Alewitische Religion in Deutschland
Ein großer Teil der in Deutschland lebenden türkischen Muslime sind anatolische Alewiten. Ihre Religion repräsentiert eine spezifisch türkische Inkulturationsform des Islam, die seit dem späten Mittelalter als eigenständige Bewegung neben dem schiitischen Islam erkennbar ist. Das breite Spektrum des Alewitentums umfasst verschiedene ethnische Gemeinschaften von Türken, Kurden, Arabern und Albanern. Aus ihrer Opposition zum sunnitischen Islam heraus wurden sie in der Vergangenheit häufig verfolgt und präsentieren sich heute als weltanschaulich offen und tolerant. Die Frühjahrsumfrage 2004 des Zentralinstituts Islam-Archiv-Deutschland weist 410.000 bei uns lebende Alewiten aus. Sie stammen zumeist aus der Türkei und sind in Deutschland unter den Migranten prozentual stärker vertreten als in ihrer Heimat, wo sie nach Schätzungen bis zu 20 Prozent der Bevölkerung stellen. Die türkische Regierung veröffentlicht hierzu keine Zahlen, da die Alewiten nach offizieller Lesart zum sunnitischen Bevölkerungsteil gerechnet werden. Die Identität der bei uns lebenden Alewiten hat sich in wechselseitigen Einflüssen aus dem deutschen und türkischen Kontext gebildet. Die historischen Wurzel in der Türkei bleiben für das Verständnis grundlegend.
Geschichte
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Alewitentum von amerikanischen Missionaren wahrgenommen und kam so erstmals in den Gesichtskreis der westlichen Welt und ihrer Forschung. Den historischen Kern der alewitischen Gemeinschaften bilden nomadisierende seldschukisch-turkmenische Verbände, die im Hochmittelalter nach Anatolien einwanderten. In religiöser Hinsicht wurden auf Grundlage ihres zentralasiatischen Schamanismus Einflüsse missionarischer Religionen wie Buddhismus, Manichäismus und Islam wirksam. Seit Anfang des 16. Jahrhunderts wurde auch der Ali-Kult ausgehend vom iranischen Safawidenreich Schah Ismails I. in diese älteren Strukturen integriert. Die Bezeichnung „Alewit“ meint „zur Partei Alis gehörig“ und verweist auf einen schiitischen Kontext. Allerdings sind für ein historisches Verständnis der alewitischen Religion ihre Wurzeln im zentralasiatisch-anatolischen Synkretismus entscheidend.1 Auf dieser Basis wurden Elemente schiitischen Islams inkorporiert, womit das Alewitentum als spezifische Form anatolischen Islams angesprochen werden kann. Eine derartige religionshistorische Einschätzung ist von möglichen Selbstverständnissen gegenwärtiger Alewiten zu unterscheiden. Starke Einflüsse sufistischer Mystik auf die alewitische Religion zeigen sich besonders in der Schriftauslegung, die auf den allegorischen, inneren Sinn zielt und in Opposition zur orthodox-sunnitischen Konzentration auf den wörtlichen Schriftsinn steht. Diese hermeneutischen Differenzen stehen sinnbildlich für das spannungsvolle Verhältnis der alewitischen Gruppierungen zur sunnitischen Orthodoxie als Staatsreligion der türkischen Mehrheitsgesellschaft. Die in den 60er Jahren einsetzende Landflucht und Erwerbsemigration brachte die Auflösung älterer Institutionen zur Weitergabe alewitischer Religion. Die weltanschauliche Identität vieler Alewiten formte sich nun hauptsächlich im Kontext politischer Organisationen, wobei die Mehrheit in den 70er Jahren dem linken Spektrum zuneigte. Seit 1980 versuchte die türkische Regierung mit einer Synthese aus Islam und türkischem Nationalismus dem drohenden Zerfall staatlicher Einheit durch kommunistische Alewiten und separatistische Kurden entgegenzuwirken. Das religiös konnotierte neue Leitbild zwang die Alewiten zu einer Positionierung, wobei eigene Traditionen und deren Geschichte als Teil von gegenwärtiger Identität zu bedenken waren. Dieser Prozess wurde beschleunigt, als im Sommer 1993 radikale Anhänger der islamischen Wohlfahrtspartei in der türkischen Stadt Sivas einen Brandanschlag auf eine alewitische Kulturveranstaltung verübten, bei der fast 40 Menschen den Tod fanden.
