Abraham trifft Ibrahîm. Streifzüge durch Bibel und Koran
Sibylle Lewitscharoff / Najem Wali: Abraham trifft Ibrahîm. Streifzüge durch Bibel und Koran, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 309 Seiten, 24,00 Euro (Taschenbuch 14,00 Euro).
Eine in vielen asiatischen Kulturen verbreitete Version der Lessing’schen Ringparabel ist die Geschichte „Die Blinden und der Elefant“. Vor unterschiedlicher Kulisse erzählt diese in etwa Folgendes:
Es waren einmal in Kabul drei Blinde. Eines Tages saßen sie beisammen und hörten, vor den Toren der Stadt sei ein Elefant gesehen worden. Sie hatten zwar schon oft von diesem exotischen Tier gehört, es aber noch nie aus der Nähe begutachten können. In ihrer Neugier beschlossen sie, zu dem Elefanten vor die Stadt zu gehen und sein Wesen tastend zu ergründen, wie sie es gewohnt waren, um einander dann von ihren Eindrücken zu berichten. Die drei Blinden taten das also und kamen wenig später wieder zusammen. „Ein Elefant ist lang und beweglich wie eine Schlange“, sagte der erste. „Nein!“, widersprach sofort der zweite: „Er ist hoch und stark wie ein Baum!“ – „Wieder falsch!“, warf daraufhin der dritte ein. „Ein Elefant ist groß und dünn wie ein Fächer …“
Wie die drei Blinden nun je unterschiedliche Teile des Elefanten (Rüssel, Beine oder Ohren) zu fassen bekommen hatten, so könnten auch die Anhänger unterschiedlicher Religionen stets nur einen Teil der Wahrheit erfassen, so lautet eine mögliche Pointe dieses asiatischen Gleichnisses.
Diesem Gedanken folgt auch das Autorenduo Sibylle Lewitscharoff und Najem Wali in seinem Buch. Neun biblische Figuren von Eva/Hawwâ bis Maria/Maryam haben die schwäbische Religionswissenschaftlerin und der irakische Germanist sich vorgenommen, um ihre Geschichten aus Sicht von Bibel und Koran nach und neu zu erzählen. Nach einer kurzen Einführung Najem Walis in die Rezeption des Alten und Neuen Testaments durch den Koran nähern sich die beiden Schriftsteller den ausgewählten Protagonisten in insgesamt 18 Kapiteln abwechselnd aus jüdisch-christlicher bzw. islamischer Perspektive. Die Art ihrer Darstellung reicht dabei von textgetreu bis frei assoziativ. Herausgekommen ist ein sehr unterhaltsamer Husarenritt durch einige der bekanntesten biblischen Erzählungen, in erster Linie des Alten Testaments.
Dabei werden geläufige Geschichten nicht nur fortgesponnen, sondern vor allem Lewitscharoff versteht es geradezu meisterhaft, diese auch in die absurdesten Kontexte zu übertragen. Der „Mutter alles Lebendigen“ Eva nähert sie sich über Dantes „Göttliche Komödie“ oder das bekannte Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren, Abraham wird zum Gegenstand einer Unterhaltung des Philosophen Sören Kierkegaard mit einer göttlichen Maus, und die Erzählung von Lot verdächtigt die Autorin, Inspiration für Nabokovs Roman „Lolita“ gewesen zu sein (141). Dass ihr dabei mitunter die sprachlichen Pferde durchzugehen drohen, tut der Lektüre keinen Abbruch. Im Gegenteil: Gerade der fließende Übergang von Information zu Fiktion ist es, der das Lesevergnügen steigert.
Ihr Co-Autor Najem Wali bleibt näher am Originaltext des Korans und versucht, die in verschiedenen Suren fragmentarisch vorhandenen Informationen über die jeweiligen Protagonisten zusammenzutragen. Mit jenen muslimischen Stimmen, die das jüdische Erbe des Korans zu leugnen versuchen, geht er dabei mitunter hart ins Gericht (17). Immer wieder bemüht er sich auch um eine dezidiert liberale Auslegung einschlägiger Koranstellen, wenn er etwa betont, dass der „Sündenfall“ im Koran anders als in der Bibel nicht Hawwâ, sondern Âdam angelastet wird (43). Wali verfolgt zwar einen weniger geistes- und kulturgeschichtlich geprägten Zugang als Lewitscharoff, dadurch sind seine Beiträge aber oft informativer als ihre. Viele Leserinnen und Leser wird es z. B. überraschen, dass Jesus/Îsa nach koranischer Überlieferung nicht starb und seine Kreuzigung lediglich eine Täuschung war (271).
Gemeinsam ist den beiden Autoren ihr Anspruch, zu einer Rückbesinnung auf die theologische Verwandtschaft der drei abrahamitischen Religionen beizutragen. Ein Ansinnen, das ihnen mit „Abraham trifft Ibrahîm“ zweifellos gelingt. Immer wieder stellt sich bei der Lektüre das Gefühl seltsamer Vertrautheit mit einer eigentlich fremden Heiligen Schrift ein. Und nicht nur die ähnliche Wahrnehmung derselben Figuren in jüdisch-christlicher bzw. islamischer Tradition und Kultur zeigen Lewitscharoff und Wali auf, sondern ihre zeitgemäße Darstellung dieser altbekannten biblischen Figuren ist auch eine hervorragende Anregung, sich wieder mehr den Originaltexten zu widmen. Dem Buch ist also eine große Leserschaft zu wünschen, denn – um es mit Sibylle Lewitscharoff zu sagen: „Eine intensive Beschäftigung mit Bibel und Koran lohnt sich“ (13).
Alexander Benatar, 01.11.2020