Gesellschaft

Abgeordnete des Bundestages als Werbeziel von Sekten

Das Internet macht’s möglich: Sehr einfach sind die weit über 6oo Abgeordneten des Deutschen Bundestages postalisch und noch einfacher per elektronischer Post zu erreichen. Diese Möglichkeit haben sich in den letzten Wochen auch weltanschauliche Einzelkämpfer und Gruppierungen zu Nutze gemacht, um für ihre Anliegen zu werben. Im Juli erhielten alle Bundestagsabgeordneten eine Nachricht mit dem Betreff: „Zeichen von Gott: Der Messias kommt. Wir haben den Weltuntergang und stehen vorm Jüngsten Tag. Das Brandenburger Tor in Berlin ist das Höllentor der Menschheit und muss sofort abgerissen werden!!!“ Hinter dieser obskuren Weltsicht verbirgt sich ein Herr Gerhard Roth, der eine professionell gestaltete und animationsreiche Internetseite unter www.zevo.de eingerichtet hat und damit für seine Sicht der Dinge wirbt, die geprägt ist von apokalyptischen Szenarien, Verschwörungstheorien und konkreten Handlungsaufrufen.

Einige Wochen zuvor wurden die Bundestagsabgeordneten mit einer drei Seiten starken, bebilderten englischsprachigen Warnung konfrontiert, die behauptete, dass die Weltpolitik zu 95 Prozent aus Saudi-Arabien von „negativen Extraterrestriern“ kontrolliert werde. Im Hintergrund stehe Ashtar Sheran, ein höheres spirituelles Wesen, das zehn Millionen Ufos befehlige. Hingewiesen wurde auf die dazugehörige Internetadresse (www.universe-people.com). Im Hintergrund dieser Seite steht ein Ivo A. Benda, der offensichtlich Kopf dieser Ufo-Glaubensgemeinschaft ist (vgl. dazu den EZW-Text 153 von Andreas Grünschloß „Wenn die Götter landen...“). Pikanterweise verweist ein Link auf dieser Seite zu einem angeblich gechannelten Text von Gabriele Wittek, die sich auf 34 Seiten darüber auslässt, wie Christus den Dämonenstaat enthülle und seine Helfershelfer entlarven könne.

Den herkömmlichen Briefweg hat eine Frau aus Birkenwerder nahe Berlin gewählt. In einem Schreiben an alle Bundestagsabgeordneten wies sie auf den dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich der Drogenbekämpfung hin. Freimütig bekannte sie, seit 30 Jahren Mitglied der Scientology-Organisation zu sein und in ihrer freien Zeit deren Anti-Drogen-Arbeit zu unterstützen und zu befördern. Deshalb lag dem Brief auch ein wohlwollend belobigender Artikel aus dem „Anzeigenblatt von der Müritz“ zur Rehabilitationsmethode von L. Ron Hubbard sowie dem Narconon-Programm bei. Glücklicherweise war Frau Rennebach, die sektenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, engagiert genug, prompt eine zweiseitige Klarstellung an ihre Kolleginnen und Kollegen des Bundestages zu versenden. Ausführlich verwies sie darauf, dass Narconon keine fachlich qualifizierte Therapieeinrichtung sei. Fachleute sowie diverse Regierungsstellen wie die schleswig-holsteinische Landesregierung, das Innenministerium Bayern oder das Landesschulamt Berlin warnen vor der Teilnahme am Narconon-Programm. Es bestehe eine große Gefahr, dass der bereits bestehenden Sucht eine geistige und materielle Abhängigkeit folge.

Was beim zuletzt geschilderten Fall von Scientology schnell einleuchten mag, stellt sich bei den beiden zuvor beschriebenen Zusendungen als schwieriger dar: Werden diese Anschreiben einfach belächelt und abgeheftet, oder wird ihnen ernsthaft nachgegangen und weiter recherchiert? Jedenfalls ist unübersehbar, dass in Zeiten verwischter Religiosität und hoher weltanschaulicher Pluralität gerade bei politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern solide Informationen benötigt werden, um in der verwirrenden Vielfalt von Sinnangeboten angemessene Entscheidungen treffen zu können – und sei es nur die, bestimmte Post nach der ersten Durchsicht unter „Kuriosa“ abzuheften.

Michael Utsch