Selbstverständnisse
Das gegenwärtige Alewitentum präsentiert sich dem Betrachter als eine „gigantische Baustelle“2, auf der unterschiedlichste Deutungen miteinander konkurrieren. Glaubensinhalte werden insbesondere nach dem Traditionsabbruch der 60er Jahre dem jeweiligen Verstehenskontext des Interpreten eingegliedert und entsprechend ausgedeutet. Das Alewitentum wird heute in mehreren Varianten als säkulare Weltanschauung, als Teil des Islam oder als eigenständige Religion interpretiert. Die historischen Wurzeln dieser Selbstverständnisse liegen im türkischen Kontext und leben in Deutschland fort, wo sie sich mit den Generationen weiterentwickeln. Als säkulare Weltanschauung wird das Alewitentum seit den 50er Jahre propagiert. Teile der jungen Generation hofften damals, auf Grundlage universal ausgerichteter neuzeitlicher Weltbilder ihren Minderheitenstatus hinter sich lassen zu können. In der Gestaltung einer modernen türkischen Gesellschaft sollten ältere ethnische und religiöse Schranken überwunden werden. In einem Klima der Politisierung junger Menschen bildete sich Identität anhand der Zugehörigkeit zu linken politischen Gruppierungen und ihren säkularen Ideologien, wobei man in aufgeklärter Tradition skeptisch gegenüber jeglicher Religiosität war. Das Alewitentum wurde aus soziologischer Perspektive als marginalisierte gesellschaftliche Gruppe gedeutet, der die sozialistische Ideologie den Weg zur Befreiung wies. Seit Mitte der 80er Jahre akzentuiert man die sozialistische Tradition neu: weg vom Klassenkampf hin zu einer humanistisch orientierten Lebensphilosophie auf dem Boden alewitischer Kultur.
Bei der Interpretation des Alewitentums als Teil des Islam ist innertürkischer Assimilationsdruck und seine Verlängerung in den deutschen Kontext hinein zu berücksichtigen. Dabei haben sich verschiedene Varianten herausgebildet. Seit der osmanischen Zeit gab es die Tendenz, äußerlich der herrschenden sunnitischen Praxis nachzugehen, ohne innerhalb der eigenen Gemeinschaft seine alewitische Identität zu verleugnen. Man fastet zweimal im Jahr, je in sunnitischer wie alewitischer Zeit, wobei sich teilweise das Gefühl einstellt, so den wahren Islam zu erfüllen. Aus der Bindung an die religiöse Praxis erklärt sich die Distanz zu säkularen und gesellschaftsverändernden Interpretationen des Alewitentums. Die Verortung innerhalb der islamischen Gemeinschaft signalisiert Konformität, die unterschiedliche Grade annehmen kann: So neigt eine Minderheit zur Beachtung religiöser Gesetze, seien sie sunnitischer oder zwölferschiitischer Observanz. Diese Gruppierungen werden von der alewitischen Mehrheit als Konvertiten wahrgenommen. Ein Teil der älteren Generation betont ihre religiöse alewitische Identität zusammen mit nationalistisch-kemalistischen Orientierungen. Atatürk steht hier sowohl als Begründer des türkischen Staates wie als Befreier der Alewiten in hohem Ansehen, das Alewitentum gilt ihnen als Repräsentant des türkischen Islam gegenüber seinen arabischen Varianten.3 Insgesamt beziehen sich diese verschiedenen Formen der Verortung innerhalb des Islam auf religiöse oder politische Konstellationen der Türkei und betreffen jeweils Minderheiten unter den Alewiten. Generell gewinnt man beim Gespräch mit Alewiten in Deutschland den Eindruck, dass die hiesige Islamdiskussion einen gewissen Sog erzeugt, sich als Teil des Islam zu positionieren; genauer als dessen liberalen Teil. Von dieser Tendenz wird offensichtlich ein breiteres Spektrum von Alewiten erfasst, die nicht in den oben erwähnten Traditionslinien innerislamischer Konformität stehen. Die vordergründige Attraktivität dieser Selbstpositionierung liegt auf der Hand: Man vermeidet den Bruch mit seinen sunnitischen Nachbarn und sammelt zugleich Punkte in der deutschen Öffentlichkeit.
