Phänomens 2012“ weltweit hin.
Der Bonner Altamerikanist Sven Gronemeyer befasst sich in seinem Beitrag „Die abgesagte Apokalypse: Der Blick der vorspanischen Maya auf das Ende des 13. Bak’tun und das autochthone Konzept von Prophetie“ (45-66) damit, ob sich bei den klassischen Maya tatsächlich ein direkter Bezug auf das fragliche Datum nachweisen lässt und ob dieser im Horizont eines Prophetiekonzepts verstanden werden kann. Diese Fragen erklären sich dadurch, dass das Datum und seine Verknüpfung mit einer Weltuntergangsvorstellung erst in den 1960er Jahren durch den amerikanischen Maya-Forscher Michael D. Coe, der die besondere Bedeutung des Tages letztlich deduktiv begründete, in den (populär)wissenschaftlichen Diskurs eingespeist wurde, von wo das Datum dann in die Esoterik-Szene diffundierte. Gronemeyer zeigt auf, dass sich das Datum tatsächlich auf zwei fraglos authentischen Schriftträgern aus der Zeit der klassischen Maya nachweisen lässt. Es stellt sich nun aber die Frage, warum die Schöpfer dieser Monumente auf ein Datum verweisen, das für sie in einer fernen Zukunft liegt. Dies scheint nach Gronemeyers Analyse weniger mit einem apokalyptischen Denken im abendländischen Sinne in Verbindung zu stehen als vielmehr mit der Herrscherideologie der klassischen Maya und deren Nutzung von kalendarischen Daten und Zeitkonzepten zur Legitimation und Repräsentation.
Der Historiker und Altamerikanist Lars Frühsorge, der bereits früher u. a. auch im Materialdienst über das Phänomen 2012 geschrieben hat (1/2012, 5-13), thematisiert in seinem Beitrag „Apokalypse 2.0: Das ‚Das Phänomen 2012‘ und die modernen Maya“ (115-139) nicht nur Aneignungsformen und Reaktionen innerhalb der Maya-Bevölkerung in Guatemala auf das Phänomen 2012, sondern weist auch auf dessen Ursprünge in der nordamerikanischen Maya-Forschung und dessen globale Verbreitung hin. Er stellt fest, „dass die heutigen Maya das Datum [21.12.2012] weitaus weniger dramatisch interpretieren als die im 20. Jahrhundert auf der Halbinsel Yukatan und in Guatemala dokumentierten apokalyptischen Prophezeiungen für das [christliche] Jahr 2000“ (131). Liest man das Buch mit besonderem Interesse für die ausgebliebene „Maya-Apokalypse“ im Jahr 2012, so stellt dieser Beitrag den zentralen Text des Bandes dar.
In einem kurzen, etwas launig eingefärbten Beitrag schildert Markus Melzer, wie er die Tage zwischen dem 20. und dem 23. Dezember 2012 in der Gegend der berühmten Ruinenstätte Palenque im Süden Mexikos verbrachte und was er dabei beobachtete (179-183). Palenque ist der Ort, an dem sich die bekannte Grabplatte befindet, die Erich von Däniken in „Erinnerungen an die Zukunft“ als Darstellung eines Raumfahrers deutete. Es handelt sich somit um einen Ort, der schon vor dem Hype um das Jahr 2012 in esoterischen Diskursen präsent war. Melzer beschreibt den pragmatischen Umgang der vom Tourismus lebenden Anwohner mit der Situation. Leider bleiben die Beschreibungen der Touristen vage, eine analytische Darstellung bleibt aus, die etwa Motivationen und Erwartungen der Reisenden näher in den Blick nehmen würde. Was bedeutet es, wenn Melzer resümiert: „In diesen zwei Tagen nach dem abgesagten Weltuntergang reisen … die vielen amerikanischen Rucksacktouristen ab … Viele von ihnen vermitteln den Eindruck der Ernüchterung, wenn nicht gar der Enttäuschung, eines Spektakels beraubt zu sein“ (183)? Ist es die Ernüchterung darüber, dass eine erhoffte spirituelle Erfahrung ausblieb, oder darüber, dass eine voyeuristische Intention nicht befriedigt wurde?
Ein Interview von Antje Gunsenheimer und Monika Wehrheim mit Nikolai Grube (in Bonn lehrender Spezialist für Schrift und Kultur der klassischen Maya) schließt das Buch ab (185-197). Grube sieht den Hype um den angeblichen Weltuntergang stark von traditionellen Medien befeuert. Hierbei hat er auch durchaus verdienstvolle Zeitschriften wie National Geographic im Blick (186), die wohl der Versuchung nicht widerstehen konnten, über das Thema Aufmerksamkeit zu erheischen, dabei aber ein Bild von der klassischen Maya-Kultur zeichneten, das in mancher Hinsicht eher dem Forschungsstand Mitte des 20. Jahrhunderts entspricht als heutigen Forschungsdiskursen (191). Das Interview geht auch der Frage nach, wie heute in Guatemala und Mexiko lebende Maya das Phänomen 2012, das von außen an sie herangetragen wurde, rezipiert und sich ihm gegenüber positioniert haben. Hierbei ist zu beachten, dass für die überwiegende Zahl das Datum letztlich gar keine Bedeutung besaß (187), außerdem, dass die Revitalisierung des Maya-Kalenders und damit verbundener Riten dem Hype um das Phänomen 2012 vorausging und nicht von diesem abgeleitet werden kann. Diese Revitalisierung ist vor dem Hintergrund der infolge der Kriegsverbrechen gegen die Maya-Bevölkerung in den mittelamerikanischen Bürgerkriegen der 1970er und 1980er Jahren entstandenen politischen Maya-Bewegung zu verstehen (189f).
Die Publikation bietet eine vielschichtige Aufarbeitung des Phänomens 2012, die sicherlich im deutschsprachigen Raum zur Standardreferenz zum Thema werden wird. Der Band sollte aber nicht auf diesen Aspekt reduziert werden, da er deutlich breitere Einblicke in apokalyptisch geprägte Denkweisen in Lateinamerika bietet. Erfreulicherweise entspricht die Qualität der Abbildungen dem hohen Anspruch der Texte, sodass der Leser nicht nur ein hoch informatives, sondern auch ein ästhetisch schönes Buch in Händen hält.
Harald Grauer, Sankt Augustin