Islam

Aktivitäten der Schiiten in Deutschland

Die Aktivitäten der Schiiten in Deutschland werden in der Öffentlichkeit wahrnehmbarer. Erstmals hat die „Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands“ (IGS) Anfang Juli 2014 auf Bundesebene zum Fastenbrechen eingeladen. In die unlängst bezogenen, noch nicht fertig ausgebauten Räumlichkeiten in Berlin-Neukölln kamen rund 120 Gäste, darunter etliche Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Kirchen und Verbänden. Neben dem Grußwort des Vertreters von Großayatollah Sayyid Sistani in Europa und Nordamerika, das verlesen wurde, war der Vorstandsvorsitzende der IGS, Scheich Mahmoud Khalilzadeh vom Zentrum der islamischen Kultur in Frankfurt, zu hören. Er wurde vom Zuständigen für Öffentlichkeitsarbeit übersetzt. Ebenso sprach Ayatollah Reza Ramezani, der Vorsitzende des Gelehrtenrats der IGS und zugleich Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg (IZH) sowie Mitglied des iranischen „Expertenrats“. Ehrengast Staatsministerin Aydan Özoğuz (SPD) nutzte die Gelegenheit, um einige Punkte der aktuellen Integrationspolitik zu erläutern. Ein weiterer Frankfurter, der Jurist Ünal Kaymakçı, übernahm die Einleitung. Er ist IGS-Vorstandsmitglied für Recht und Struktur und stellvertretender Vorsitzender der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen (IRH); 2010 war er in die Affäre um die israelfeindlichen Äußerungen des damaligen Imams der Frankfurter Hazrat-Fatima-Moschee verwickelt, der unter anderem für den Al-Quds-Tag geworben hatte (s. Rücktritt eines Imams in Frankfurt, MD 4/2010, 144-146).

Nach wie vor ist der „Al-Quds-Tag“ eine Veranstaltung der Schiiten, genauer der „Quds-AG der Islamischen Gemeinden der Schiiten in Deutschland“, die dem Berliner Verein „Islamische Gemeinde der Iraner in Berlin-Brandenburg“ zugerechnet wird. Dieser wiederum ist Mitglied in der IGS. In diesem Jahr wurde in der aufgeheizten Stimmung vor dem Hintergrund der israelischen Militäroffensive im Gaza-Streifen und vorangegangener teilweise aggressiver Demonstrationen mit antisemitischen Parolen eine besonders hohe Beteiligung erwartet. Dem war dann nicht so, jedoch nahmen an der Berliner Kundgebung Ende Juli immerhin über 1000 Menschen teil, die von fast ebenso vielen Polizisten von den etwa 600 Gegendemonstranten ferngehalten wurden. Die Polizei hatte verschärfte Auflagen gemacht, man war offenbar bemüht, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Jährlich protestieren zum Ende des Fastenmonats Ramadan (vor allem schiitische) islamistische Gruppen gegen Israel und fordern die Vertreibung der „Zionisten“ und die Rückeroberung Jerusalems. Der Al-Quds-Tag („Jerusalem-Tag“) wurde zu Beginn der iranischen Revolution 1979 von Ayatollah Khomeini eingeführt und ist im Iran offizieller Feiertag und Anlass für Massendemonstrationen. Auch in Deutschland gibt es seit Jahrzehnten Kundgebungen, die zentrale Veranstaltung findet seit 1996 in Berlin statt.

Die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands wurde nach einem längeren Anlauf im März 2009 in Hamburg gegründet. Der Dachverband stellt die Vertretung der schiitischen Gemeinden auf Bundesebene dar und versteht sich als Religionsgemeinschaft. Waren es zu Beginn gut hundert Mitgliedsgemeinden, gehören heute nach eigenen Angaben rund 150 Gemeinden und damit „praktisch alle“ Schiiten in Deutschland, die mehrheitlich aus der Türkei, Afghanistan, dem Iran, dem Libanon, dem Irak und Pakistan stammen, zum Verband.