Schon immer konnte das Alewitentum als eigenständige Religion verstanden werden, wobei dieser Ansatz in gegenwärtigen pluralistischen Kontexten einflussreicher wird. So kennt die Sozialisation junger Alewiten in liberalen westlichen Gesellschaften den religiösen Anpassungsdruck der Elterngeneration nicht. Das Paradigma der Religionsfreiheit erlaubt es ihnen, sich offen zu positionieren, weshalb auch die alewitische religiöse Identität mit größerem Selbstbewusstsein gegenüber der sunnitischen Mehrheit in Anspruch genommen wird.4 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Alewiten in der deutschen Öffentlichkeit meist als Teil der türkischen Minderheit und des Islam wahrgenommen werden. Die alewitische Emanzipation innerhalb der Migrantengemeinschaft vollzieht sich daher im Kontext der Debatten über den sunnitischen Islam in Deutschland. So sehen sich Alewiten neuerdings mit Fragen der fundamentalistischen Koraninterpretation oder der Verhüllung durch das Kopftuch konfrontiert, ohne dass diese Themen in ihrer Gemeinschaft zuvor eine Rolle gespielt hätten. Es sind keine genuin alewitischen Themen, sondern solche des sunnitischen Islam. Die Stellung der Alewiten zu den Stichworten Koran und Kopftuch ergibt sich aus ihrer eigenen Tradition zur religiösen Offenbarung und dem Geschlechterverhältnis. Dies führt zu der zentralen Frage, aus welchen Inhalten und verbindlichen Praktiken heraus die eigene Religion gelebt wird. So werden im Folgenden zentrale Elemente der alewitischen Tradition vorgestellt, zu denen sich alle oben angedeuteten Grundverständnisse in Beziehung setzen müssen.
Traditionen
In der Geschichte waren meist mündlich überlieferte lokale Traditionen prägend, weshalb bis heute keine systematisch ausgearbeitete Theologie oder ein Schriftenkanon existiert. Wichtige Quellenschriften enthalten Gebote zum Glaubensvollzug (Buyruk), überliefern Aussprüche des Heiligen Ali (Nech’ül Belaga) oder versammeln dem sufistischen Mystiker Hadschi Bektasch Veli zugeschriebene Gedanken (Makalat) und Legenden (Velayetname). Große Bedeutung haben auch Anthologien großer Dichtergestalten wie Yunus Emre (13./14. Jahrhundert), Hatayi (Schah Ismail I., 15./16. Jahrhundert) und Pir Sultan Abdal (16. Jahrhundert). Diese Poeten sind gleichzeitig im alewitischen Pantheon vertreten, was die zentrale Rolle von Dichtung und Musik für die alewitische Religion veranschaulicht. Während poetische Texte seit dem 13. Jahrhundert überliefert wurden, gab es für die dazugehörigen Melodien in Ermangelung einer Notenschrift bis ins 20. Jahrhundert hinein nur eine mündliche Tradition.5
Zentrale Figur des Glaubenslebens ist Ali, der Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Er und die von ihm abstammenden 12 Imame werden als legitime Nachfolger des Propheten angesehen und entsprechend verehrt. Man erwartet die endzeitliche Rückkehr des zwölften Imam als Mahdi, der auf Erden Unrecht und Unterdrückung beseitigen wird. Im Gegensatz zur Anschauung der iranischen Zwölferschiiten wachsen Ali die Züge eines Gottmenschen zu. Der alewitische Glaube kennt eine Art Trinität von Allah, Mohammed und Ali, welche die Präexistenz der beiden letzteren voraussetzt. Im Buyruk (16. Jahrhundert) heißt es dazu: „Ich [Mohammed] bin die Stadt der Weisheit, Ali der Torhüter der Stadt. Ali und ich, wir gingen beide aus einem Licht hervor.“6 In dieser Konstellation vermittelt Mohammed als Prophet das göttliche Wort. Ali gibt das Vorbild eines vollendeten Menschen, der ein gottgemäßes Leben führt. Er ist eine zentrale Inkarnation Gottes und wird in der Anbetung als Heiliger verehrt. Die Gläubigen nehmen ihre Zuflucht zu Ali als einem Schutzpatron in schwierigen Situationen. Alis Gottmenschentum steht im weiteren Kontext von Reinkarnationsvorstellungen, so dass Hadschi Bektasch Veli und auch Kemal Atatürk als Wiederverkörperungen Alis gelten können. Ein populäres Identitätssymbol alewitischer Jugendlicher ist Alis legendäres Schwert Zülfikar mit seiner doppelten Spitze. Es wird als Talisman an einer silbernen Halskette getragen oder ziert die Heckscheibe des Autos.
