Pfingstbewegung

Abgrenzung und Brückenschlag. Vor 100 Jahren entstand die „Berliner Erklärung zur Pfingstbewegung“

(Letzter Bericht: 3/2008, 110ff) Es war eine Zeit der Erweckungen. In Wales kamen etwa 100 000 Menschen zum Glauben, und auch in Norwegen gab es einen geistlichen Aufbruch, wie man ihn in Europa bis dahin nicht erlebt hatte. Menschen sprachen in Zungen, wirre Laute kamen aus ihren Mündern. Die Prediger zitterten am ganzen Körper, zuweilen fielen sie während ihrer Predigt einfach um. In zeitgenössischen Berichten war von Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen, wilden Schreien und Visionen die Rede. Und immer mehr Menschen ließen sich von der neuen Glaubensströmung anstecken. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts breitete sich die Pfingstbewegung in Europa aus.

Auch im Deutschen Reich blickte man aufmerksam nach Wales und Norwegen. Vor allem im Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband und in den damals aufkommenden Freikirchen fanden sich Menschen, die sich von der neuen Glaubensströmung begeistern ließen. Heinrich Dallmeyer, Theodor Haarbeck und Ernst Modersohn, die damals führenden Pietisten, begrüßten die Erweckung. Lange schon war man frustriert über den geistlichen Zustand der Amtskirchen, lange schon hatte man für Erweckungen gebetet. Doch war die Pfingstbewegung das, was man ersehnt hatte? Hinter den Kulissen brodelte es. Unkoordinierte Gottesdienste voll wilder Ekstase war niemand gewohnt. Heilungen und Zungenreden passten nicht in das Schema herkömmlicher Frömmigkeit. Ähnliches geschah auf zwei Versammlungen, die zwei Norwegerinnen im Juli 1907 in Kassel abhielten. Sie zogen eine so große Menschenmenge an, dass schließlich die Polizei bat, die Gottesdienste zu beenden. Begeisterung schlug in Besorgnis um. Otto Schopf, einer der Väter der „Freien Evangelischen Gemeinden“, war einer der ersten, die vor der neuen Glaubensbewegung warnten. Ihm sollten viele andere folgen.

Während 1908 und 1909 in Hamburg und Mülheim drei Glaubenskonferenzen stattfanden, die als Keimzelle der Pfingstbewegung in Deutschland gelten können, trafen sich am 15. September 1909 60 Vertreter der Gemeinschaftsbewegung, aus Freikirchen und aus dem landeskirchlichen Raum im Berliner Hospiz St. Michael. Stundenlang berieten sie über die neue Bewegung. Schließlich verabschiedeten sie ein Papier, das im Bereich evangelikaler Gruppen, etwa der „Bekenntnisbewegung Kein anderes Evangelium“, bis heute nahezu Bekenntnisrang hat. Doch die „Berliner Erklärung zur Pfingstbewegung“ ist in erster Linie ein Dokument der Abgrenzung. „Die sogenannte Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten“, lautet der wohl schärfste Satz. „Es wirken in ihr Dämonen, welche, vom Satan mit List geleitet, Lüge und Wahrheit vermengen, um die Kinder Gottes zu verführen.“

Konkret wandten sich die am Ende 56 Unterzeichner vor allem gegen eine Aussage der Pfingstbewegung: die „Lehre vom reinen Herzen“, wonach die Sünde in einem gläubigen, mit dem Heiligen Geist getauften Christen ausgerottet sei. „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“, antworteten die Pietisten darauf mit dem 1. Brief des Johannes. „Traurige Erfahrungen in der Gegenwart zeigen, dass da, wo man einen Zustand von Sündlosigkeit erreicht zu haben behauptet, der Gläubige dahin kommen kann, dass er nicht mehr fähig ist, einen Irrtum zuzugeben, geschweige denn zu bekennen“, heißt es in der Erklärung. Und: „Eine weitere traurige Folge falscher Heiligungslehre ist die mit ihr verbundene Herabsetzung des biblischen, gottgewollten ehelichen Lebens, indem man mancherorts den ehelichen Verkehr zwischen Frau und Mann als unvereinbar mit wahrer Heiligung hinstellt.“

Kritisiert wurde auch die Art und Weise, in der die Pfingstbewegung Kreise zog. So genannte „Weissagungen“, also Prophetien geistlicher Leiter, die auch heute noch in manchen charismatischen Kreisen populär sind, sah man als große Gefahr an. „Nicht nur haben sich in ihnen handgreifliche Widersprüche herausgestellt, sondern sie bringen da und dort Brüder und ihre ganze Arbeit in sklavische Abhängigkeit von diesen Botschaften“, heißt es in der Erklärung. Man verglich die Prophetien mit dem Auftreten spiritistischer Medien und kritisierte auch, dass die Übermittler meist Frauen seien. „Das hat an verschiedenen Punkten die Bewegung dahin geführt, dass gegen die klaren Weisungen der Schrift Frauen, ja sogar junge Mädchen, leitend im Mittelpunkt“ stehen.

