Aktuelles zur Aufstellungsarbeit nach Hellinger
Die Publikationswelle zu Hellingers Systemaufstellungen ebbt nicht ab. In seinem achtzigsten Lebensjahr – im Dezember feiert Hellinger einen runden Geburtstag – hat der Gründer dieser umstrittenen Therapiemethode selber zwei Bücher vorgelegt. Dort erläutert er erneut seine „angewandte Philosophie“ („Wahrheit in Bewegung“) und verspricht sogar eine grundsätzliche Lösung für die Konflikthaftigkeit des Menschseins („Der große Konflikt: Die Antwort“).
Die Fachwelt hat allerdings aufgrund ihrer überzogenen Ansprüche längst mit Hellingers Methode gebrochen. Die beiden Fachverbände für systemische Familientherapie haben sich 2003 bzw. 2004 in Erklärungen von den Systemaufstellungen à la Hellinger distanziert (vgl. MD 1/2005, 27). Besonders die Großgruppen-Veranstaltungen werden angeprangert, in denen ohne ausreichende therapeutische Rahmung den Klienten suggeriert wird, dass selbst gravierende psychische Problemsituationen durch eine einzige Familienaufstellung grundlegend verändert werden könnten.
Trotz solch profunder Kritik stieß auch der 5. Internationale Fachkongress zur Aufstellungsarbeit im Mai 2005 in Köln mit über 1000 Teilnehmern auf unvermindert großes Interesse. Dort wurde u. a. mit Befremden festgestellt, dass diese „Bewegung“ (!) in über 200 Ländern expandiere, nur im Ursprungsland Deutschland würden die Familienaufstellungen argwöhnisch beobachtet und diskreditiert. Deshalb hätten einige Dozentinnen und Dozenten ihre Mitwirkung absagen müssen, denn ihre Arbeitgeber hätten sie auf mögliche negative Folgen bei einer Kongressmitwirkung hingewiesen.
Hellingers populäre und umstrittene Methode – Berichten zufolge arbeiten mittlerweile allein im deutschsprachigen Raum mehr als 2000 Anbieter mit diesem Verfahren – sorgt weiterhin für polemische öffentliche Debatten bis hin zu juristischen Streitigkeiten (vgl. AstA München (Hg.), Niemand kann seinem Schicksal entgehen, München 2004). Eine nicht immer sachlich argumentierende Kritik hat nun ihrerseits ebenso polemische Rechtfertigungen von Anhängern Hellingers auf den Plan gerufen. Wilfried Nelles, Mitveranstalter des Kölner Kongresses, widmet sich z.B. in seiner neuen Publikation besonders den ideologischen Kritikern (Die Hellinger-Kontroverse. Fakten – Hintergründe – Klarstellungen, Freiburg 2005). Er betont, dass es ihm um die Versachlichung und Vertiefung der Diskussion um das Familienstellen gehe. Als vehementer Verfechter von Hellingers Lehren fühle er sich jedoch denunziert und beklagt beispielsweise: „Die AGPF ist der politische Knotenpunkt in einem inquisitorischen Netzwerk, zu dem behördliche Einrichtungen wie die Hamburger ‚Arbeitsgruppe Scientology’ oder das ‚Sekteninfo Essen’ oder kirchliche Institutionen wie die EZW in Berlin ... gehören“. Er konzidiert zumindest: „Niemand, der sich intensiv mit Hellinger und seiner Arbeit befasst, bleibt neutral. Man ist entweder fasziniert oder entsetzt.“ Bei einer solchen Aufspaltung bleibt zwangsläufig wenig Raum für einen konstruktiv-kritischen Umgang mit einer neuartigen Methode.
Es stimmt, Hellingers Verfahren polarisiert. Mitunter drängt heftige Polemik die Argumente in den Hintergrund. Wenn ein Kritiker z.B. von einem „ausgeflippten Missionar“, der mit seiner „therapeutischen Okkult-Technik“ dem „Aufstellungsorakel“ verfallen sei (W. Haas, Familienstellen oder Okkultismus?, Heidelberg 2005), redet, wird er dem „Phänomen Hellinger“ sicher kaum gerecht. Bei allem Respekt vor den akribischen Recherchen und detaillierten Darstellungen, die der Autor in diesem Buch gesammelt hat: die Einbeziehung therapeutischer Interventionen in einer veränderten Bewusstseinshaltung (Meditation, Gebet, wissendes Feld) wird schon seit einigen Jahren intensiv erforscht und dürfte bald auch hierzulande stärkere Beachtung finden. Dies pauschal und diffamierend als mittelalterlichen Spuk abzutun ist unwissenschaftlich. Aus meiner Sicht ist am Familienstellen nicht das Phänomen einer „repräsentierenden Wahrnehmung“ von sog. Stellvertretern das eigentliche Problem, sondern die damit verbundene jeweilige Deutung. Aufstellungen werden derzeit viel häufiger in einem esoterischen Bezugsrahmen angewendet und interpretiert als in einer professionellen Beratungs- oder Therapiebeziehung – das ist eine zentrale Herausforderung, der sich die „Arbeitsgemeinschaft für systemische Lösungen nach Bert Hellinger“ stellen muss! Weil esoterische Lebenshilfe-Angebote ganz im Trend liegen, werden neben Bachblüten-Essenzen und Engel-Orakeln eben gerne auch noch Aufstellungen angeboten. Immerhin hat der junge Verein mittlerweile recht strenge Qualitätskriterien aufgestellt, die eine professionelle Ausbildung voraussetzen und dadurch die Seriosität erhöhen (www.iag-systemische-loesungen.de).