Wesentliches Integrationsmoment der vielfältigen alewitischen Traditionen ist die Einheit des Menschen mit Gott. Vermittelt über Mohammed und seinen Schwiegersohn Ali wohnt jedem Menschen die heilige Kraft (Kutsal gütsch) des Schöpfergottes inne. Diese panentheistische Konstellation macht es dem Menschen zur Aufgabe, das ihm innewohnende göttliche Potential zu erkennen und sein Leben danach auszurichten. In dieser Linie kann auch eine Identität von Gott und Mensch zur Sprache gebracht werden („En-el hak“). Der moderne alewitische Dichter Aschik Daimi (1932-1983) drückt dies folgendermaßen aus: „Ich bin der Spiegel des Universums, denn ich bin ein Mensch. In bin der Ozean der Wahrheit, denn ich bin ein Mensch.“7 Entsprechend kann der alewitischen Religion eine mystische Grundlage zugeschrieben werden. Die substantielle Einheit des Menschen mit Gott bringt große Verantwortung hinsichtlich der persönlichen Vervollkommnung mit sich, wobei Verfehlungen und damit einhergehendes Leid auf dem Menschen selbst lasten. Andererseits kann er auf die Hilfe und Kraft Gottes bauen und es stehen ihm auf dem Weg der Vervollkommnung mehrere Leben zur Verfügung. Dabei gibt es keinen Einfluss früheren Fehlverhaltens auf die Form der neuen Wiedergeburt. Die Reinkarnationsvorstellung beinhaltet einen Kreislauf der Seelen, wobei die Erkenntnis Gottes nicht allen Wesen gleichermaßen möglich ist. Es ergibt sich eine Ordnung der Lebewesen nach dem Grad ihres Vermögens, die Einheit mit dem Schöpfer zu erkennen. Dabei spielen im Zusammenhang religiöser Dichtung auch ästhetische Kategorien eine Rolle, welche Erkenntnis als Schönheit begreifen. In diesem Sinne gilt der Mensch grundsätzlich als schönste Schöpfung Gottes und dessen Widerspiegelung (Yansima). Auf den individuellen Lebenswegen gelingt es in unterschiedlichem Maße, Gottes innezuwerden.
Systematische Hilfestellung gibt die alewitische religiöse Ethik in Form der Lehre von den 4 Toren mit ihren 40 Stufen. Die 4 Tore symbolisieren vier Aspekte des spirituellen Wachstums, wobei sie in jeweils zehn Stufen konkreter Anweisungen unterteilt sind. Das erste Tor (Scheriat) enthält grundlegende Elemente einer guten Lebensordnung. Es fordert zu Studium und Gottesdienst auf, mahnt einen ehrlichen Lebensunterhalt an und regelt den Umgang der Geschlechter sowie die Ernährung. Das zweite Tor (Tarikat) befasst sich mit der grundlegenden Initiation in den mystischen Erkenntnisweg. Es geht um den geistigen Lehrer, Verzicht im Kampf mit der Selbstsucht, Gottes Hilfe und das Verhältnis zur sozialen wie natürlichen Umwelt. Im dritten Tor (Marifet) vertieft sich die Erkenntnis und umfasst den ganzen Menschen auch in emotionaler Hinsicht. Betont werden Tugenden wie Geduld, Genügsamkeit und Freigiebigkeit, die zu Harmonie führen sollen. Dabei spielt die gemeinschaftliche Dimension eine besondere Rolle, indem sie das Individuum zur Selbsterkenntnis führt. Das vierte Tor (Hakikat) umschreibt die tiefsten Aspekte von Glaube und Wahrheit. Es geht um die Einheit von Allah, Mohammed und Ali, grundlegendes Gottvertrauen und im Letzten um die Lösung des göttlichen Geheimnisses. Insgesamt fällt auf, dass es sich bei der Lehre von den 4 Toren und 40 Stufen keinesfalls um einen individualistischen Erkenntnisweg handelt. Der Einzelne verfolgt stets innerhalb einer verbindlichen Gemeinschaft das Ziel seiner Vervollkommnung. Dabei sind die 4 Tore mit ihren Stufen nicht im Sinne einer strengen Abfolge zu verstehen, obwohl sie steigende ethische Anforderungen stellen. Vielmehr befasst sich der gläubige Alewit immer wieder mit allen Aspekten und begreift sie in ihrem inneren Zusammenhang. Die ethische Orientierung wird im Prinzip des „Herr-Seins über Hände, Lenden und Zunge“ zusammengefasst. Es dient den Alewiten als wichtiges Identitätsmerkmal in Abgrenzung zum sunnitischen Islam.8
Der Koran hat in der alewitischen Religion nicht die zentrale Stellung wie im sunnitischen und schiitischen Islam. Dies zeigt sich zunächst auf der hermeneutischen Ebene, da für die alewitische Auslegung der allegorische Sinn dem wörtlichen vorgeordnet ist. Ihr geht es darum, die innere Wahrheit der göttlichen Offenbarung herauszuarbeiten, also die Einheit des Menschen mit Gott. Zu diesem Zweck kann vom äußeren Wortlaut und seinen Geboten abgesehen werden, um die tiefere Wahrheit zu entdecken. Dahinter steht außerdem eine von der gemeinislamischen Auffassung abweichende Vorstellung von der Inspiration Mohammeds. Während diese üblicherweise als Durchführung eines göttlichen Diktates aufgefasst wird, begreifen Alewiten Mohammed aus seiner Teilhabe am göttlichen Wesen. Als Mensch in Einheit mit Gott brachte er den Koran aus seinem vollkommenen Selbst hervor. Mohammed ist somit Sprachrohr einer Wahrheit, die jeder Alewit in sich finden soll. In dem oben zitierten Gedicht von Aschik Daimi heißt es dazu: „Ich könnte die Thora schreiben, die Bibel könnte ich in Verse fassen, den verborgenen Gehalt des Koran erfühle ich, denn ich bin ein Mensch.“9 Am Ende ist es demnach eine mystische Anthropologie, die den Alewiten die freie Koraninterpretation ermöglicht.
