50 Jahre Mormone – und das war‘s
Der Autor war langjähriges Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) und ehemaliger Bischof (Gemeindeleiter). Er beschreibt im Folgenden sein Erleben in der Glaubensgemeinschaft und seinen Weg hinaus.
Die Mormonen folgen einem „offenbarten“ „Plan der Erlösung“ und leben dementsprechend nach sehr strengen Verhaltensvorschriften, durch die sie ihre Würdigkeit zeigen: Sie sollen und wollen „rechtschaffen“ leben und sich dadurch für die sogenannte „Erhöhung“ qualifizieren, das mormonische Heilsversprechen. Es besteht darin, nach dem Leben zu Gott zurückzukehren und selbst ein Gott zu werden. Die Familie bildet dabei einen besonderen Bezugspunkt („Ewige Familie“). Das Leben soll sich an Christus und seinen Lehren orientieren, und zwar so, wie sie durch Joseph Smith verkündet worden sind, der als der wichtigste Prophet angesehen wird, der je gelebt hat. Der Mensch hat seine Entscheidungsfreiheit und soll diese im Sinne des Evangeliums und der Anweisungen der Propheten (oberste mormonische Kirchenführer) nutzen. Der Heilige Geist als innere Stimme und „gutes“ Gefühl wird dabei als wesentliches Medium der Erkenntnis der Wahrheit angesehen.
Das Gemeindeleben ist sehr aktiv und durch das Laienpriestertum sehr fordernd. Die Gottesdienste, in denen die Mitglieder sich gegenseitig Ansprachen halten, sollen auf der Grundlage der Worte der Propheten über die richtige Lebensführung belehren und spirituell erbauen. Zudem geht jedes vollwertige, aktive Mitglied in den Tempeln in Form von heiligen Handlungen Bündnisse ein, durch die es mit Wissen und sogenannten Zeichen und Kennwörtern ausgestattet wird, um einmal „an den Engeln vorbei“ in Gottes Gegenwart zurückkehren zu können. Dazu muss zudem gelobt werden, seine gesamte Zeit und seinen materiellen Besitz dem „Aufbau des Reiches Gottes“, also der Mormonenkirche, zur Verfügung zu stellen. Man kann also durchaus sagen, dass die Mitgliedschaft in der Glaubensgemeinschaft die gesamte Lebensführung vereinnahmt.
Zeitlich gesehen ist die Woche durch den Gottesdienst und Gemeindeaktivitäten und das Jahr durch Konferenzen und Tempelbesuche durchgetaktet. Zudem werden erwachsene Mitglieder in Teams eingeteilt, die alle Mitglieder zu Hause besuchen, um „über die Gemeinde zu wachen“, und jedes Jahr führt der Gemeindeleiter mit jedem Mitglied ein sogenanntes „persönliches Interview“, um sich von dessen Würdigkeit und Glaubenstreue zu überzeugen.
Unbeschwerte Kindheit, Jugend und schöne Jahre
Ich bin 1969 in eine gläubige Mormonenfamilie geboren worden. In meinem Kindheitszuhause war das Familienleben wichtig und der Wochenrhythmus vom Gemeindeleben geprägt. Es war ein Zuhause mit liebenden Eltern und klaren Haltungen, aber auch (und das war in meiner Mormonengemeinde nicht selbstverständlich) mit Anregung zum selbstständigen Denken und mit sportlich-musischer Förderung. Das ermöglichte mir eine sehr glückliche und unbeschwerte Kindheit und Jugend. Auch wenn ich schon in der Grundschule merkte, dass ich aufgrund meiner etwas „exotischen“ Glaubenszugehörigkeit anders war, so war ich in meiner Wahrnehmung doch kein Außenseiter. Ich empfand das Gemeindeleben als Bereicherung und die regelmäßig stattfindenden regionalen kirchlichen Jugendlager und Sportveranstaltungen als großen Spaß mit vielen Freunden. Auch die spirituelle Seite gefiel mir gut sowie der Ansporn, mein bestes Selbst zu werden. Von 1989 bis 1991 wurde ich nach dem Abitur Missionar im Raum Frankfurt. Es machte mir dabei große Freude, Menschen vom „Weg des Glücklichseins“ und von Christus zu erzählen. Danach kehrte ich zurück nach Hause und heiratete schon bald. Ich ergriff einen Beruf, studierte, die ersten Kinder kamen, und natürlich gab es auch weitere Leitungsaufgaben in den örtlichen Gemeinden und Pfählen (vergleichbar Diözese).
