Akademischer „Social Justice“-Aktivismus als „Kulterfahrung“
Viele haben inzwischen auf die weltanschaulichen, parareligiösen Züge hingewiesen, die man in den aus angelsächsischen Universitäten kommenden „Social Justice“-Bewegungen und den dazugehörigen akademischen „Identity Studies“ beobachten kann. Der Linguist John McWhorter (Universität Columbia) widmet der Religionsförmigkeit dieser „New Millennial Church of Social Justice“ (Freddy Gray) ein ganzes Buch.1 Die Kämpfe für Anliegen wie Antirassismus, Antikolonialismus, Geschlecht(ervielfalt), die Rechte sexueller Minderheiten bzw. der Kampf gegen die dazugehörigen Neologismen „Homophobie“, „Transphobie“, „Heteronormativität“ usw. glitten demnach oft ins Sektiererische ab. Die Anhänger verträten einen Absolutheitsanspruch mit quasi messianischen Versprechungen von einer Welt ohne Rassismus, ohne Sexismus, ohne Ungleichheit (wobei Unterschiede als Ungleichheit gelten und kurzschlüssig zur Ungerechtigkeit erklärt werden). Passenderweise bezeichnen sich die Anhänger tatsächlich selbst mit dem englischen Sammelbegriff „woke“ („erwacht“). Er bezeichnet die politisch korrekte Einstellung bei allen Fragen, die z. B. Rasse(nbeziehungen), Geschlecht, Sexualität, Genetik/Erblichkeit betreffen.
Obwohl als „Social Justice“ zusammengefasst, hat die Bewegung mit dem, was man traditionell unter sozialer Gerechtigkeit (social justice) versteht, kaum etwas gemeinsam. Die dem Aktivismus zugrunde liegenden Lehren sind in der Regel nicht fachwissenschaftlicher Provenienz, kommen also nicht aus den Natur-, sondern aus den Sozialwissenschaften. Sie machen zum Beispiel Aussagen über biologische Realitäten, fußen aber nicht auf Erkenntnisfortschritten durch naturwissenschaftliche Forschung, sondern auf sozialen Zielvorstellungen. Dahinter steht die Vorstellung einer „Wissenschaft“, die die Welt nicht mehr primär verstehen, sondern vor allem verbessern will. Wo diese Theorien zur Praxis werden, führen sie oft zur sogenannten „Cancel Culture“. Das heißt, wissenschaftlich begründeter Widerspruch und abweichende Meinungen werden nicht mehr als Teil des akademischen Diskurses betrachtet, sondern sollen durch Protest bis hin zu Hetzkampagnen und Gewalt zum Verstummen gebracht werden („Keine Bühne für …“).
Diese Entwicklungen erfahren nun zunehmend Gegenwind. In verschiedenen Ländern erschienen Manifeste, die die Gefährdung von freier Rede und wissenschaftlicher Debattenkultur durch den Social-Justice-Aktivismus kritisieren (Deutschland: „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, Februar 2021; international: A letter on justice and open debate, Juli 2020). Sie warnen vor dem Entstehen einer wissenschaftsfeindlichen und antidemokratischen Kultur, in der sich multiple alternative Wirklichkeiten als antiliberale Dogmen etablieren, während traditionelle wissenschaftliche Erkenntnismethoden, Ambiguitäten, Nuancen und kritische politische Ansichten unerwünscht sind. Bei alledem handelt es sich nach Ansicht der Kritiker um einen Konflikt zwischen wissenschaftlicher Vernunft und Ideologie, nicht um einen politischen Konflikt entlang links-rechter Strickmuster. Die Warnungen vor dem Phänomen gehen von Vertretern quer durch das politische Spektrum aus. Zuletzt legte im April 2021 Sahra Wagenknecht eine vernichtende Kritik dieser „identitätslinken“ Ansätze vor („Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“, Frankfurt a. M. 2021).
Die „Cancel Culture“ im Namen von „Sozialer Gerechtigkeit“ hat viele Menschen den Job gekostet, manche zu demütigender öffentlicher Abbitte wider besseres Wissen gezwungen. Andere wie die Sexualwissenschaftlerin Debra Soh („The End of Gender“, New York 2020) gaben akademische Karrieren auf, um den universitären Denk- und Redetabus zu entgehen. Inzwischen sind die Fälle so zahlreich, dass nur noch wenige behaupten, das Phänomen existiere gar nicht, darunter nicht zuletzt diejenigen, die aktiv daran beteiligt sind.2 Sie begrüßen die Einschränkung der Redefreiheit ausdrücklich, wenn es sich um ihrer Ansicht nach verwerfliche Meinungen handelt.