Alewiten sind nicht an den äußeren Vollzug islamischer Hauptpflichten – das tägliche Ritualgebet, das Ramadanfasten, die Pilgerreise nach Mekka – gebunden. Ebenso unterliegen sie nicht den Regeln der Scharia. Die Wahrnehmung derartiger ethisch-religiöser Regelwerke unterliegt weitgehend dem mystischen Grundzug der alewitischen Religion und betont den inneren Vollzug. Damit unterscheidet sich die alewitische Lebensordnung grundlegend vom Tenor der islamischen Welt. Auf dieser Linie liegt auch der andersartige Umgang zwischen Mann und Frau. Alewiten leben monogam und nehmen gemeinsam an religiösen Ritualen teil. Frauen sind vom religiösen Standpunkt aus voll gleichberechtigt, obwohl in kultureller Hinsicht die alewitische Gesellschaft patriarchalisch ist.10 Insgesamt ist aus westlicher Perspektive die Geschlechtersegregation gelockert. So zielt etwa die Kopfbedeckung der Frauen nicht auf eine ethisch-religiös konnotierte Verhüllung ab, da die Beherrschung der Sexualität in das Innere des Menschen verlegt ist.
Sozialstruktur und Praxis
In ihren traditionellen Formen sind religiöse Handlungen bei den Alewiten im Kontext einer Religion der geschlossenen Abstammungsgemeinschaft zu verstehen. Sie setzen einen fest gefügten sozialen Rahmen unter Menschen voraus, die im lokalen Zusammenhang einander bekannt und seit Generationen verbunden sind. Derartig gewachsene Gemeinschaftsformen existieren in der Diaspora nicht mehr. Gleichwohl bleibt die Neuinterpretation religiöser Praxis in veränderten Lebensumständen auf die Tradition bezogen. So sollen im Folgenden die wichtigsten überlieferten Institutionen und ihre modernen Ausprägungen beschrieben werden.
Die alewitischen Gemeinschaften gliederten sich traditionell in zwei Gruppen, die in religiöser Hinsicht einander zugeordnet waren.11 Bestimmte heilige Familien (ocak) führten ihre Abstammungslinie auf eine bedeutende Gestalt des alewitischen Pantheon wie Hadschi Bektasch Veli oder einen der zwölf Imame und damit auf Ali selbst zurück. Jeder heiligen Familie war eine feste Gruppe von Laienfamilien zugeordnet. Religiös-soziale Leitungsfunktionen (dede) wurden innerhalb der heiligen Familien vererbt und waren Männern vorbehalten, welche die Tradition bewahrten, Rituale durchführten und Recht sprachen. Idealerweise verfügten sie auch über wundertätige Kräfte. Mit dem Traditionsabbruch sind derartige Kompetenzen verlorengegangen, zudem hat sich die Zahl derer erweitert, die das Alewitentum in weltanschaulicher Hinsicht zu vertreten beanspruchen. Eine neue Elite städtischer Intellektueller repräsentiert mit ihren Publikationen heute das öffentliche Bild des Alewitentums. Die dede haben weiterhin ihren Platz in den lokalen Gemeinden, doch ist ihre Autorität mit dem Wegfall der strengen Zuordnung von Laienfamilien gelockert. Weiterhin war die rituell sanktionierte Gemeinschaft zweier oder mehrerer Familien (musahiplik) im traditionellen Alewitentum bedeutsam. Bei dieser Einrichtung handelte es sich um eine religiös begründete Form der Verwandtschaft, die umfassende soziale und ökonomische Verpflichtungen mit sich brachte. Sie war der blutsmäßigen Verwandtschaft übergeordnet und implizierte eine Heiratsschranke zwischen den Kindern derartig verbundener Familien. Mit dieser Gliederung in Familienpaare wurden Ressourcen gebündelt und die soziale Struktur der Gemeinde weiter gefestigt: Jede Familie war einem dede zugeordnet und stand in Weggemeinschaft mit einer Familie von ähnlichem sozialen Status. Heute werden derartige Verbindungen nur noch sehr selten eingegangen, da die Risiken gegenseitiger wirtschaftlicher Verantwortung im schnellen Wandel moderner Gesellschaften zu groß sind. Allerdings werden Patenschaften zwischen Gemeinden in Deutschland und der Türkei vor dem Hintergrund derartiger Weggemeinschaften verstanden.12