Zweifel? – „Du sollst nicht zweifeln!“
Gewiss, man hat auch mal seine Zweifel. Ich erinnere mich, dass ich mich als Kind fragte, warum Gott denn die goldenen Platten des Buches Mormon nicht einfach auf der Erde hatte lassen können, dann hätten wir ja sogar einen Beweis für seine Existenz. Wohlmeinende Lehrerinnen in den sonntäglichen Kinderklassen erklärten mir dann, dass „man dann ja nicht glauben müsste“, und es sei doch der Glaube, den wir hier auf der Erde üben sollten. So stößt man als Kind auf die eine oder andere Frage, und ich war mit den Antworten erst einmal zufrieden.
Was mich in den späteren Jahren jedoch zunehmend störte, waren der ständig betonte exklusive und absolute Wahrheitsanspruch, die „Auserwähltheit“, die Uniformität und der immer geforderte Gehorsam sowie die dadurch vorhandene subtile Übergriffigkeit der Glaubensgemeinschaft als Ganzes und einzelner Leiter der verschiedenen Ebenen. Ich nahm das alles zunehmend als Widerspruch zu meinem inneren Wertesystem wahr.
Besonders in den letzten Jahren fand ich den in der Mormonenkirche vorgesehenen Weg zur Erkenntnis der Wahrheit problematisch. Es wird dabei zwar gesagt, dass jeder Mensch die Wahrheit für sich selbst erkennen solle und Entscheidungsfreiheit habe. Das Ergebnis aber steht immer schon fest. Ein Beispiel hierfür ist das Erkennen der Korrektheit des Buches Mormon. Man soll es lesen, das Herz mit Dankbarkeit für allen Segen Gottes füllen und dann darüber beten. Dann werde der Heilige Geist einem die Wahrheit durch ein gutes Gefühl im Herzen „offenbaren“, nämlich, dass das Buch von Gott gegebene Heilige Schrift und ein Bericht der Besiedlung Amerikas durch jüdische Stämme ist. Wenn man dieses bestätigende Gefühl nicht erhält, dann wird einem vermittelt, dass man es entweder nicht genug oder nicht ernsthaft versucht habe, oder das Herz sei „verhärtet“ und dem Widersacher, der als sehr real angesehen wird, zugewandt. Ich habe in den vielen Jahren meiner Mitgliedschaft oft ein „gutes Gefühl“ empfunden und gemäß der Lehre als Heiligen Geist interpretiert. Aber ich habe auch vermehrt gesehen, dass das „gute Gefühl“ als etwas Subjektives nur bedingt geeignet ist, Wahrheit und Realität zu erkennen, und dass es durchaus manipulierbar ist.
Zweifel an der durch die Kirche verkündeten „Wahrheit“ und ihrem allein heilsbringenden Anspruch kommen vermutlich jedem Mormonen im Laufe der Zeit in der einen oder anderen Intensität und Nachhaltigkeit. Gängiges Verfahren ist dann, diese Zweifel bzw. Fragen in einer „mentalen Schublade“ zu parken, sich all die guten Erlebnisse und Empfindungen zu vergegenwärtigen, die ja als „Bestätigung“ der „Wahrheit“ gegeben wurden, und sich nicht länger damit zu beunruhigen. Aber was soll man tun, wenn die Schublade überquillt? Was, wenn es zu Fragen kommt, die sehr wohl Anspruch auf rationale Antworten haben?
Seit einigen Jahren ergeben sich diese Fragen für viele aktive Mormonen immer öfter. Es ist das Internet, das plötzlich Wissen verfügbar macht, vor dem die Kirche in den ca. 190 Jahren zuvor sorgsam bemüht war, ihre Mitglieder zu „schützen“. So war es auch für mich: Anfang der 2010er Jahre befasste ich mich mit kritischen Beiträgen im Internet zu Fragen des Mormonenglaubens und der Organisation. Dabei wurde mir schnell klar, dass die „Verteufelung“ aller kritischen Schriften und Filmbeiträge durch Kirchenführer überzogen war. Ich stellte fest, dass es Dinge gab und gibt, von denen die Mormonenkirche schlicht nicht möchte, dass man sich damit befasst, auch wenn sie wahr sein sollten, und dass sie alles, was ihre ausschließlich positive Selbstdarstellung untergraben könnte, eben deshalb ablehnt und angreift.
