Abschied vom Megatrend Religion
Die Ergebnisse der 5. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft (KMU) sind ernüchternd – nicht nur für die Kirche, auch für die universitäre Theologie. Auch sie hat Anlass, selbstkritisch über Konsequenzen nachzudenken. Schließlich sind die Fakultäten für die Ausbildung künftiger Pfarrer/-innen verantwortlich. Kirchenleitungen lassen sich durch Theologieprofessoren und -professorinnen beraten. Diese wirken in Synoden und kirchlichen Gremien mit. Es geht somit nicht nur um die Zukunft der evangelischen Kirche, sondern auch um die der evangelischen Theologie in Deutschland.
Nach der Jahrtausendwende wurde viel über eine angebliche Wiederkehr der Religion geschrieben. Auch die EKD hat in ihrem Papier „Kirche der Freiheit“ auf diese These gesetzt. Sie sprach von einem „besonderen Zeitfenster“, das für neue kirchliche Initiativen zu nutzen sei und Anlass zu der Hoffnung biete, die Kirche könne gegen den Trend wachsen. Dieser Glaube stellt sich nun als Irrtum heraus, vor dem freilich schon damals manche gewarnt haben. Es gereicht dem theologischen Vizepräsidenten der EKD Thies Gundlach zur Ehre, dass er diesen Irrtum unumwunden eingesteht. Allerdings haben nun auch jene Theologen Anlass zur Selbstkritik, die der EKD und ihren Verantwortlichen über Jahre hinweg den angeblichen Megatrend Religion eingeredet haben. Offenbar gibt es auch an den Fakultäten eine „Religionstheologie“, die auf Selbsttäuschung beruht. Darüber wird zu reden sein.
Neben ambivalenten Phänomenen von Religion und Religiosität gibt es in unserer Gesellschaft einen verbreiteten und weiter um sich greifenden Gewohnheitsatheismus, der sich nicht mehr länger leugnen lässt. Zu den Aufgaben der Kirche gehört auch eine zeitgemäße Apologetik, die sich dem religiösen und weltanschaulichen Pluralismus stellt und neben der Begegnung auch die kritische Auseinandersetzung nicht scheut. Auch wenn die KMU zeigt, dass sich diejenigen, die schon ohne religiöse Sozialisation aufgewachsen sind und in einem Milieu der verfestigten Konfessionslosigkeit leben, von der Kirche kaum noch erreichen lassen, darf sich die künftige Arbeit der Kirche doch nicht auf die beschränken, die sich noch der Kirche verbunden fühlen. Das Evangelium ist eben nicht nur den „religiösen“ Menschen, sondern auch den Religionslosen zu verkündigen. Das aber wird nicht funktionieren, indem man Letzteren einzureden versucht, sie seien doch auch im Grunde religiös, weil Religion eine anthropologische Grundkonstante sei.
Die Kirche muss es wagen, von Gott zu reden, nicht von irgendwelchen Gottesgedanken, von Religion, Spiritualität oder Sinnsuche. Nur dann bleibt sie ihrem Auftrag treu. Nur dann hat sie den Menschen etwas zu sagen, was ihnen andere nicht sagen können. Nicht wenige, die unter dem Gottesverlust in der Gegenwart leiden, vermissen die pointierte Rede von Gott.
Daraus ergeben sich Anfragen an Verkündigung und Theologie. Aus den Ergebnissen der 5. KMU lässt sich ableiten, dass der Predigt verstärkte Bedeutung zukommt. Viele der Befragten geben an, nur selten persönlichen Kontakt zu Pfarrerinnen und Pfarrern zu haben. Sie erleben sie, wenn überhaupt, bei öffentlichen Anlässen und im Gottesdienst, sei es am Sonntag oder bei Kasualien. Die Predigtkultur gehört zu den traditionellen Stärken der evangelischen Kirche. Diese Stärke gilt es zu stärken. Das aber kann nur gelingen, wenn es auch zur Neubesinnung kommt, was denn zu predigen ist. Zugespitzt formuliert: Wir brauchen eine neue Theologie des Wortes Gottes.