Der zentrale alewitische Gottesdienst als Gemeinschaftsversammlung fand ein- oder mehrmals im Jahr statt und dauerte eine ganze Nacht hindurch. Bei der Vereinigung (dschem) stand die umfassende Erneuerung der Gemeinschaft im Mittelpunkt, wobei rechtliche wie religiöse Elemente zum Tragen kamen. Unter der Leitung eines dede wurde zunächst das Einvernehmen (rizalik) der versammelten Gemeinde hergestellt. Hierbei spielten sowohl öffentliche Beichten als auch Beschwerden eine Rolle, die geprüft und gegebenenfalls mit Sanktionen geahndet wurden. Im weiteren Verlauf konnten neu vermählte Paare in die Gemeinschaft initiiert oder musahiplik eingegangen werden. Die gesamte Zeremonie war von Gebeten und religiösen Dichtungen begleitet, die in Begleitung der Langhalslaute (saz) vorgetragen wurden. Das sechssaitige Instrument hat in der alewitischen Religion eine hohe praktische wie symbolische Bedeutung und wird auch der „sprechende Koran“ genannt. Die versammelte Gemeinde beteiligte sich an der Musik unter anderem durch rhythmische Allah-Rufe und drang so zu gemeinsamem ekstatischen Erleben vor. Auf dem emotionalen Mittelpunkt des dschem gedachte man der Ermordung des dritten Imams Hüseyin bei Kerbela 680. Ein weiteres zentrales Element war der rituelle Drehtanz Semah, in dessen überlieferten Figuren Frauen und Männer gemeinsam die wesentlichen Elemente alewitischen Glaubens zum Ausdruck brachten. Die Semah-Figuren gehen auf vorislamisch-oguzische Tänze zurück und symbolisieren den Weg der menschlichen Seele.13 Ähnliche tänzerische Ausdrucksformen haben sich in der islamischen Welt allein in einigen Sufi-Orden erhalten. Der Gottesdienst schloss mit einem gemeinsamen Mahl in den frühen Morgenstunden. In der modernen Diaspora gibt es vielfältige Versuche, die Tradition des dschem wiederzubeleben. Da den rechtlichen Dimensionen die soziale Grundlage entzogen ist, konzentriert man sich auf die dichterischen, musikalischen und tänzerischen Elemente. Es bietet sich dem leitenden dede auch die Möglichkeit, die Anwesenden über Grundlagen des alewitischen Glaubens zu belehren.
Organisation
In der Diaspora kommt dem deutschen Kontext eine Schlüsselposition zu, da hier die größte alewitische Migrantengemeinschaft lebt. Erste Arbeitervereine wurden Mitte der 70er Jahre gegründet und standen jeweils politischen Parteien des türkischen Spektrums nahe. Im Zentrum stand die politische Arbeit, wobei man alewitische Traditionspflege nebenher betrieb. Dabei war auch in der Diaspora für viele die traditionelle Haltung maßgeblich, seine alewitische Identität vor der sunnitischen Mehrheit zu verbergen. Im Laufe der 80er Jahre rückte das alewitische Element immer mehr in den Mittelpunkt und wurde auch öffentlich, was zur Umbenennung bestehender Organisationsformen führte: Aus dem „Arbeiterverein“ wurde das „Alewitische Kulturzentrum“. Man finanziert sich aus den Beiträgen von Mitgliedern und kümmert sich insbesondere um die Jugend, die mit Fußball, Musikunterricht und schulischer Nachhilfe eingebunden wird. Insgesamt bleibt das Feld alewitischer Vereine bedingt durch die vielfältigen regionalen und weltanschaulichen Hintergründe ihrer Mitglieder ausgesprochen variantenreich. Seit 1991 besteht als Dachverband die „Alevitische Gemeinde Deutschlands e.V.“ (AABF) mit Sitz in Köln, die rund 100 regionale Zentren vertritt und sich als Glaubensgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes versteht. Sie gibt die Monatszeitschrift „Stimme der Aleviten“ mit einer Auflage von 7000 Exemplaren heraus. Eines ihrer wesentlichen Anliegen besteht darin, gemeinsame Glaubensinhalte zu formulieren und der Öffentlichkeit nahe zu bringen. Außerdem verfolgt man die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Aus Deutschland kamen 2002 auch wesentliche Impulse zur Gründung der „Alevitischen Union Europa“ mit Sitz in Brüssel. Hier sind 170 Gemeinden mit insgesamt über einer Million Mitgliedern zusammengefasst.