Unterschiedlich reagieren die Universitätsleitungen. Einige bieten „Social Justice“ als Studienfach an, schicken die Studenten zum Protestieren, erlassen Sprachvorschriften, streichen klassische Unterrichtsinhalte, richten „safe spaces“ und „Triggerwarnungen“ ein, mit denen sensible Gemüter vor Verunsicherung durch fremde Gedanken geschützt werden. Andere reagieren genau umgekehrt: Sie erlassen Verordnungen zum Schutz der freien Rede und Debattenkultur. Sie drohen mit Disziplinarmaßnahmen, wenn Studenten nicht nur protestieren, sondern versuchen, Auftritte ihnen unliebsamer Redner durch Gewalt oder Niederbrüllen zu verhindern.3
Die Bereitschaft, „falsche“ Meinungen zu unterdrücken, reicht heute bis in Zeitungsredaktionen und Parlamente. Als 2020 die britische Regierung ein Gesetz gegen die Cancel Culture an Universitäten vorbereitete, erklärte die 24-jährige Labour-Abgeordnete Nadia Whittome: „Wir dürfen ‚Debatte‘ nicht fetischisieren, so als sei Debatte etwas Neutrales, Ungefährliches. Schon die Debatte ist in diesen Fällen [hier „Transphobie“] ein Rückschritt und ein Schritt zu Zweifel und Hass“ (Twitter, 23.7.2020). In Finnland kam die christdemokratische Parlamentarierin und ehemalige Innenministerin Päivi Räsänen wegen „Hassrede“ vor Gericht, nachdem sie in Debatten über die gleichgeschlechtliche Ehe Bibelverse zitiert hatte.
Bei der New York Times, einst ein Flaggschiff des liberalen Qualitätsjournalismus, verließen in jüngerer Zeit mehrere altgediente Journalisten unfreiwillig das Blatt, nachdem Kollegen oder Twittermobs wegen nicht genehmer Ansichten protestiert hatten. Bari Weiss, die selbst kündigte, beschrieb die Konflikte als Kulturkampf zwischen der jungen „Woke“-Garde und den reiferen Journalisten alter Schule.
Relativ selten sind kritische Berichte aus dem Innenleben der Social-Justice-Bewegungen. Einen solchen hat jüngst die Stanford-Studentin Lucy Kross Wallace auf der Internetseite „Quillette“ veröffentlicht. Sie beschreibt darin ihre eigene Social-Justice-Karriere als eine Art Sektenerfahrung. (Quillette ist eine australisch-britisch-kanadische Plattform, die sich als „home of heterodox ideas and fearless commentary“ beschreibt. 2015 gegründet ist sie mit bis zu zwei Millionen monatlichen Zugriffen eine der erfolgreichsten Seiten, die als Reaktion auf den stattfindenden Kulturkampf entstanden sind.) In einem Artikel und einem Podcast beschreibt Wallace, wie sie in die Szene geriet, zu einer Social-Justice-Kriegerin („Social Justice Warrior“) mutierte und sich dabei ihre Weltsicht zu einem schwarzweißen Raster und ihr Selbstbild zu einer umfassenden Opferidentität veränderte – und wie sie wieder aus der geistigen Selbstisolation herausfand.4
Schon in der Schule beobachtete sie – zunächst desinteressiert – Mitschüler, die von „heiligem Zorn“ gegen vermeintlich allgegenwärtige Ungerechtigkeiten erfüllt waren. Egal wie kleinlich und an den Haaren herbeigezogen die jeweiligen Beschwerden wurden, erfuhren sie nie Widerspruch von Mitschülern, Lehrern, Schulverwaltung. „Wer wagt es, dem Streben nach Gerechtigkeit zu widersprechen?“ An der Universität fand Wallace über das Thema „Ableism“ (Behindertenfeindlichkeit, von disabled) selbst Zugang zu der Szene. Sie unterscheidet sich von den meisten anderen Social-Justice-Aktivisten, insofern sie als Autistin eigene Problemerfahrungen hat. In Stanford begegnete sie erstmals der „Neurodiversitätsbewegung“. Nach deren postmodernem Verständnis sind Krankheit und Behinderung keine physischen Realitäten, sondern nur soziale Konstrukte der Mehrheitsgesellschaft, um „die anderen“ oder Andersbegabte zu diskriminieren. Dieser radikale Konstruktivismus ist der Grundpfeiler aller identitären Social-Justice-Bewegungen – Phänomene wie Geschlecht, Rasse, Behinderung, Begabung seien (fast) keine natürlichen Wirklichkeiten, sondern unterdrückerische Konstrukte. Auf ihre Behinderung angewandt, ergab plötzlich alles Leiden in Wallace‘ bisherigem Leben Sinn. Ihre Krankheit war nicht Ausdruck eines unerklärlichen Schicksals, sondern sie war das Opfer von Diskriminierung. Die Dichotomie von Unterdrückern und Unterdrückten wurde zum Universalschlüssel ihrer Weltanschauung. Nicht sie hatte ein Problem namens „Autismus“, sondern die Gesellschaft machte sie als behinderte Person zum Problem.