Die Kirche des Wortes, als die sich die evangelische Kirche nach wie vor versteht, muss sich nicht nur mit dem in der 5. KMU analysierten Traditionsabbruch, sondern auch mit einer verbreiteten Bibelvergessenheit (Thomas Schlag) auseinandersetzen. Die Untersuchung zeigt, dass die Menschen in dieser Hinsicht durchaus Erwartungen an die evangelische Kirche haben. Hieraus ergeben sich Herausforderungen an das Bildungshandeln der Kirche, auch an den Religionsunterricht.
Säkularisierung ist, wie Detlef Pollack schon vor Jahren festgestellt hat, keineswegs ein überholter Mythos, sondern in unseren Breitengraden harte Realität. In der modernen pluralistischen Gesellschaft findet sich das Christentum in einer Diasporasituation vor. In vielen Ländern Europas bilden evangelische Christen und Kirchen eine Minderheit. Auch gesamteuropäisch betrachtet ist die Zahl der Protestanten in Europa geringer als die von Katholiken und orthodoxen Christen zusammengenommen. Zunehmend machen aber auch katholische Christen die Erfahrung, zur gesellschaftlichen Minderheit zu werden. Die Diasporaexistenz des Glaubens wird zur gemeinsamen ökumenischen Erfahrung. Wir brauchen eine neue Theologie der Diaspora, wie sie seit Kurzem in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) diskutiert wird. Eine solche Theologie ist jedoch nicht als Theologie des Rückzugs aus der Gesellschaft zu verstehen, sondern im Gegenteil als Ermutigung, sich in diese Welt einzumischen und das Evangelium von der Liebe Gottes, seiner Agape oder Caritas, in Wort und Tat zu bezeugen.
Eine solche Theologie der Diaspora ist als Weiterentwicklung einer öffentlichen Theologie zu verstehen, wie sie international seit einiger Zeit diskutiert wird. Öffentliche Theologie in evangelischer Prägung begreift den Pluralismus moderner Gesellschaften, also auch den Pluralismus im heutigen Europa, nicht als Verhängnis, sondern als Frucht des Christentums. Öffentliche Theologie in dem hier vorausgesetzten Sinn ist als Absage an alle Versuche zu verstehen, mittels staatlicher Gewalt oder mithilfe des Rechts einer bestimmten Religion, ethischen Orientierung oder partikularen Gruppenmoral allgemeine gesellschaftliche Verbindlichkeit zu verschaffen. Öffentliche Theologie beschränkt sich aber nicht auf ethische Themen, sondern begreift als ihre Aufgabe auch die Weitergabe des Evangeliums und des Glaubens. Öffentliche Theologie ist öffentliche Verkündigung im Sinne von Artikel 5 des Augsburger Bekenntnisses.
Es ist erfreulich, welche Wertschätzung die Diakonie unter den Befragten genießt. Die Diakonie ist Wesens- und Lebensäußerung der Kirche. Die mit Säkularisierung und Traditionsabbruch verbundenen Probleme haben auch die Diakonie schon längst erfasst. Worin die christliche Identität der Diakonie besteht und wie diese gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Betreuten und ihren Angehörigen vermittelt und gelebt werden kann, gehört zu den Kernfragen heutiger Diakonie. Das zeigen u. a. die Auseinandersetzungen um das kirchliche Arbeitsrecht. Der Wandel vom Sozialstaat zum Sozialmarkt, an dem sich diakonische Einrichtungen als erfolgreich wirtschaftende Unternehmen behaupten müssen, verschärft die Frage nach der theologischen Substanz und Grundorientierung diakonischen Handelns. Insofern betreffen die Herausforderungen, die sich aus der 5. KMU ergeben, auch die Diakonie.
Öffentliche Theologie ist missionarische Theologie. Zu den Folgerungen, die aus der 5. KMU zu ziehen ist, gehört die Rückbesinnung auf die missionarische Dimension der Kirche und ihres Auftrags. Dieses Thema darf nicht allein den Freikirchen und charismatischen Kreisen überlassen werden.
Ulrich H. J. Körtner, Wien