Erster Vorsitzender war Ayatollah Seyyed Abbas Hosseini Ghaemmaghami, von 2006 bis 2009 Leiter des IZH. Das vom Iran gesteuerte Hamburger Zentrum (Imam Ali Moschee) ist die wichtigste schiitische Instanz in Deutschland, übrigens auch Gründungsmitglied des Zentralrats der Muslime (ZMD). Ghaemmaghami wurde kurz nach Gründung der IGS durch Reza Ramezani ersetzt. Er hatte sich zuvor verstärkt dem Dialog mit der Gesellschaft und der konstruktiven Auseinandersetzung mit dessen Bedingungen zugewandt. Zum Abschied hinterließ er einen Brief an seine Gemeinde mit aufschlussreichen Erklärungen. So äußerte er zum Islam in der westlichen Gesellschaft unter anderem: „Man sollte nicht denken oder sich vorstellen, dass der im Kern der westlichen Gesellschaften bestehende Säkularismus ein großes Hindernis für den Glauben und eine islamische Lebensführung sei. Das Ergebnis des in dieser Gesellschaft anerkannten Säkularismus ist nichts anderes als Pluralismus mit Gesellschaftsmitgliedern, die im Rahmen des gegenseitigen Verständnisses und der Wahrung ihrer Rechte verschiedene religiöse Identitäten und als Minderheiten und Mehrheiten die gleiche individuelle und religiöse Freiheit haben ... Das ‚Einheimischwerden des Islam und der Muslime‘ ist ein Prozess, dessen Verwirklichung wie auch das Erzielen von Ergebnissen mit der Kenntnis der vorhandenen Kapazitäten dieser Gesellschaft möglich ist ... Ich teile nicht die Meinung derjenigen, die für den Schutz dieser Identität [der islamischen; F. E.] die Gegensätzlichkeit und Distanz zu der Gesellschaft für erforderlich halten; ich bin vielmehr grundsätzlich und prinzipiell davon überzeugt, dass ein Erreichen dieses Zieles nur unter der Voraussetzung eines gegebenen gegenseitigen Verständnisses möglich ist ... Man kann ... nicht physisch in dieser Gesellschaft und gedanklich in irgendeinem anderen Land sein. Wenn wir in diesen Gesellschaften gegenwärtig sind, müssen wir in diesen auch leben, unser Zuhause gestalten und als Muslim und gläubiger Mensch leben“ (www.ieus.de/mitteilungen/Hier-leben-denken-und-das-Zuhause-gestalten).

Inwieweit Auseinandersetzungen um die Richtung der IGS eine Rolle spielten, ist schwer zu sagen, jedenfalls war die IGS offenkundig eine ganze Zeit lang hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, bevor sie im vergangenen Jahr verstärkt an die Öffentlichkeit trat. Mit einer großen Einladung zum schiitischen Festgedenktag Ghadir Khumm in Mainz im Oktober 2013 – unter neuem Logo –, diversen Pressemitteilungen, etwa dem Protest gegen das Verbot des Vereins „Waisenkindprojekt Libanon e. V.“ im April 2014, und nun der Einladung zum Fastenbrechen in Neukölln meldete sich eine Stimme zu Wort, die, wenn sie sich nicht zu sehr auf die politische Ebene einließe, einen wichtigen Beitrag zur Differenzierung in den gesellschaftlichen Islamdebatten leisten könnte. Denn die (imamitische) schiitische Theologie weist interessante Unterschiede auf zu den Formen der sunnitischen Theologie, die uns durch die große Mehrheit der sunnitischen Muslime und durch die sunnitisch dominierten Verbände mehr oder weniger geläufig sind – und die wir meist unbedacht mit „dem“ Islam gleichsetzen: in der Reflexion von Passion, Sünde und Sühne; in der Bedeutung einer Endzeiterwartung; vor allem aber in der Betonung der rationalen Begründung religiöser Praxis gegenüber einer verrechtlichten Auffassung von Religion sowie in der allegorischen Auslegung des Korans, über dem – jedenfalls prinzipiell – immer die Autorität der Imame, der allein legitimen Führer des Islam, steht, wodurch eine größere Flexibilität der Lehrbildung grundsätzlich gegeben ist.


Friedmann Eißler