Ein Umstand, der mir sicherlich geholfen hat, meine mormonische Blase zu verlassen, waren berufsbedingte Auslandsaufenthalte. Diese haben den Blick für andere Glaubensbekenntnisse, Kulturen und ganz neue Fragestellungen geöffnet. Außerdem wurden die starken sozialen Bindungen an die heimatliche Mormonengemeinschaft aufgeweicht.
Problematische Themen
An zwei Fragen schlug das Unbehagen über den Wahrheitsanspruch in konkretes Anzweifeln um: der Frage der Vielehe und der des Ausschlusses Schwarzer vom Priesteramt und vom Tempel. Vordergründig hatte man sich damit abfinden können, da diese Praktiken inzwischen eingestellt waren. Aber es waren die jahrzehntelange Verheimlichung der Wahrheit und die bis heute geschönte Darstellung der Ereignisse und Lehren, die zum rapiden Vertrauensverlust führten.
Über die Vielehe wird in der Kirche nur sehr restriktiv gesprochen, wobei jedem vage klar ist, dass diese früher praktiziert wurde (schließlich gibt es Bezüge in den mormonischen Schriften). In der Auseinandersetzung mit Primärquellen sowie unabhängiger Geschichtsschreibung ergab sich für mich jedoch ein vollständigeres und aufrüttelndes Bild.
Im Rahmen der Einführung der Polygamie nahm Joseph Smith über 34 Frauen als Ehefrauen. Er hat dabei sogar Minderjährige (ab 14-Jährige) geehelicht, ebenso bereits Verheiratete, Mütter und deren Töchter sowie Pflegekinder (Schutzbefohlene). Er tat all das heimlich, vor allem vor seiner ersten Ehefrau Emma. Er belog diesbezüglich nachweislich Nachfolger und Öffentlichkeit. Zunächst unwillige Frauen manipulierte er mit Geschichten von Engeln, die ihm den Tod androhten, wenn diese weitere Ehe nicht zustande käme. Später lebte die Kirche die Polygamie offen im Utah-Territorium. Die Praxis wurde angeblich 1890 beendet. Die „Amtliche Erklärung Nr. 1“ aus dem Jahr 1890 war jedoch weder eine abschließende Abkehr von dem Grundsatz der Polygamie, noch beendete sie die Praxis. Für weitere 14 Jahre wurde sie heimlich weiterhin ausgeübt und nie wirklich als Lehre widerrufen. Zudem, und das ist folgenschwer, hatten Brigham Young und andere Kirchenführer die Praxis der Polygamie für jeden Mann als notwendige Bedingung erklärt, um in die höchste Herrlichkeit einzugehen. Damit kommt nun ein neues Problem hinzu: Wenn nämlich die „Offenbarungen“ von gestern heute für ungültig erklärt werden, was ist dann morgen mit den Offenbarungen von heute? Heutige Kirchenführer erklären die Monogamie als für die Gegenwart gültige Form der Ehe, ohne die Polygamie prinzipiell auszuschließen. Sie bleibt als grundlegendes Prinzip weiterhin im Hintergrund vorhanden und wird als Teil der sogenannten „Wiederherstellung“ des wahren Evangeliums Jesu Christi durch Joseph Smith verstanden.
Ähnliches gilt auch für den Umgang mit afrikanischstämmigen Menschen. Bis 1978 durften Farbige weder ein Priesteramt erhalten noch die Tempel betreten. Erklärungen zu der Praxis von damaligen Kirchenführern sind extrem rassistisch („minderwertige Rasse“, Hautfarbe als Zeichen der Nachkommenschaft des sündhaften Kain etc.). Heute werden diese Aussagen bestmöglich versteckt. Die offizielle Erklärung ist, dass der Herr 1978 durch Offenbarung die gleichen Rechte für alle Menschen unabhängig von der Hautfarbe freigegeben habe. Es ist jedoch offensichtlich, dass diese „Offenbarung“ nur durch massiven Druck der Öffentlichkeit und der US-Regierung zustande kam. Eine Entschuldigung oder sachgerechte Erklärung für die jahrzehntelange Praxis wird nicht gegeben. Im Buch Mormon und im Buch Abraham wird aber nach wie vor ein Bezug zwischen Rechtschaffenheit bzw. Gottgefälligkeit und Hautfarbe hergestellt. Diese beiden Themenbereiche bildeten für mich die „Grundmelodie“, und schnell kamen weitere problematische Themen hinzu.
