All along the Watchtower. Eine psychoimmunologische Studie zu den Zeugen Jehovas
Bruno Deckert, All along the Watchtower. Eine psychoimmunologische Studie zu den Zeugen Jehovas, Vandenhoeck & Ruprecht (V&R unipress), Göttingen 2007, 368 Seiten, 49,90 Euro
Unter streng wissenschaftlichem Aspekt mag man Vorbehalte hegen, wenn ein ehemaliger Sektenanhänger über die Gruppe forscht, der er einst angehört hat. Denn es stellt sich natürlich die Frage, ob die Objektivität nicht von eventuellen emotionalen und psychischen Implikationen beeinträchtigt wird. Dem Zürcher Psychologen Bruno Deckert, ehemaliger Zeuge Jehovas, ist es in seiner „psychoimmunologischen Studie“ über die Wachtturm-Gesellschaft jedoch sehr gut gelungen, diesen Spagat auszuhalten. Das ist keine geringe Leistung, denn Deckert war bei den Zeugen Jehovas nicht einfach „irgendwer“. Mit erst 24 Jahren war er zu einem „Ältesten“ ernannt worden und besaß damit ebenso Verantwortung wie Prestige. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb? – stieg Deckert nach fünfzehn Jahren aus und hat nun seine Vergangenheit zum Thema einer Dissertation an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel gemacht.
Das fast vierhundert Seiten starke Werk gliedert sich in vier Teile: Nach der Darstellung des theoretischen Bezugsrahmens erläutert Deckert im ersten Teil die Prozesse und Strategien der strategisch-logischen, der psychischen und der sozialen Immunisierung, wobei er auch auf den problematisch gewordenen Begriff „Sekte“ eingeht. Dankenswerterweise gehört der Autor nicht zu jenen, die auf den Begriff aus Bequemlichkeits- oder anderen Gründen verzichten wollen: „Auch wenn Sekte (...) ein unklarer, streitbarer und problematischer Begriff bleibt, bringt ein Verzicht auf dieses Wort nicht viel. Im Gegenteil: Wenn es als Hinweis auf ein Konflikt- und Gruppenphänomen gelesen wird, kann es die theoretische und gesellschaftliche Diskussion weiterhin befruchten“ (88).
Im zweiten Teil wendet sich Deckert der praktischen Ebene zu und zeigt nach einem kurzen historischen Abriss, was Immunisierung im Falle der Zeugen Jehovas konkret bedeutet. Hier schöpft der Autor wahrscheinlich aus einem immensen Schatz eigener Erfahrung. Dennoch sind vor allem schriftliche Äußerungen der Wachtturm-Gesellschaft Basis seiner Ausführungen. Es ist ebenso eindrücklich wie bedrückend, wenn man etwa liest, wie bei den Zeugen Jehovas mit der Wahrheit jongliert wird. „Dogmatische Inhalte erscheinen einmal so, einmal anders, je nach Situation und Opportunität.“ So bestreite die Wachtturm-Gesellschaft nach außen vehement, dass ihrer Ansicht nach nur Zeugen Jehovas gerettet würden. Intern wird jedoch nach wie vor die Parole ausgegeben, dass nur Zeugen Jehovas auf Rettung hoffen dürften (147). Deutlich wird, dass es sich bei den Zeugen Jehovas im Grunde um eine totalitäre Organisation handelt, die danach strebt, praktisch alle relevanten Lebensbereiche zu kontrollieren und schon geringfügige Formen der Devianz im Keim zu ersticken, wofür nicht zuletzt ein perfides Denunziantentum, die so genannte „Meldepflicht“, sorgen soll.
Der dritte Teil – Deckert nennt ihn „qualitative Studie“ – besteht aus der Darstellung von insgesamt 41 Interviews, die der Autor mit ehemaligen und noch aktiven Zeugen Jehovas geführt hat. Diese Schilderungen illustrieren wiederum auf eine sehr eindrückliche Weise, unter welch immensem Druck viele Zeugen Jehovas leben müssen, was bisweilen dazu führt, dass einige sich geradezu gezwungen sehen, ein Doppelleben zu führen – ein demonstrativ frommes für die Gemeinschaft und ein deutlich selbstbestimmteres und freieres in den eigenen vier Wänden. Deckert betont, dass es sich dabei nicht „um ein singuläres Phänomen“ handle (279). Als problematisch erweist sich auch immer wieder, dass die Endzeitdrohungen ihren stabilisierenden Effekt verlieren und sich damit eine frustrierende Langeweile breitmachen kann. „Wenn Du von Kindesbeinen an hörst, das Ende kommt, es kommt dann, es kommt bald, verliert es irgendwann doch an Aktualität. Vielmehr richtest Du Dich darauf ein, dass Du halt ein Leben lang in die Versammlung und in den Predigtdienst gehst, ob das Ende kommt oder nicht. Vielleicht ist das auch ein Grund für die Frustration. (...) Es war keine Begeisterung, keine Freude mehr, nichts dergleichen, es war reine Routine“ (295).
Das Buch endet im vierten Teil mit einer Bilanz. Deckert vertritt dabei u. a. die These, dass die Zeugen Jehovas „über vielfältige Instrumente und Maßnahmen zur Abwehr und Bewältigung von Einflüssen“ verfügen, „die das Glaubenssystem in Frage stellen“ (339). Diese Immunisierung bestimme „das Verhalten aktiver Zeugen Jehovas maßgeblich, aber nicht umfassend“ (347; Stichwort „Doppelleben“, s.o.). Dass es so weit oder sogar zum Ausstieg kommen kann, hängt mit der Variablen der „persönlichkeitsspezifischen Disposition“ jedes einzelnen Mitglieds zusammen – sie vertieft zu untersuchen hätte aber sicherlich den Rahmen von Deckerts Arbeit gesprengt.
Festzuhalten bleibt, dass dem Autor eine wissenschaftlich solide und gleichzeitig spannende Darstellung der Psychodynamik innerhalb der Zeugen Jehovas gelungen ist, die ebenso faszinierende wie berührende Innenansichten und Einsichten bietet. Schon von daher sollte das Buch zur Pflichtlektüre für die Beratungspraxis gehören.
Christian Ruch, Chur/Schweiz