100 Jahre später gibt es die Pfingstbewegung immer noch. Heilungsgottesdienste und Zungenreden werden ebenso praktiziert wie lautstarke Lobpreismusik, zu der Menschen in Ekstase tanzen. Doch während sich im Mainstream der Bewegung heute viele lebendige Gemeinden in der Ökumene engagieren und ihre ganze Kraft investieren, um Menschen für den Glauben zu gewinnen, nimmt die Öffentlichkeit die Pfingstbewegung vor allem von ihren Rändern her wahr. Denn dort tummeln sich falsche Propheten: Mehrfach etwa sagte der amerikanische Fernsehprediger Benny Hinn den Tod Fidel Castros während der 1990er Jahre voraus – was definitiv nicht eingetreten ist. Das physische Auftreten von Jesus Christus während eines Gottesdienstes von Benny Hinn in Nairobi, Kenia, hat ebenfalls nicht stattgefunden. Dafür kam es 2006 im amerikanischen Lakeland zu einer neuen Erweckungsbewegung rund um den Fernsehprediger Todd Bentley, der sogar behauptete, 20 Menschen von den Toten auferweckt zu haben. Auch in Deutschland fallen radikale pfingstlerische Gruppen wie die „Biblische Glaubensgemeinde“ in Stuttgart, die „Freie Christliche Jugendgemeinschaft“ in Lüdenscheid oder auch die Berliner „Gemeinde auf dem Weg“ immer wieder durch umstrittene Sonderlehren auf.

Der aus der Glaubenskonferenz von Mülheim 1909 hervorgegangene „Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden“ steht dagegen schon längst nicht mehr an der Spitze der Pfingstbewegung. Im Gegenteil, aus dem „Forum Freikirchlicher Pfingstgemeinden“ (FFP), einer Art Dachverband der verschiedenen Pfingstkirchen in Deutschland, trat man 2002 aus. Man konzentrierte sich auf die „Vereinigung Evangelischer Freikirchen“ (VEF), in der der Mülheimer Verband seit 1991 Vollmitglied ist, und kooperiert dort mit den Mennoniten, den Methodisten und den Baptisten. In der „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen“ (ACK) arbeitet man auch mit den Landeskirchen zusammen. „Wir sehen uns als evangelikal-charismatische Freikirche, aber nicht als Pfingstkirche“, sagt Präses Ekkehart Vetter, der dem bundesweit etwa 50 Gemeinden und rund 4000 Mitglieder zählenden Verband vorsteht. „Und am linken wie rechten Rand der evangelikalen Bewegung gibt es Gruppen und Personen, mit denen wir wohl echte Mühe hätten.“

Mit dem Gnadauer Gemeinschaftsverband hat man das hingegen nicht mehr. „Viele der Gemeinden des Mülheimer Verbandes unterscheiden sich nicht allzusehr von manchen lebendigen Landeskirchlichen Gemeinschaften“, sagt dessen Generalsekretär Theo Schneider. Beide Verbände verabschiedeten Anfang des Jahres eine neue, gemeinsame Erklärung. In der Berliner Erklärung erkenne man ein „ernsthaftes geistliches Ringen, in kritischer Zeit Schaden von der Gemeinde Christi abzuwenden“, heißt es dort. Für das gegenwärtige Miteinander von Gnadauer und Mülheimer Verband hätten beide Dokumente jedoch keine Bedeutung. „Wir wissen, dass in der jeweils anderen Bewegung der Geist Jesu Christ wirkt.“ Das bedeutet freilich nicht, dass der Gnadauer Verband damit die Berliner Erklärung außer Kraft gesetzt hat: „Das geht schon deswegen nicht, weil die Erklärung eine Erklärung von Privatpersonen und kein offizielles Dokument des Gnadauer Verbandes war“, sagt Schneider. „Und im Umgang mit manchen Formen pfingstlerischer Frömmigkeit, etwa den Prophezeiungen von Benny Hinn, halte ich die inhaltlichen Impulse der Berliner Erklärung auch nach wie vor für hilfreich.“


Benjamin Lassiwe, Berlin