Ebba Hagenberg-Miliu

Allein ist auch genug. Wie moderne Eremiten leben

Ebba Hagenberg-Miliu, Allein ist auch genug. Wie moderne Eremiten leben, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2013, 223 Seiten, 19,99 Euro.

Einem Bonmot zufolge ist von allen sexuellen Ausschweifungen die Enthaltsamkeit die seltsamste. Neben dem humoristischen Aspekt entlarvt es die menschliche Neigung zum blinden Fleck. Eremiten sind in der Weltanschauungsarbeit ein solcher blinder Fleck – sind sie die seltsamste unter den religiösen Lebensformen? Kein einziger Eintrag zu dem Stichwort findet sich in den Registern des Materialdienstes der EZW und so gut wie keiner in den gängigen Nachschlagewerken. Eremiten bilden per definitionem keine konfliktträchtigen Gemeinschaften und fliegen unter dem Radar der Beratungsanfragen durch. Die meisten werden sie allenfalls aus der Kirchengeschichte kennen. Und doch sind sie Teil der religiösen Gegenwartskultur. In Form der einsamen Insel, der malerischen, einsamen Wiese, des geheimen Rückzugsortes ist das Eremitendasein sogar ein typischer spiritueller Sehnsuchtsort für den stressgeplagten Zeitgenossen.

Das Werk der Journalistin Hagenberg-Miliu stellt einige Dutzend Eremiten der Gegenwart vor. Warum die Autorin das schöne deutsche Wort „Einsiedler“ scheut, wird leider nicht verraten.

Die vierteilige Gliederung ist einleuchtend und klar. „Der Aufbruch“ beschreibt Motivationen und vorherige Lebensläufe, „Der Weg“ zeigt, wie diese Lebensform sich geistlich und praktisch gestaltet, „Die Durststrecken“ erklären sich im Titel selbst, und „Am Ziel“ versucht zu erfassen, was der spirituelle Ertrag eines Eremitenlebens sei. Eingestreut ist ein längerer Exkurs, in dem die im Buch Vorgestellten mit Kurzbiografie und Bild präsentiert werden. Durch die thematische Gliederung kommt die überschaubare Zahl von Zeugen verteilt an verschiedenen Stellen zu Wort und muss bei jeder Erwähnung von Neuem kurz vorgestellt werden. Doch es wirkt ermüdend, wenn man zum fünften Mal liest, dass Manfred Gnädinger alias „O Alemàn“ nach jahrzehntelangem Eremitendasein an der galizischen Küste 2002 aus Kummer über ein Öltankerunglück starb.

Manches ist für den mit dem Thema nicht vertrauten Neuling unerwartet: Unter den Eremiten sind mehr Frauen als Männer. Die meisten sind keine Aussteiger, sondern haben einen, seit 1983 im katholischen Kirchenrecht genau geregelten, Platz in der Kirche. Manche Eremiten leben in Kleingruppen zusammen, und es gibt sogar einen Verband der Eremiten. Fast alle der Vorgestellten leben im deutschsprachigen Raum, nur kurze Abstecher gelten deutschen Einsiedlern in warmen Ländern. Die Biografien vor dem Schritt ins Eremitendasein sind weniger vielfältig als erwartet. Zwar gibt es den erfolgreichen Kabarettisten und den Grillbudenbesitzer, die aussteigen, und den Mann, der durch Sucht, Familienkatastrophen, Justiz und Krankheit gegangen ist. Doch sind auffallend viele katholische Ordens-Lebensläufe darunter.

Sehr variabel sind hingegen die Lebensformen: Die jahrhundertealte Eremitenklause neben der Kapelle, die einsame Waldlichtung, die kleine Wohnung in der obersten Etage eines Mehrfamilienhauses (Stadteremiten sind, erfahren wir, ein „neuer Trend“), die Insel im Fluss mit Hütte aus Treibholz, der Gemüsegarten an der portugiesischen Küste – nichts ist ungeeignet. Einige leben nur im Sommer eremitisch und kehren winters in den Orden zurück.

Bei einigen der Protagonisten stellen sich auch Zweifel ein. Da gibt es jene, die ein Buch nach dem anderen über das zurückgezogene Leben schreiben, andere halten Vorträge auf Managerseminaren über die Kraft der Einfachheit, und wieder andere sind aktive Internetblogger. Eine ganze Reihe arbeitet in Seelsorge und Beratung. Keine Frage: Nicht wenige Eremiten haben viel mehr Gespräche, Kontakte und Stress als so mancher berufstätige Single oder Rentner, von Schweigeorden und Kartäusern nicht zu reden.

Das ist nicht ganz neu, schließlich hatten auch die Wüstenväter gewisse Probleme, ihre Abgeschiedenheit zu schützen. Schon Hans Conrad Zander beschrieb vor Jahrzehnten in „Gottes unbequeme Freunde“ die Mühen des Urvaters aller Einsiedler, des heiligen Antonius. Auf der Suche nach einem ruhigen Fleck muss dieser mehrfach vor seinen Verehrer(inne)n fliehen und noch tiefer in die Wüste gehen. „Heiliger Strohsack, ich bin entdeckt. Jetzt fängt der Rummel von vorne an.“ Seinen modernen Nachfolgern geht es ebenso: „Manchmal wünschte ich mir eine Klause auf einem Berg mit einer Strickleiter, die ich dann hochziehen hätte können“, seufzt eine Diözesaneremitin aus dem Weserbergland, deren malerische Bleibe im Sommer zum Touristenziel wird. In der Freizeitgesellschaft ist eben auch die „Wüste“ recht bevölkert. Leider lässt uns das Buch im Dunklen darüber, was die Betroffenen selbst zu dieser augenfälligen Diskrepanz sagen. Hatten sie das so erwartet? Wozu Eremit sein, wenn man sich dann doch wieder auf eine einsame Insel wünscht?

Man müsse sich von eigenen Klischees verabschieden, wischt die Autorin solche naheliegenden Fragen vom Tisch. Man könnte aber zurückfragen, ob es nicht einer etwas genaueren Definition bedurft hätte. Was haben ein in der Nachwendezeit gestrandeter ostdeutscher Obdachloser, der Jahrzehnte unter Plastiktüten in einem Erdloch lebt, ein Ordenseremit, der von der Kirche versorgt wird, ein Knittelverse dichtender Grafiker, der tagsüber in seinem Künstleratelier im Dorf arbeitet, aber nachts im eigenen Schäferkarren auf der grünen Wiese schläft, gemeinsam? Manchmal scheint die Auswahl etwas beliebig. Würden sich überhaupt all diese Leute selbst Eremiten nennen?

Der Schwerpunkt des Buches liegt auf den kirchlich anerkannten katholischen Eremiten, von denen es in Deutschland ca. 80 gibt. Denn diese sind am leichtesten auffindbar und waren auf einem Fragebogen, den die Autorin verschickt hat, am auskunftsfreudigsten. Leider sind Lebensformen und Einsichten gerade dieser Gruppe dann doch überschaubar in ihrer Vielfalt. Das Buch dreht sich oft im Kreis und wiederholt Einsichten in den spirituellen Weg, die in der Häufung zu Allgemeinplätzen verschwimmen. Was heißt „den Himmel im Herzen haben, die Füße auf der Erde“? Und „weniger ist mehr“ kann eine tiefe Erfahrung sein, ist aber auch aus Einsiedlermund ein Gemeinplatz. Selten sind kleine spannende Einblicke wie jener, als die Godesberger Eremetin Sr. