Achtsamkeit
Achtsamkeit gilt als ein Grundprinzip im Buddhismus. Seit 2600 Jahren wird diese Geisteshaltung in buddhistischen Klöstern geübt. Doch heute ist „Achtsamkeit“ in aller Munde. In der Personalführung, im Coaching, in der Psychotherapie, selbst in kirchlichen Bildungshäusern und Meditationskursen werden fernöstliche Bewusstseinsprinzipien intensiv eingesetzt (Freund/Utsch 2015). Mit einer achtsamen Haltung soll sogar alltägliches Verhalten an Tiefe und Bedeutung gewinnen. Die Gesellschaft hat sich durch die enorme Verbreitung sozialer Medien verändert. Die Überfülle an medialen Reizen und eine Erwartung von Multitasking-Fähigkeiten werden immer häufiger als Überforderung erlebt. Angesichts dieser Entwicklung ist konzentrierte Aufmerksamkeit heute sehr gefragt.
Was ist Achtsamkeit?
Achtsamkeit ist die deutsche Entsprechung des Pali-Begriffs satipatthana. Damit wird im Buddhismus eine Form konzentrierten Bewusstseins verstanden, in der es sich selbst und alle Außeneindrücke wahrnimmt. Achtsamkeit wird als absichtsvolle, nicht-wertende Lenkung der Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick definiert. Es handelt sich aber um eine komplexe Praxis, die neben dieser bewussten Aufmerksamkeitslenkung auch die Schulung der Absicht und der Haltung einbezieht. Um den Prozess als Ganzes zu verstehen, soll die buddhistische Lehre von der Freiheit vom Leiden in Bezug auf sich selbst und alle Wesen als Absicht und Haltung verinnerlicht werden. Die andauernde Geistesschulung der Achtsamkeit stellt das Erlangen von Weisheit in Aussicht. Es soll möglich werden, jenseits von begrifflichen und emotionalen Konzepten eine Einsicht in die Wirklichkeit zu erhalten, „wie sie ist“.
Achtsamkeitsübungen wie der Body-Scan oder die Atembeobachtung haben eine entspannende Wirkung. Dabei wird eingeübt, den Körper achtsam wahrzunehmen, mit der Aufmerksamkeit ganz bei sich selbst zu bleiben und schrittweise den ganzen Körper oder den Atem zu spüren – von den Füßen bis zum Kopf. Dabei wird Wert darauf gelegt, sich selbst und allen Gedanken, Empfindungen und Gefühlen mit einer wohlwollenden, akzeptierenden Haltung zu begegnen. Im Unterschied zu anderen Entspannungsverfahren wie Progressiver Muskelentspannung oder Autogenem Training ist die Körperhaltung bei der Achtsamkeitsmeditation jedoch nicht entspannt, sondern eine gewisse Körperspannung ist erwünscht.
Körpermeditationen, die sich als Wahrnehmungs- und Konzentrationsübung verstehen und der Gymnastik ähneln, können in Form einfacher Yoga-Übungen oder anderer fernöstlicher Bewegungskünste wie Tai Chi dazu beitragen, Verspannungszustände und Schmerzsymptome zu lindern. Von Entspannungsmeditation in diesem Sinne unterscheidet sich die Versenkungsmeditation, bei der die Bewusstseinserweiterung und die Verbindung zu einem „höheren Selbst“ im Zentrum stehen. Achtsamkeit wurde ursprünglich nicht zur körperlichen und seelischen Entspannung eingesetzt, sondern hatte die religiöse Erleuchtung zum Ziel. Bei säkularen Achtsamkeitskursen steht – wie auch im Yoga – die Entspannung im Zentrum, allerdings sind die Übergänge zur Versenkung und damit die Verknüpfung mit einem weltanschaulichen Überbau je nach Lehrer fließend.
Achtsamkeitsbasierte Konzepte in der Therapie
Seit 50 Jahren ist das Interesse am Thema Achtsamkeit in der Psychotherapie ständig gewachsen, in den letzten zehn Jahren sprunghaft. Die Neugier der Psychotherapeuten in Bezug auf buddhistische Techniken setzte in den 1960er Jahren im Zuge der Hippie-Bewegung und des Protests gegen den Vietnam-Krieg ein. Jack Kornfield, der mehrere Jahre lang den Buddhismus in Thailand, Burma und Indien kennenlernte, gründete 1974 in Kalifornien die bis heute einflussreiche Gesellschaft für Einsichts-Meditation (www.dharma.org). 1979 entwickelte der amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn einen säkularisierten achtwöchigen Kurs zur achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR, „Mindfulness-Based Stress Reduction“). Das Programm trat einen Siegeszug an und wird erfolgreich bei Schmerz- und Burnout-Patienten eingesetzt.