Man erhofft sich mit dieser Repräsentanz auch indirekte Einflüsse auf die Verhältnisse in der Türkei. Hier konzentrierte sich das türkische Amt für Religionsangelegenheiten (Ditib) auch mit alewitischen Steuergeldern bislang auf die Belange des sunnitischen Bevölkerungsteils und seiner Geistlichen. So gehört es zu den zentralen Forderungen der Alewiten, dass ihre Glaubensinhalte im türkischen Religionsunterricht behandelt werden. Im Prozess der türkischen Annäherung an die EU erklärten Vertreter von Ditib vor der deutschen Öffentlichkeit, dass dies inzwischen realisiert worden sei.14 Insgesamt wird deutlich, dass sich mit zunehmenden westlichen Einflüssen auf die Türkei auch die Situation der Alewiten verbessert. In der europaweiten Diaspora erwächst den Alewiten die Aufgabe, ihren Glauben mit seinen spezifischen Traditionen öffentlich darzustellen und so von anderen Gruppen unterscheidbar zu werden. Von zentraler Bedeutung für die öffentliche Repräsentation der Alewiten als eigenständige religiöse Gruppierung ist der schulische Religionsunterricht. In Berlin wird er bereits parallel zum islamischen durchgeführt. Entsprechende Anträge für Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen und Bayern wurden Anfang Dezember 2004 in einer gemeinsamen Grundsatzentscheidung der zuständigen Kultusministerien positiv aufgenommen. Die organisatorische Umsetzung wird etwa zwei Jahre in Anspruch nehmen. Allein in Nordrhein-Westfalen sind mehrere zehntausend Schülerinnen und Schüler betroffen. Innerhalb der Gemeinschaft trägt der Religionsunterricht zur zentralen Aufgabe bei, die unterschiedlichen Glaubenstraditionen zu systematisieren.15 Dies steht in engem Zusammenhang mit der Grundfrage des Alewitentums in der Diaspora: Wie wird die eigene Religion an die in Deutschland sozialisierte jüngere Generation weitergegeben?
Fazit
Die zentrale Aufgabe der in Deutschland lebenden Alewiten ist demnach die Inkulturation ihrer Religion. In der Migration können traditionelle Formen der Erziehung und Vermittlung religiöser Werte nicht mehr aufrechterhalten werden.16 Gleichwohl besteht im neuen Kontext eine besondere Dringlichkeit, sich der eigenen Werte und ihrer Wurzeln bewusst zu werden. Die Inkulturation vollzieht sich in diesem Spannungsfeld, das auch eine Auseinandersetzung der Generationen mit sich bringt. Die Generation der Eltern und Großeltern hat einen anderen Bezug zum türkischen Ursprung der alewitischen Religion als ihre in Deutschland aufgewachsenen Nachkommen. Hier wird sich in gegenseitigem Respekt vor den jeweiligen Generationserfahrungen ein zukunftsweisendes Verständnis des Alewitentums herausbilden.17 Die religiöse Identität der alewitischen Gemeinschaft wird dabei wiederentdeckt und neu gestaltet. Neben diesen inneren Aspekt tritt der äußere, worin die Gemeinschaft durch ihre Werte von anderen unterscheidbar wird. Dies vollzieht sich sowohl innerhalb der türkischstämmigen Migranten als auch gegenüber der deutschstämmigen Mehrheitsbevölkerung. Die Anliegen des Alewitentums müssen in der Öffentlichkeit noch stärker präsent werden und auch in der Wahrnehmung eines breiteren Publikums die religiöse Vielfalt des Landes bereichern.
Martin Eichhorn, Berlin
Anmerkungen
1 Ahmet Yasar Ocak, Vom Babailer Aufstand zum Kizilbaschtum: Kurzer historischer Abriß über Entstehung und Entwicklung der „islamischen Heterodoxie“ in Anatolien, in: Ismail Engin, Erhard Franz (Hg.), Aleviler / Alewiten, Bd. 1, Hamburg 2000, 234.