Das Buch Mormon gibt an, das „korrekteste aller Bücher“ zu sein und ein Geschichtsbericht der Vorfahren der amerikanischen Indianer, die ca. 600 v. Chr. durch Gottes Führung von Jerusalem zum amerikanischen Kontinent gekommen seien. Sowohl das Hervorkommen des Buches (angeblich von goldenen Platten übersetzt, die ein Engel gebracht und später wieder an sich genommen habe) als auch die Geschichte selbst kann ich heute nur noch als fantastisch bezeichnen. Bemerkenswert ist nämlich, dass es in Nord- und Südamerika keinerlei Spuren, keinerlei archäologische Funde dieser Zivilisation gibt, auch keine linguistischen oder kulturellen Hinweise, und moderne DNA-Analysen zeigen eindeutig, dass die Vorfahren der Indianer nicht aus dem Nahen Osten stammen. Zudem finden sich Dutzende klare Belege für eine Autorenschaft des 19. Jahrhunderts. Damit zerfallen dann sämtliche weiteren Ansprüche des Buches Mormon.
Ein Brandbeschleuniger war für mich der Umgang der Mormonenkirche selbst mit diesen Fakten. Man kann hier zwei Ebenen ansprechen. Die offizielle Kirchenführung geht auf die faktischen Belege in keiner Weise ein. Alle wissenschaftlichen Indizien, die dagegensprechen, werden als „anti-mormonisches“ Machwerk abgetan. Auf der zweiten Ebene erfinden sogenannte Apologeten pseudowissenschaftliche Erklärungen, die aber ohne Zuspruch in der wissenschaftlichen Community bleiben. Sie reichen jedoch aus, um denjenigen, die an dem Glauben unbedingt festhalten wollen, hinreichend Zweifel am eigenen Zweifel zu vermitteln.
Das Buch Abraham ist eine weitere „heilige“ Schrift der Mormonen. Es gilt die offizielle Darstellung, dass es durch Joseph Smith mithilfe der Macht Gottes von ägyptischen Schriftrollen ins Englische übersetzt wurde. Allerdings ist heute durch führende Ägyptologen abschließend festgestellt, dass die Übersetzung nicht das Geringste mit dem Text auf den Schriftrollen zu tun hat. Die eindeutige Widerlegung der Behauptung, mit der Macht Gottes einen Text übersetzen zu können, hat weitreichende Bedeutung für alle anderen Behauptungen zu Inspiration, Übersetzung und Offenbarung.
Auch die Schilderungen Joseph Smiths zur Gründung seiner Kirche erschienen nun in neuem Licht. Plötzlich zeigten sich in neuen Quellen massive Unstimmigkeiten und Manipulationen in seinen Berichten zu grundlegenden Gottes- und Engelserscheinungen. Hinzu kamen Beweise für fehlgeschlagene Projekte und Prophezeiungen. Das hat für die Glaubwürdigkeit eines selbsternannten „Propheten“ erhebliche Bedeutung. In seinen letzten Jahren entwickelte sich dann in der Stadt Nauvoo eine gewisse Hybris: Er war nicht nur der Prophet, Seher und Offenbarer sowie Präsident der Kirche, er war auch einflussreicher Geschäftsmann, Herausgeber der wichtigsten Tageszeitung, Bürgermeister der Stadt, Generalleutnant der Milizen sowie Kandidat für die Präsidentschaftswahl 1844.
Hinzu kamen dann noch Fragen zur Gleichberechtigung und zum Rollenverständnis von Mann und Frau (das Priestertum und damit die Führungsaufgaben dürfen nur von Männern wahrgenommen werden), zum Umgang mit gleichgeschlechtlicher Liebe („Homosexualität ist im Plan Gottes nicht vorgesehen“) und zum überstarken Einfluss amerikanischer Kultur auf Gemeindeorganisation und Lehre sowie die ungewöhnliche Ausprägung hierarchischen Denkens. Auch gewähren sich Kirchenführer als elitärer Kreis nach Anleitung der Apostel zusätzliche „heilige Tempelriten“, in denen ihnen bei Salbungen und Fußwaschungen ewiges Leben garantiert wird (sogenannte „Zweite Salbung“), eine Praxis, von der die „normalen“ Mitglieder keine Kenntnis haben.