In Deutschland übrigens propagierten Behindertenverbände diese Sicht schon vor Jahrzehnten unter dem Slogan „Wir sind nicht behindert, wir werden behindert“. Im Hintergrund stehen seriöse Analysen wie Michel Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1961), die den historisch wechselnden Umgang mit (psychischer) Krankheit untersuchen. Sie werden heute zu der Behauptung trivialisiert, es gebe gar keine vorgegebene Realität von Krankheit. Wer das behaupte, sei am Erhalt von unterdrückenden Strukturen interessiert. Für Lucy Wallace bedeutete das: „Mein Opferstatus entband mich von Handlungsmacht und daher von Kritik. Alles war die Schuld anderer.“ Die Rolle des Autisten wird neu definiert: nicht krank, sondern unglaublich anders talentiert. Heilungsversuche gelten als Zumutung („We don’t want to be cured“).
Allerdings war die Wirklichkeit recht sperrig: Ein umfassendes Gesundheitswesen und zahlreiche Hilfsangebote sind nicht für jedermann einsichtige Formen von Unterdrückung. Darum beginnt Wallace allerorten in kleinsten Details Anstößiges und Behinderte Diskriminierendes zu entdecken („Dieser Schlüsselanhänger ist unfassbar beleidigend“). Der subjektive Selbstwertgewinn durch ihre vermeintlich tiefere Wirklichkeitserkenntnis gegenüber der großen Masse war groß. Im Rückblick glaubt Wallace, sie habe sich in dieser Phase von andersdenkenden Menschen und anderen Ansichten völlig abgeschirmt, um ihre Weltsicht nicht zu gefährden. Kognitive Dissonanzen und logische Fragen verbot sie sich („Wie kann das Geschlecht ein Konstrukt, aber Homosexualität eine natürliche Gegebenheit sein? Warum ist kulturelle Appropriation eigentlich schlecht? Kann es eine non-binäre Lesbe geben? Muss sich immer alles um Rasse drehen?“) Ihre Mitstreiter rieten ihr davon ab, sich verunsichernden Stimmen von Kritikern auszusetzen.
Zu den Grundlagen der diversen Identitätsbewegungen gehört die „Intersektionalität“, d. h. die Kombination verschiedener Opferidentitäten (schwarz, weiblich, homosexuell, „queer“, transsexuell, behindert …). Sie begründet eine Hierarchie der Opfer: Je mehr Merkmale man erfüllt, desto höher der Rang (dem entspricht weniger explizit eine intersektionale Täteridentität, an deren Spitze der inzwischen sprichwörtliche „alte weiße Mann“ steht).