2 Karin Vorhoff, Alewitische Identität in der Türkei heute, in: Dies., Zwischen Glaube, Nation und neuer Gemeinschaft. Alevitische Identität in der Türkei der Gegenwart, Berlin 1995, 60.
3 Markus Dreßler, Die kemalistischen Reformen und die Alewiten, in: Ismail Engin, Erhard Franz (Hg.), Aleviler / Alewiten, Bd. 3, Hamburg 2001, 26.
4 Renate Pitzer-Reyl, Die Aleviten, in: Michael Klöcker / Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen V-2, München 1997ff, 3.
5 Ursula Reinhard, Die Musik der Alewiten, in: Ismail Engin, Erhard Franz (Hg.), Aleviler / Alewiten, Bd. 3, 206.
6 Zit. nach: Mehmet Yaman, Buyruk: Das Buch der alewitischen Glaubensvorstellungen und Riten, in: Ismail Engin, Erhard Franz (Hg.), Aleviler / Alewiten, Bd. 2, Hamburg 2001, 24.
7 Übersetzung von Ismail Kaplan in: Ismail Kaplan, Das Alevitentum. Eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft in Deutschland, Köln 2004, 41.
8 Ingrid Pfluger-Schindlbeck, „Achte die Älteren, liebe die Jüngeren“. Sozialisation türkisch-alevitischer Kinder im Heimatland und in der Migration, Frankfurt a.M. 1989, 48.
9 Ebd.
10 Krisztina Kehl-Bodrogi, „Was du auch suchst, such es in dir selbst!“, Berlin 2002, 21.
11 Kemal Astare, Glaubensvorstellungen und religiöses Leben der Zaza-Alewiten, in: Ismail Engin, Erhard Franz (Hg.), Aleviler / Alewiten, Bd. 2, 153.
12 Ismail Kaplan, Das Alevitentum, 64.
13 Ilhan Cem Erseven, Der Semah in der Kultur des Alewiten- und Bektaschitums, in: Ismail Engin, Erhard Franz (Hg.), Aleviler / Alewiten, Bd. 2, 80.
14 „Wir sind bereit, alle Muslime zu vertreten.“ Interview Susanne Kusicke und Wolfgang Günter Lerch mit Mehmet Yildirim und Bekir Alboga, FAZ.NET vom 8. Februar 2005.
15 Havva Engin, Über die Schwierigkeiten der Entwicklung schulischer Curricula für einen alewitischen Religionsunterricht in Deutschland, in: Ismail Engin, Erhard Franz (Hg.), Aleviler / Alewiten, Bd. 3, 217.
16 Ingrid Pfluger-Schindlbeck, „Achte die Älteren, liebe die Jüngeren“, 289.
17 Ismail Kaplan, Das Alevitentum, 32.
Literatur
Christoph Peter Baumann, Aleviten. Der andere Islam, Basel 1994
Markus Dreßler, Alevitische Religion. Traditionslinien und Neubestimmungen, Würzburg 2002
Ismail Engin, Erhard Franz (Hg.), Aleviler / Alewiten, Band 1-3, Deutsches Orient Institut, Hamburg 2000-2001
Ali Duran Gülcicek, Der Weg der Aleviten (Bektaschiten). Menschenliebe, Toleranz, Frieden und Freundschaft, Köln 1994.
Ismail Kaplan, Das Alevitentum. Eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft in Deutschland, Köln 2004
Krisztina Kehl-Bodrogi, Die Kizilbas-Aleviten. Untersuchungen über eine esoterische Glaubensgemeinschaft in Anatolien, Berlin 1988
Dies., „Was du auch suchst, such es in dir selbst!“ Aleviten (nicht nur) in Berlin, Berlin 2002
Anke Otter-Beaujean, Schriftliche Überlieferung versus mündliche Tradition: Zum Stellenwert der Buyruk-Handschriften im Alevitentum, in: K. Kehl-Bodrogi, B. Kellner-Heinkele, A. Otter-Beaujean (Hg.), Syncretistic Religious Communities in the Near East, Leiden 1997
Ingrid Pfluger-Schindlbeck, „Achte die Älteren, liebe die Jüngeren“. Sozialisation türkisch-alevitischer Kinder im Heimatland und in der Migration, Frankfurt a.M. 1989
Renate Pitzer-Reyl, Die Aleviten, in: Michael Klöcker / Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen V-2, München 1997ff
Karin Vorhoff, Zwischen Glaube, Nation und neuer Gemeinschaft. Alevitische Identität in der Türkei der Gegenwart, Berlin 1995
Dies., Renaissance des Alevismus. Glaube, Moderne, Musik und Organisationsformen, Köln 1998