Für die Mormonenkirche ergibt sich das Dilemma, dass sie die Widerlegung von Tatsachen nicht anerkennen kann, ohne ihr Fundament von „Offenbarung“ und „Propheten“ zu beschädigen. Geht sie aber auf die strittigen Punkte nicht ein, werden weiter aktive Mitglieder von den verfügbaren Informationen „überrascht“, was mehr Austritte zur Folge haben wird. Die gegenwärtig gewählte Strategie scheint zu sein, sich offiziell nicht damit auseinanderzusetzen und auf Zeit zu spielen. Begleitend sind durch Apologeten erarbeitete und von den Aposteln gebilligte themenbezogene Essays auf der Homepage der Mormonenkirche veröffentlicht worden. Diese sprechen die Themen zwar an, sind jedoch durchgehend geschönte und in Teilen irreführende Erklärungsversuche. Aus Sicht der Kritiker haben sie zu wenig Substanz und Transparenz. Zugleich haben sie aber für gläubige Mormonen schon zu viel Neues und Erschütterndes. Daher sind die Essays auch nur schwer auf der Homepage zu finden und (noch) kein Teil der sonntäglichen Unterrichte und Gottesdienste.
Von Selbstzweifeln zur erlebten Mündigkeit
Ich habe den Prozess des Erkennens und der Abkehr in mehreren Phasen erlebt. In einer ersten Phase, in der sich die ganze Breite und Tiefe der Entwertung von Glaubenssätzen, des Welt- und Gottesbildes schon andeutete, hinterfragt man sich chronisch selbst: „Was stimmt mit mir nicht?“ Das ist sehr aufreibend, entspringt aber einem grundlegenden Reflex, den man im Mormonismus schon früh anerzogen bekommt: Da es sich bei diesem Glauben um den einzig wahren handelt und bei den Kirchenführern um die auserwählten Propheten Gottes, kann der Fehler nur bei einem selbst liegen. Am Ende dieser Phase konnte ich allerdings selbstbewusst feststellen, dass nicht ich das Problem bin, sondern dass es das grundlegende Problem dieser Glaubensrichtung ist. Das war sehr befreiend. In der folgenden Phase habe ich dann gedacht, man könne helfen, die Glaubensgemeinschaft zu transformieren. Schnell war jedoch klar, dass die vielen Widersprüche und Unwahrheiten dem Selbstverständnis des Mormonismus diametral entgegenstehen.
Die letzte Phase bestand in dem Versuch, meine Lebensführung innerhalb der Mormonenkirche trotzdem aufrechtzuerhalten. Ich wollte die eigene Mitgliedschaft als etwas von Gott Gefügtes verstehen, das sozusagen das eigene „geistige Erbe“ (schließlich bin ich in der vierten Generation meiner Familie in dem Glauben) darstellt und tapfer und treu bestanden bzw. ausgehalten werden muss. Vielleicht konnte ich doch versuchen, die vielen positiven Aspekte stärker zu betonen und über Kritik und Zweifel hinwegzusehen. Inzwischen hatte sich aber meine neue Sicht derart vertieft, dass die Gottesdienstbesuche mit den ständigen Wiederholungen der Wahrheitsansprüche mehr und mehr zur Qual wurden. Auch war der Eindruck, so lange belogen worden zu sein, nicht einfach beiseitezuschieben und verstärkte sich durch den anhaltend defensiven Umgang mit den Problemen durch die Kirchenführer, aber auch durch aktive Mitglieder, mit denen ein offener Austausch zu diesen Themen bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht möglich ist.
Ich hatte das alles zunächst mehr oder weniger mit mir selbst ausgemacht. Mein Glück war dann, dass auch meine Ehefrau begann, Fragen zu stellen, und die Antworten sie nicht zufriedenstellten. Sie hatte noch viel stärker als ich das Gefühl, jahrelang von „ihrer“ Kirche betrogen worden zu sein. Nun waren wir gemeinsam auf dem Weg.
Warum viele bleiben
Es war unglaublich interessant, an mir selbst und an anderen zu erkennen, was aktive Mormonen davon abhält, überhaupt kritische Fragen zu stellen oder trotz zweifelnder Erkenntnisse die Glaubensgemeinschaft nicht zu verlassen. Begriffe wie Kritik oder Zweifel unterliegen einer starken Stigmatisierung. Gehorsam und Glaube werden hingegen großgeschrieben.
Der Austritt einzelner, insbesondere zuvor fest integrierter und mit Führungsaufgaben betrauter Mitglieder bedeutet für die Gemeinde eine ziemliche Irritation. Dabei ist es nicht so, dass die Leiter dazu aufrufen, die Zweifler oder Aussteiger aktiv zu meiden. Man geht schon noch weitestgehend höflich miteinander um. Aber die Lehre von der „einzig wahren Kirche“ lässt Ausgestiegene zwangsläufig zu Menschen werden, die auf den falschen Weg geraten sind und entweder „gerettet“ oder doch eher gemieden werden müssen.
Ich hatte früh nach unserer Entscheidung, die Glaubensgemeinschaft zu verlassen, einen Brief an viele meiner kirchlichen Freunde und Familienmitglieder geschrieben, in dem ich meine Beweggründe darlegte und meiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass wir einen Weg finden würden, als Menschen, „Kinder Gottes“ und Freunde weiter verbunden zu bleiben. Nur ungefähr ein Drittel hat darauf geantwortet. Das war enttäuschend, denn zumindest irgendeine Reaktion meinte ich erwarten zu dürfen. Dennoch gibt es noch einige Kontakte und gute Freundschaften. Allerdings gibt es jetzt weniger Gelegenheiten für regelmäßige Kontakte. Zudem haben Kirchenführer in den letzten Jahren vermehrt vor dem „Abfall vom Glauben“ und „Abgefallenen“ gewarnt, sodass ein aktives Mitglied einen Freund, der ausgestiegen ist, institutionell bedingt mit anderen Augen sehen muss. Aber wir versuchen mit einigen Freunden, aktiv in unseren Beziehungen mit besonderem Verständnis füreinander und Wertschätzung gegen diese Impulse zu arbeiten.
Das Gespräch über den Glauben bleibt dabei jedoch problembehaftet, denn mit Blick auf die oben genannten Gründe für einen Ausstieg erhalten die aktiven Mitglieder durch die „Propheten“ klare Ansagen. Es sei nur die Literatur dazu zu lesen, die von ihnen zentral autorisiert sei. Alle anderen Quellen seien „antimormonisch“, das soll bedeuten: absichtlich falsch und bösartig, um die gläubigen Mormonen „in die Irre zu führen“. Angesichts des durchschnittlich guten Bildungsstands der Mitglieder führt das zu einer erstaunlichen Selbstzensur. Man vertraut den Führern, schließlich sind die Schriften buchstäblich zu verstehen und „Gehorsam ist das oberste Gesetz des Himmels“. Die Folge ist eine im Zusammenhang mit kritischen Fragen zum Mormonenglauben vorhandene Geringschätzung der Wissenschaft, eine grundsätzliche Verachtung akademischer Theologie und erstaunlicherweise auch ein völlig fehlendes Interesse an dem religiösen Empfinden der Menschen anderer Glaubensrichtungen. Wer die Wahrheit „besitzt“, braucht sich um andere Perspektiven nicht zu kümmern.
Auch wenn es in den letzten Jahren zu vielen Austritten in Europa und den USA gekommen ist, bleiben viele in der Gemeinschaft. Ein Großteil der Mitglieder in Deutschland ist so wie ich in eine Mormonenfamilie geboren. Das bedeutet lebenslange Gewöhnung, feste familiäre kirchengebundene Strukturen, aber eben auch ein oftmals breiter Schatz an durchaus positiven Erfahrungen und spirituellen Erlebnissen, die den Glauben zu bestätigen scheinen. Es gibt mit dieser Perspektive sicherlich gute Gründe, sich mit den Unebenheiten des Mormonenglaubens zu arrangieren. Neben dieser Zufriedenheit kommen noch weitere Motive hinzu, sich kritischen Fragen nicht zu stellen:
- Man hat ja die Wahrheit, und sie ist, so wird es immer wieder erklärt, nirgends anders zu finden. Hinzu kommt der starke Einfluss eines ausgeprägten „Schwarz-Weiß-Denkens“ über die Welt, bei dem man unbedingt nicht auf der falschen Seite stehen möchte.
