30 Jahre Alevitische Gemeinde Deutschland
(Letzter Bericht: 6/2019, 229f) Unter dem Motto „Einheit in Vielfalt“ feierte die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) Ende September 2019 ihr 30-jähriges Bestehen. Rund 17 000 Gäste folgten in der Lanxess Arena in Köln einer imposanten „künstlerisch-ästhetischen Reise“ durch kulturelle Welten mit viel Musik und verschiedenen künstlerischen Einlagen, Inszenierungen und Reden. Die Eröffnung machte der Generalsekretär der AABF, Ufuk Çakır. Festliche Ansprachen hielten die Staatsministerin für internationale Kultur- und Bildungspolitik im Auswärtigen Amt, Michelle Müntefering, der stellvertretende Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Joachim Stamp sowie die Kölner Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes.
Die AABF mit Sitz in Köln ist eine der größten Migrantenselbstorganisationen in Deutschland. Sie vertritt als einziger Dachverband der hiesigen Alevitinnen und Aleviten die Interessen ihrer über 160 Gemeinden mit deren 20-25 000 Mitgliedern. Die AABF ist vielfältig aktiv, um gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und zu stärken, sie bezieht die „Vielfalt“ ihres Jubiläumsmottos durchaus auch auf die gesamtgesellschaftliche Pluralität. Staatlich geförderte Demokratie- und Integrationsprojekte sowie Qualifizierungsmaßnahmen für ehrenamtliches Personal gehören zu den Projektangeboten. Die „Delil Bildungsakademie“ arbeitet daran, sich für die Zukunft aufzustellen, um die alevitische Lehre und gesellschaftspolitische Themen aus alevitischer Sicht stärker in der Zivilgesellschaft zu verankern.
Die AABF hat keine Vorläufer- oder übergeordnete Organisation in der Türkei, wie überhaupt die freie und kreative Entfaltung des Alevitentums in der Form ein „Diasporaphänomen“ ist, da die Aleviten in der Türkei in der Geschichte und bis heute Benachteiligung, Diskriminierung und Verfolgung erfahren.
Vor diesem Hintergrund erhalten die Errungenschaften der Alevitischen Gemeinde besonderes Gewicht. Seit der Aufgabe der takiye (Schweigegebot) und der öffentlichen Sichtbarkeit ab 1989 kam es geradezu zu einer Wiederentdeckung und -belebung des alevitischen Glaubens, auch der alevitischen Kultur, in der Musik und Dichtung einen hohen Stellenwert einnehmen. Anfang der 2000er Jahre konnte der alevitische Religionsunterricht etabliert werden, der inzwischen in acht Bundesländern angeboten wird. Die weltweit erste (Junior-)Professur für Forschung und Lehre des Alevitentums wurde 2014 an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg eingerichtet. (Die Stelleninhaberin von 2014 bis 2018, Handan Aksünger-Kizil, wechselte 2018 nach Wien.)
Ein wichtiger Erfolg für die Aleviten ist der Vertrag der Alevitischen Gemeinde mit dem Land Rheinland-Pfalz im April 2019, nach Hamburg und Bremen der erste Vertrag in einem Flächenland. Damit wird alevitischer Religionsunterricht dort ordentliches Schulfach. Ein Ziel der Alevitischen Gemeinde steht aus, die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Vielleicht kommt neue Bewegung in die Sache, das Kriterium des 30-jährigen Bestehens ist jetzt zumindest erfüllt.
Die Aleviten werden statistisch als Muslime gerechnet. Ob sie zum Islam gehören oder nicht, wird selbst von Aleviten unterschiedlich beantwortet. Viele bejahen es, während die organisierten Aleviten meist betonen, eine selbständige Religionsgemeinschaft mit eigener Lehre und Praxis zu sein. Dafür können auch die tiefgreifenden Unterschiede zu den islamischen Hauptströmungen angeführt werden. Zu der Distanzierung insbesondere vom sunnitischen Islam tragen die Spannungen zwischen Sunniten und Aleviten in der Türkei bei, aber auch die Situation in Deutschland, in der das Image des Islam angeschlagen ist und zudem die Gewährung bestimmter Rechte an die eigene Profilierung als Religionsgemeinschaft gebunden ist.
Ein Wendepunkt der jüngsten alevitischen Geschichte hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeprägt: das Massaker in Sivas am 2. Juli 1993, bei dem 33 Menschen alevitischen Glaubens, vor allem Künstler, in einem von Islamisten umstellten brennenden Hotel ums Leben kamen. Vier weitere Personen starben. Der Mob schrie: „Es lebe die Scharia!“, „Nieder mit dem Laizismus!“ Nach Jahren wurden von insgesamt 190 Verhafteten mehr als 130 Täter zu Haftstrafen zwischen zwei Jahren und lebenslänglich verurteilt (in 33 Fällen umgewandelte Todesstrafen). Neun rechtskräftig verurteilte Täter konnten allerdings nach Deutschland fliehen, bevor das Urteil in der Türkei vollzogen wurde. Hier leben sie unbehelligt, trotz internationaler Haftbefehle werden sie weder ausgeliefert noch angeklagt, acht von ihnen erhielten politisches Asyl, einer ist deutscher Staatsbürger. Bisher hieß es, der persönliche Anteil dieser Täter an dem Massaker sei schwer nachweisbar, außerdem sei ein Militärrichter (der damals kemalistisch geprägten Türkei) am Prozess beteiligt und deshalb kein faires Verfahren gesichert gewesen. Für die Aleviten – es wohnen nicht wenige Überlebende und Angehörige von Überlebenden des Pogroms in Deutschland – ein schwer erträglicher Zustand. Erst jüngst zeichnete sich eine Wende ab. Auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Evrim Sommer (Linke) ließ der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im Juli 2019 wissen: Es sei möglich, die Männer nach dem von Ankara ratifizierten Europäischen Auslieferungsabkommen auszuliefern oder in Deutschland vor Gericht zu stellen. Damit verbinden Aleviten nun die Hoffnung, dass dieser Feststellung mehr als ein Vierteljahrhundert nach „Sivas“ auch Taten folgen.
Übrigens: In letzter Zeit ist im Zusammenhang mit dem Syrienkrieg verstärkt von Alawiten die Rede. Mit dieser stark gnostisch, mystisch und von Geheimhaltung geprägten Religionsgemeinschaft haben die anatolischen Aleviten jedoch nur wenige – religionsgeschichtlich relevante – Berührungspunkte. Es handelt sich um zwei sehr unterschiedliche Religionsgruppen mit demselben ursprünglichen „schiitischen“ Bezug auf Ali, den Schwiegersohn des Propheten Muhammad, im Namen (nur einmal auf Arabisch und einmal auf Türkisch).
Friedmann Eißler