500 Jahre Heidelberger Disputation - Themen und Wirkungen
Am 26. April 1518, wenige Monate nach der Veröffentlichung seiner 95 Thesen zum Thema Ablass und Buße, hatte der Wittenberger Professor für Biblische Theologie, Martin Luther, Gelegenheit, seine öffentliche, existenzielle und kritische (Kreuzes)-Theologie im Hörsaal der Artistenfakultät in Heidelberg vorzustellen und in einer Disputation zu verteidigen. Orientiert waren seine Thesen an Paulus und Augustin. Die Reaktionen auf seinen Auftritt in Heidelberg waren unterschiedlich. Zahlreiche Professoren stellten kritische Rückfragen und waren ablehnend eingestellt. Zahlreiche Studenten wurden für die reformatorische Bewegung gewonnen.
40 Thesen wurden vorgelegt. 28 theologisch und 12 philosophisch orientierte. Letztere wurden öffentlich nicht diskutiert. Die Disputation konzentriert sich auf die theologischen Thesen. Sie umkreisen die Frage, inwiefern der Mensch aus eigener Kraft vor Gott Gnade und Gerechtigkeit erlangen kann. Luther bestreitet, dass der Mensch sich durch Werke angemessen verwirklichen und definieren kann. Er plädiert für eine realistische Selbstwahrnehmung. Durch das Kreuz Christi und das Wort vom Kreuz werden Mensch, Welt und Gott ausgelegt. Die Ichzentriertheit und Angst des Menschen wird aufgedeckt. Zwischen der Kreuzestheologie (theologia crucis) und der Theologie der Herrlichkeit (theologia gloriae) sieht der Reformator einen fundamentalen Gegensatz. „Der Theologe, der Gottes unverborgene Herrlichkeit sucht, nennt das Übel gut und Gutes übel, der Theologe des Kreuzes nennt die Dinge beim rechten Namen“ (These 21).
Zahlreiche humanistisch gebildete Studierende waren in Heidelberg zugegen und beteiligten sich an der Ausbreitung der reformatorischen Bewegung, vor allem in Südwestdeutschland: Johannes Brenz in Schwäbisch-Hall, Erhard Schnepf in Bad Wimpfen, Theobald Billican in der Pfalz, ebenso Paul Fagius, Martin Frecht, Franciscus Irenicus u. a. Durch das Wirken Martin Bucers wurde Straßburg zu einem wichtigen Zentrum. Er hatte ebenso an der Disputation teilgenommen, war von Luthers Auftreten begeistert und vermittelte dies durch einen Bericht an seinen Freund Beatus Rhenanus.
Die theologischen Orientierungen der Heidelberger Disputation sind Ausdruck einer frühen reformatorischen Theologie mit nachhaltigen Wirkungen. Kreuzestheologie ist kritische Theologie, Theologie der Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichem Handeln. Gottes Verborgenheit in der Welt ist eines ihrer zentralen Themen. Angesichts des gekreuzigten Christus ist nicht zuerst von ethischen und logischen Urteilen auszugehen, sondern von einer Zuwendung Gottes zum Menschen und zur Welt, die auch im Leiden Bestand hat.
Der Glaube an den dreieinigen Gott ergibt sich nicht aus der Weltwahrnehmung. Er bleibt auf die göttliche Selbstmitteilung angewiesen und verdankt ihr allein seine Gewissheit. Die Terminologie „Kreuz Christi“ und „Wort vom Kreuz“ begegnet bereits im Neuen Testament, etwa im Galaterbrief und in den Korintherbriefen in konkreten Auseinandersetzungen mit dem urchristlichen Enthusiasmus und einem gesetzlichen Missverständnis des christlichen Glaubens und seiner Praxis. Die Sehnsucht nach religiöser Unmittelbarkeit bleibt oft bei dem fassbaren, dem greifbaren, dem plausiblen Gott stehen. Dass Gott da ist im Leiden, kann weder bewiesen noch demonstriert werden. Von reformatorischer Theologie inspirierter Gottesglaube weiß um die Zweideutigkeit religiösen Lebens. Religiosität kann unterdrücken und befreien, zerstören und heilen, verletzen und aufbauen. Kreuzestheologie geschieht nicht aus der Perspektive der Tribüne. Zu ihr gehört das Bewusstsein der Gebrochenheit und Vorläufigkeit christlichen Lebens. Sie weiß, dass christlicher Glaube sein Ziel noch vor sich hat und nicht hinter Mauern, sondern nur im offenen, freien Austausch gelebt werden kann.
Wenn heute über das Kreuz als zentrales Zeichen des christlichen Glaubens hitzige politische Debatten geführt werden, manifestiert sich darin ein polarisierter Streit über den Öffentlichkeitsauftrag von Kirche und die Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns. Die Prägekraft des Christentums ist im europäischen Kontext unübersehbar und nichts, dessen man sich schämen müsste. Kulturelle Selbstverleugnung ist kein Weg zur Stärkung von Toleranz in einer durch weltanschaulichen Pluralismus gekennzeichneten Gesellschaft. Kreuze haben im öffentlichen Raum ihren Platz. Zugleich ist jedoch deutlich zu unterstreichen: Politisch verordnen lässt sich die Prägekraft des Kreuzes nicht. Sie bleibt vielmehr angewiesen auf ein christliches Zeugnis, das mit dem Wirken des göttlichen Geistes rechnet. Politisches Handeln bleibt im Sichtbaren, im Vorläufigen, in der Sphäre des Vorletzten. Die Theologie des Kreuzes, über die in der Heidelberger Disputation so eindringlich disputiert wurde, unterscheidet das Handeln Gottes pointiert von den Werken und Möglichkeiten des Menschen. Das göttliche Handeln berührt den Menschen in seinem Herzen.
Die theologischen Thesen schließen mit These 28, einer einprägsamen „Kurzformel“ christlichen Glaubens, die auf die schöpferische Kraft der göttlichen Liebe und den grundlegenden Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Liebe verweist. „Die Liebe Gottes findet ihren Gegenstand nicht vor, sondern schafft ihn sich erst, menschliche Liebe entsteht an ihrem Gegenstand.“ Wenn es um die Erfahrung der göttlichen Liebe geht, ist der Mensch einer, der gewissermaßen neu erschaffen wird und deshalb Gott, die Welt und sich selbst in einem neuen Licht sieht.
Reinhard Hempelmann