- Die Angst vor dem Verlust von vermeintlichen Sicherheiten gerade bezüglich des Weltbildes und des Lebenssinns. Das ganze eigene Leben und das ewige Leben werden allein durch die Brille des „Erlösungsplans“ gesehen.
- Der absehbare Verlust von sozialer Zugehörigkeit, da ja auch der gesamte Lebensrhythmus durch den Takt der Mormonenkirche und die Beziehungen in der Glaubensgemeinschaft bestimmt ist.
- Befürchtete Konsequenzen für gläubige Familienmitglieder. Vielen ist klar, dass „der Papa ganz enttäuscht sein“ oder es „der Mama dann ganz schlecht gehen“ würde.
- Angst vor vermeintlichen Konsequenzen aufgrund der Lehre. So hat eine junge Frau, deren Mutter stets gläubig gewesen und früh gestorben ist, seit dem Verlust die Hoffnung, dass sie ihre Mutter mithilfe des Mormonenglaubens in einer späteren Welt wiedersehen wird. Wenn sie den Glauben nun aufgäbe, fühlte sie sich, als hätte sie ihre Mutter (und die in diesem Zusammenhang besonders wichtigen Tempelbündnisse) verraten. Genauso geht es auch dem Vater; deshalb verbieten sie sich von vornherein, sich mit etwas zu beschäftigen, was die Mormonenkirche infrage stellen würde.
- Insbesondere ältere Mitglieder tun sich schwer damit, „ihre“ Mormonenkirche anzuzweifeln, weil sie oft ihr gesamtes Leben darauf aufgebaut und wesentliche Entscheidungen daran orientiert haben. Nun haben sie Angst, ihre eigene Biografie zu „entwerten“.
- Da der Zusammenhang zwischen Gehorsam und glücklichem Leben und entsprechend zwischen Ungehorsam und Unglück sehr stark betont wird, gibt es auch eine Angst davor, Gott könnte „strafen“, wenn man sich von diesem „schmalen und geraden Weg“ (des Mormonenevangeliums) abwendet.
- Die große Ungewissheit angesichts dessen, was kommt, wenn man die „Insel der Gläubigen“ verlassen hat: Wie kann ich dann glücklich sein? Woher werde ich Kraft und Werte ziehen? Wie kann und sollte ich dann meine Kinder erziehen? Werde ich „in der Welt“ auch so gute Menschen treffen und wo wird da mein Platz sein? Die anerzogene Unmündigkeit entlädt sich in dieser Angst vor dem „Sprung ins Ungewisse“.
Vom Unterschied der Innen- und Außensicht
Jetzt, da ich zunehmend Abstand von der Gemeinschaft und den Lehren der Mormonen gewinne, wird mir an der Nahtstelle zwischen Innensicht und Außensicht deutlich, wie stark diese beiden Perspektiven voneinander abweichen. Das Selbstbild, das man als gläubiger Mormone von sich und seiner Glaubensgemeinschaft hat, ist zum einen geprägt von den Besonderheiten dieser Religion und zum anderen von der Vorstellung, dass sie gewissermaßen das Zentrum der Welt ist und das Reich Gottes auf Erden. Man sieht sich als „auf der richtigen, der guten Seite“ stehend an und möchte im besten Sinne „gut“ sein. Heute jedoch sehe ich von außen betrachtet vieles von dem Gutgemeinten als eher manipulativ, als eher intolerant oder als einfach nur naiv an.
Ich kenne aber auch Mitglieder, die sich der Problematik einer so engen Weltsicht durchaus bewusst und entsprechend viel offener Außenstehenden gegenüber sind. Sie betonen das gute Miteinander der Gläubigen jedweder Religion und eigentlich aller Menschen, können sich aber dennoch nicht von der eigenen Lehre und deren Ansprüchen lösen. Die hohen Anforderungen an das Verhalten des Einzelnen (Zeit, Geld, Kleidungs-, Essens- und Sexualvorschriften etc.) müssen mit einem besonderen Wahrheitsanspruch mit entsprechenden „ewigen Belohnungen“ korrespondieren. Sie bedingen einander, sind aber in ihrem Forderungscharakter nur dann plausibel, wenn man sich fest genug in dem Gedanken- / Glaubenssystem befindet und keine Möglichkeit hat, mit Distanz darüber zu reflektieren. Mich hat die Beharrlichkeit dieser „Innenansicht“ in der jüngeren Zeit in vielen Gesprächen, die ich mit gläubigen mormonischen Freunden und Bekannten geführt habe, sehr frustriert.