Es existieren gesicherte Erkenntnisse darüber, dass die Achtsamkeitsmeditation als ein körperorientiertes Entspannungsverfahren der Gesundheit dient: Durch regelmäßige Meditationspraxis hergestellte Entspannungszustände stärken das Immunsystem und erhöhen die Belastbarkeit des Herz-Kreislauf-Systems. In den USA haben Kliniken weltanschaulich neutrale Meditationstechniken als festen Bestandteil in ihr Therapieprogramm aufgenommen und erzielen damit beachtliche Erfolge. Achtsamkeitstechniken werden in der Trauma-Therapie, bei der Behandlung von Depressionen und Angststörungen, Schmerzen und Stress-Symptomen eingesetzt.
2013 wurde ein amerikanischer Forschungsverbund für Achtsamkeitsstudien gegründet, der evidenzbasierte Fakten für den Prozess, die Praxis und das Konzept von Achtsamkeit sammelt (https://goamra.org). Ein monatlicher Newsletter wertet die in den letzten Jahren sprunghaft angestiegenen wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema aus und verhilft damit zu einem besseren Überblick.
Der Buddhismus wird heute in der Psychotherapie auf seine therapeutischen Ressourcen hin fruchtbar gemacht und wissenschaftlich ausgewertet. Das buddhistische Geistestraining will neuartige Möglichkeiten zur Überwindung von ungünstigen Selbstkonzeptionen zur Verfügung stellen. Die buddhistisch geprägten Psychologen sind sich darin einig, dass durch die gezielte Einbeziehung von Meditation eine nachhaltige Bewusstseinsveränderung erreicht werden kann. Der Zugang zu einem achtsamen Gewahrsein sei auch inmitten von Leid und Schmerzen möglich. Insbesondere wird auf die Kultivierung von Mitgefühl und die Entwicklung von Selbstmitgefühl hingewiesen. Studien deuten darüber hinaus an, dass Psychotherapeuten, die selbst meditieren, bessere Therapieergebnisse erzielen als Kollegen ohne eine entsprechende Praxis.
Durch die Verbindung von buddhistischen Praktiken mit verhaltenstherapeutischen Modellen sind mehrere empirisch überprüfte Psychotherapieverfahren entstanden. Das Weltbild des Buddhismus kann gut mit dem Ansatz der Verhaltenstherapie verbunden werden, weil beide Traditionen wirkungsvolle Übungen zur Gefühlswahrnehmung und -veränderung entwickelt haben. Aber auch aus psychoanalytischer Sicht ist das Interesse am Buddhismus hoch, weil auf beiden Wegen innere Einstellungen genauer analysiert werden.
Achtsamkeitsbasierte Konzepte zielen einerseits auf die Verbesserung der Akzeptanz unangenehmer Lebensumstände und Emotionen, andererseits auf die Verbesserung einer emotionsfreien Beobachtung innerseelischer Prozesse.
„Achtsamkeit“ hat die Meditationsbewegung abgelöst
Achtsamkeit als Wahrnehmungstraining für den Augenblick ist kein Alleinstellungsmerkmal buddhistischer Geistesschulung. Über die Jahrhunderte entstand auch in den christlichen Traditionen eine Vielzahl von Übungswegen der geschulten Aufmerksamkeit für die unsichtbare Gegenwart Gottes. Sowohl in der Ost- als auch der Westkirche wurden Gebets-, Meditations- und Kontemplationstechniken entwickelt und kultiviert, aus denen unterschiedliche Schulen der Gottesbegegnung wie das Herzensgebet, die ignatianischen Exerzitien oder das betrachtende Gebet entstanden sind.
Im Unterschied zu den buddhistischen Schulungswegen, deren Wirksamkeit empirisch gut belegt ist, sind die christlichen Meditationsformen bisher wissenschaftlich kaum untersucht worden. Als ein Grund für die Zurückhaltung gegenüber empirischen Wirksamkeitsprüfungen der Meditation ist die Überzeugung von der Unverfügbarkeit Gottes zu nennen, dessen Gegenwart nicht durch meditative Techniken hergestellt werden kann.
Seit den 1970er Jahren haben sich auch in den christlichen Einkehrhäusern asiatische Versenkungsmethoden wie Yoga, Zen und Achtsamkeit ausgebreitet. Diese Methoden haben nicht die christlich-kontemplative Tradition im Sinne der biblischen Betrachtung (lectio divina) weitergeführt, sondern zeitgenössische Trends der Körperkultur und der transpersonalen Psychologie aufgegriffen und buddhistische und neuhinduistische Elemente hinzugefügt. Dadurch hat die Meditationspraxis in Bezug auf die Körperhaltung, Atmung und Entspannung wesentliche Neuerungen erfahren. Mittlerweile haben die Achtsamkeitsmethoden die in die Jahre gekommene Meditationsbewegung abgelöst.