Die Sprache, der sich Hellinger bedient, weist auf einen derzeit herrschenden Trend der Psychoszene hin: ihre unübersehbare Spiritualisierung. Die Beobachtung, dass aufgestellte Systeme mit Hilfe von Stellvertretern verborgene Informationen sichtbar machen können, wird heute von immer mehr Menschen ernst genommen. Die entscheidende Frage lautet nur: Wie werden solche Phänomene gedeutet – symbolisch-hinweisend, magisch-esoterisch oder gar christlich-charismatisch? Leider nimmt Bert Hellinger diese widersprüchliche Vielfalt nicht genügend wahr. Er hat sich längst vom Anspruch wissenschaftlicher Überprüfbarkeit gelöst und stellt seine Methode heute als „angewandte Philosophie“ und einen „phänomenologischen Erkenntnisweg“ vor.
Wie ist die Aufstellungsarbeit nach Hellinger jenseits von Polemik (und vielleicht auch Neid?) zu bewerten, was sagen die Fakten? In einer Dissertation wurden die Aufstellungen von 86 Teilnehmern untersucht und deren Wirkung nach vier Monaten überprüft (G. Höppner, Heilt Demut, wo Schicksal wirkt? Eine Studie zu Effekten des Familienstellens nach Bert Hellinger, München 2001). Die Befunde dieser Studie sind einhellig positiv: für 85 Prozent erschienen die Aufstellungsbilder stimmig, 80 Prozent erlebten sie als klärend, 72 Prozent empfanden, dadurch Kraft bekommen zu haben, und bei rund der Hälfte seien positive Veränderungen in der Familie eingetreten. Gravierende methodische Mängel – das Fehlen einer Kontrollgruppe, kein Ausschluss sozialer Erwünschtheit und des Placebo-Effekts – minimieren jedoch die Aussagekraft dieser Studie. Eine weitere Dissertation wollte in einer experimentellen Anordnung feststellen, ob die Stellvertreter in einer Aufstellung nur willkürlich agierten oder ob sie tatsächlich übereinstimmend etwas Reales repräsentieren konnten (P. Schlötter, Vertraute Sprache und ihre Entdeckung. Systemaufstellungen sind kein Zufallsprodukt – der empirische Nachweis, Heidelberg 2005). Dazu wurden 130 Personen in 2700 Aufstellungen untersucht. Zu diesem Zweck wurde das gleiche System in verschiedenen Räumen mit verschiedenen Repräsentanten aufgestellt. Das Ergebnis lautet zusammengefasst: Die Aussagen der Repräsentanten waren hoch signifikant übereinstimmend, und zwar unabhängig von Geschlecht, Alter und Sozialisation. Auch wenn methodische Artefakte wie die hochselektive Aufstellerwahl die Qualität dieser Arbeit einschränken – vieles deutet darauf hin, dass das Phänomen der „repräsentierenden Wahrnehmung“ mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdient.
Ein zentraler Streitpunkt betrifft die Frage, ob die Stellvertreter die Emotionen der Personen wahrnehmen und wiedergeben können, die sie darstellen. Genau dies behaupten Hellinger und seine Anhänger. Stellvertreter sollen im Rahmen einer Systemaufstellung auf bisher unerklärliche Weise Zugang zu einer verborgenen, höheren Wirklichkeit erhalten, weshalb ihr Agieren keinesfalls als suggestive Identifikation abgetan oder mit anderen psychologischen Mechanismen erklärt werden könne. Eine neue, die sachliche Auseinandersetzung fördernde Veröffentlichung stammt aus der links-intellektuellen Hellinger-Szene, die sich zunehmend mutiger und direkter auch von Hellinger distanziert (G. Weber, G. Schmidt, F. B. Simon, Aufstellungsarbeit revisited ... nach Hellinger?, Heidelberg 2005).
Die junge Hellinger-Szene ist in Bewegung. Wichtig bleibt, auf die Grenzen dieser zu Allmachtsphantasien verführenden Methode hinzuweisen und ihre schier grenzenlosen Ansprüche zu entlarven. Hellinger selber hat sich schon längst vom Kontext der professionell geschulten Heilbehandlungen abgesetzt und versteht sich heute als Philosoph. Wie man aber etwa das „wissende Feld“ zu diagnostischen Zwecken behutsam und verantwortlich in einem Beratungsgespräch einsetzen kann, darüber wird bisher viel zu wenig nachgedacht. Aber nur ein fachlich verantworteter Umgang mit diesen teilweise überraschenden Einsichten kann die traumatischen Erfahrungen verhindern, die ein kürzlich erschienener Therapiebericht dokumentiert (E. Reuter, Gehirn-Wäsche. Macht und Willkür in der systemischen Psychotherapie nach Bert Hellinger, Berlin 2005). In sehr eindringlichen Bildern schildert die Oldenburger Schriftstellerin ihre schädigenden Therapie-Erfahrungen mit einem Arzt und Psychotherapeuten, der seine Patientin nach Hypnotherapie und Gestaltmethoden schließlich mit Hellingerschen Ritualsätzen drangsaliert. Hier ist ein weiteres Mal der Machtmissbrauch dargestellt worden, der die seelische Hilfsbedürftigkeit von Menschen ausnutzt. Weil der Bedarf nach Halt und Orientierung gerade auch an Beraterinnen und Therapeuten herangetragen wird, ist es dringend nötig, deutlich zwischen einem professionellen Heilverfahren und einem weltanschaulichen Heilsversprechen zu unterscheiden.
Michael Utsch