Wallace geriet in Schwierigkeiten, als im Sommer 2020 die Bewegung „Black Lives Matter“ (BLM) aufflammte. BLM katapultierte sie in der Opferhierarchie weit nach unten. Als Frau und Autistin hatte sie doppelte Opfererfahrung, war aber nicht schwarz. Bei BLM und „Critical Race Theory“ wurde sie allein wegen ihrer Hautfarbe („white privilege“) als Teil des Rassismusproblems ausgesondert. Die vormalige Selbstgerechtigkeit als Behindertenaktivistin verwandelte sich rapide in Schuldgefühle und schließlich Selbstverachtung. Egal an wie vielen BLM-Aktivitäten sie teilnahm, wie viele Unterschriftenlisten sie zeichnete, wohin sie auch spendete, wie sehr sie an der Entwicklung eines korrekten kritischen Bewusstseins arbeitete: Für sie als Weiße war die Botschaft immer: „Du bist das Problem“.5
Schließlich bricht sie zusammen und schreibt einer Freundin: „Ich weiß nicht, ob ich mithalten kann. Die Latte liegt immer höher.“ Die Freundin antwortet mit einem Link zu einem Artikel auf der Webseite „New Discourses“ (newdiscourses.com). Betrieben von dem Mathematiker James Lindsay ist sie ähnlich erfolgreich wie „Quillette“ und engagiert sich gegen die diversen identitätspolitischen Ideologien zugunsten faktenbasierter Wissenschaft. Lindsay hat 2018 zusammen mit Helen Pluckrose und Peter Boghossian in der sogenannten „Grievance Studies Affair“ die wissenschaftlichen Ansätze auf den Gebieten Gender Studies, Critical Race Theory und „Queer Studies“ bloßgestellt. Sie brachten bei anerkannten Fachzeitschriften Artikel mit absurden Thesen unter, die in dem jeweiligen scheinbar hoch komplexen Fachjargon abgefasst, aber inhaltlich sinnlos waren: Lange Passagen aus „Mein Kampf“ wurden im Stil des intersektionellen Feminismus umgeschrieben, dabei „Juden“ durch „Frauen“ ersetzt, andernorts wurde der Penis als Zeichen performativer Männlichkeit in einen Zusammenhang mit dem Klimawandel gestellt oder die Vergewaltigungskultur unter Hunden untersucht – mit dem Schluss, man könne Männer wie Rüden trainieren, um Vergewaltigungen vorzubeugen. Einer der Nonsense-Artikel gewann sogar eine Auszeichnung.6
Nachdem Wallace einiges auf „New Discourses“ gelesen hatte, was allen ihren bisherigen Glaubensinhalten widersprach, ohne dass die Welt stehenblieb, kam sie zu dem Schluss, dass ihre eigene Weltsicht verschwörungstheoretische Züge trug: „Ich hatte glauben wollen, dass mein Leiden durch irgendeine finstere, allgegenwärtige Unterdrückungsmacht verursacht war. Aber die Wirklichkeit war komplizierter und weniger befriedigend.“ In der Tat liegen die Parallelen zwischen den aktivistischen Identitätsstudien und konspirationistischen Weltanschauungen auf der Hand: schwarzweiße Wirklichkeitswahrnehmung (Unterdrücker gegen Unterdrückte), einfache Erklärungen für hoch komplexe soziale Phänomene, Ignorieren und Bekämpfen von widerstreitenden Fakten, alternativen Erklärungen, kritischen Fragen und abweichenden Meinungen, deren störende Existenz als Beleg für die diffuse Allgegenwart „systemischer“ Unterdrückungsstrukturen dient. Am Ende sind die vagen Behauptungen von struktureller Unterdrückung de facto unwiderlegbar. Ebenfalls vergleichbar ist die Frustrationserfahrung für diejenigen, die mit den Anhängern diskutieren wollen. Der Fall Lucy Wallace zeigt Elemente, die beim Ausstieg aus solchen weltanschaulichen Kreisen helfen können: Freundschaften außerhalb des Milieus und die ernsthafte Auseinandersetzung mit Ideen außerhalb der eigenen Blase. Für jene, die beim Ausstieg helfen oder auch nur im Kulturkampf Brücken schlagen wollen, gibt es von Peter Boghossian und James Lindsay ein hilfreiches Buch: „How to Have Impossible Conversations. A Very Practical Guide“,Boston 2019.
Kai Funkschmidt, 01.05.2021
Anmerkungen
- John McWhorter: Neoracists Posing as Antiracists and their Threat to a Progressive America. Er befasst sich insbesondere mit dem „Third Wave“-Antirassismus, vgl. https://johnmcwhorter.substack.com/p/the-elect-neoracists-posing-as-antiracists (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 6.5.2021).
- Ein Beispiel für viele: Vojin Saša Vukadinović: Chronik einer orchestrierten Verleumdung, FAZ, 18.3.2021, https://tinyurl.com/8292p42y.
- Kritisch zu diesen Maßnahmen: Jeremy Peters: In Name of Free Speech, States Crack Down on Campus Protests, New York Times, 14.6.2018, https://tinyurl.com/4dxxx33m.
- Lucy Kross Wallace: My Brief Spell as an Activist, 14.10.2020, https://quillette.com/2020/10/14/my-brief-spell-as-an-activist.
- An diesem Beispiel hat der kanadische Kabarettist Ryan Long in einem Sketch die enge geistige Verwandtschaft zwischen Rassismus und Wokeness humorvoll aufgespießt (YouTube: When Wokes and Racists Actually Agree on Everything, tinyurl.com/7k6wt5nd)
- Vgl. Peter Boghossian / Helen Pluckrose: Cynical Theories. How Activist Scholarship Made Everything About Race, Gender, and Identity: And Why This Harms Everybody, Durham 2020.