Allerdings verändern sich durch die östlichen Meditationspraktiken auch die Inhalte. Eine Studie der Universität Aachen belegt, dass fortgeschrittene Praktiker christlicher Meditation hauptsächlich dem Ursprung nach nicht christliche Formen wie Zen oder Achtsamkeit üben. Meuthrath befragte Christen, die entweder mehrjährige Übungserfahrungen in einer östlichen Meditationsform (Zen, Vipassana, Achtsamkeit: 451 Befragte) oder in einer christlichen Meditationsform (hauptsächlich nach der Würzburger Schule der Kontemplation, einige das Herzensgebet: 311 Befragte) praktizieren. Die Befragten dieser Studie erlebten die östliche Meditation überwiegend als „christlich“. Die Studie belegt, dass sich die christliche Identität und das Menschen- und Gottesbild durch die zumeist östliche Meditationspraxis der Befragten maßgeblich geändert hat.
Einschätzung
Die aufmerksame Wahrnehmung des Körpers verrät viel über den seelischen Zustand, und eine gezielte Körperentspannung beruhigt auch die Seele. Achtsamkeitsübungen können einseitig mentale Meditationsformen sinnvoll erweitern und ausgleichen. Allerdings wird oft übersehen, dass der Buddhismus den Menschen gänzlich anders definiert als die westliche Psychologie. Weil es bei Achtsamkeit nicht nur um die Wahrnehmungsverfeinerung, sondern auch um Haltung und Absicht geht, müssen die anthropologischen Vorentscheidungen des buddhistischen Welt- und Menschenbildes reflektiert und berücksichtigt werden.
Anbieter von Achtsamkeitsverfahren behaupten oft die weltanschauliche Neutralität dieser Methode. Schaut man aber genauer hin, ist eine Zweigleisigkeit zu erkennen. Gerade bei MBSR-Kursen wird mit Blick auf Krankenkassen nach außen hin ein verhaltensmedizinisches, weltanschaulich neutrales Programm verkauft, das nach innen jedoch eindeutig auf buddhistischer Psychologie und Philosophie basiert. Die achtsame Wahrnehmung des Augenblicks will begriffliche Konstrukte überwinden und die Wirklichkeit erkennen, „wie sie ist“. Das spirituelle Ziel, den leidvollen Kreislauf des Lebens zu überwinden, steht damit im Gegensatz zu Achtsamkeitsübungen im Gesundheitskontext, wo funktional Stress reduziert und Krisen überwunden werden sollen.
Manchmal wird die achtsame Versenkung in der buddhistischen Tradition mit der kontemplativen Herzensruhe im Christentum gleichgesetzt. Unter der Voraussetzung eines mystischen Kerns aller Religionen wird von einem vergleichbaren Erleben ausgegangen. Dabei verschwimmen jedoch wichtige Unterschiede, weil beide Wege von anderen Prämissen ausgehen. Eine klassische Methode zur Wahrnehmung der Gegenwart Gottes ist die geistliche Lesung (lectio divina). Dieser in der monastischen Theologie entwickelte Schulungsweg verfährt in der Abfolge von lectio (Schriftlesung), meditatio (bedenken), oratio (Gebet) und contemplatio (Herzensruhe). Um in den Zustand der vom Geist Gottes „eingegossenen Beschauung“ oder Herzensruhe zu gelangen, sind die genannten drei vorbereitenden Schritte unverzichtbar. In der buddhistischen Achtsamkeit geht es um die Befreiung des Menschen von der Ich-Anhaftung, in der christlichen Meditation um die Vorbereitung auf die Begegnung mit Gott.
Für den christlichen Glauben ist die Gottesbeziehung konstitutiv, in den Worten Hans-Martin Barths (2008, 82): „Glaube ist die – von Gott geschenkte – Gottesbeziehung des Menschen.“ Während das Nicht-Anhaften und die Leere zentrale Entwicklungsziele im Buddhismus darstellen, ist als spezifisch christliches Merkmal die in der Meditation gepflegte Gottesbeziehung zu nennen, durch die der Meditierende nicht bei der Innenschau stehen bleibt, sondern sich den Nöten der Welt zuwendet.
Literatur
Karl Baier, Meditation und Moderne (2 Bde.), Würzburg 2009
Hans-Martin Barth, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen, Gütersloh 2008
Henning Freund/Michael Utsch (Hg.), Achtsamkeit aus psychologischer und theologischer Sicht, EZW-Texte 235, Berlin 2015
Jack Goldstein/Jack Kornfield, Einsicht durch Meditation. Die Achtsamkeit des Herzens – Buddhistische Einsichts-Meditation für westliche Menschen, München 1996
Michael Harrer/Halko Weiss, Wirkfaktoren der Achtsamkeit, Stuttgart 2016
Jon Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation. Das große Buch der Selbstheilung, Frankfurt a. M. 2006
Annette Meuthrath, Wenn ChristInnen meditieren. Eine empirische Untersuchung über ihre Glaubensvorstellungen und Glaubenspraxis, Münster 2014
Dieter Vaitl, Meditation, in: ders., Veränderte Bewusstseinszustände, Stuttgart 2012, 294-328
Michael Utsch