Entwicklung der Mormonenkirche in Deutschland
Mit der durch das Internet ermöglichten Verfügbarkeit von Informationen über ihre Geschichte, ihre Lehren und ihr politisches Handeln dürften die Zeiten des rapiden Wachstums für die Mormonenkirche zumindest in Europa und den USA zunächst vorbei sein. Insbesondere sogenannte „Untersucher“ der Kirche (Menschen, die meist von Missionaren angesprochen werden und sich mit der Kirche beschäftigen) haben nach wenigen Mausklicks einen Informationsvorsprung bzgl. der problematischen Themen gegenüber den Missionaren und den meisten aktiven Mitgliedern. Es gibt in den „Missionarsschulen“ keine Auseinandersetzung mit Themen, die dem Narrativ von einem offenbarten, in sich widerspruchsfreien und einzig wahren Evangelium der Mormonenkirche zuwiderlaufen könnten.
Mormonengemeinden mit um die hundert Anwesenden im sonntäglichen Gottesdienst finden sich in den meisten größeren Städten in Deutschland. Aber z. B. in meiner Heimatregion Schleswig-Holstein wurden in den letzten Jahren von einst elf Gemeinden drei geschlossen. In Hamburg traf es vorletztes Jahr zwei von fünf Gemeinden. Dieser Trend dürfte im Wesentlichen ein gesamtdeutscher, wenn nicht gar europäischer sein. Auch in den USA gibt es solche Entwicklungen. Inzwischen sind dort viele Gruppen entstanden, in denen sich ehemalige Mormonen in ihren Glaubensveränderungen, ihrem Austritt und bei der Orientierung in einem neuen Leben gegenseitig unterstützen. Es finden lokale Treffen statt, aber es gibt auch und insbesondere Plattformen und Podcasts im Internet (z. B. Mormon Stories). In dem Zeitraum, in dem wir uns von der Mormonengemeinschaft gelöst haben, sind ungefähr ein Dutzend weiterer, überwiegend junger Familien in Schleswig-Holstein ausgetreten. Jede Geschichte für sich ist ein einziges Abenteuer, in allen Fällen als Befreiung empfunden, aber vereinzelt auch mit enormer psychischer Belastung und in fast allen Fällen mit Konflikten in den Großfamilien verbunden.
Persönliches Fazit
Bei mir hat der Prozess Jahre gedauert, bis wir 2019 Konsequenzen gezogen haben und uns seitdem nicht mehr als Teil der Glaubensgemeinschaft verstehen. Natürlich habe auch ich dabei schlaflose Nächte, aufgeregte Gebete, traurige und zweifelnde Tage gehabt. Irgendwann aber war mir klar, dass es für mich keinen Weg zurück in die mormonische Blase gibt. Wenn man einmal durchgeschaut hat, kann man das neu Erkannte nicht mehr für nicht existent erklären. Ein eher universeller Glaubenskern und Wertvorstellungen sind jedoch geblieben. Als Mormone hat man für den Sinn und das Ziel des Lebens klare (vorgegebene und offenbarte) Vorstellungen und „Sicherheiten“. Die habe ich jetzt nicht mehr. Aber was zunächst als bedrohlicher Verlust empfunden wurde, ist inzwischen zu einem befreiten und tiefer liegenden Vertrauen in Gott geworden. Ich genieße es, auf Fragen des Glaubens ohne konkrete Antworten auszukommen, sondern mit Seelenruhe und Vertrauen Schritt für Schritt zu gehen.
Natürlich hat sich der Wochenrhythmus verändert, und das soziale Umfeld wandelt sich mehr und mehr. Ich empfinde übrigens weder Groll noch Scham über meinen Lebensweg der ersten 50 Jahre. Es war alles in allem eine gute und schöne Zeit, mit vielen tollen Menschen und einer Entwicklung, die mich dahin gebracht hat, wo ich jetzt bin. Das alles hat mich somit auch irgendwie befähigt, meine Kenntnis zu erweitern und diesen neuen Weg zu gehen. Dafür schätze ich mich sehr glücklich und danke ich Gott.
Bastian Volz, Tremsbüttel, 01.05.2021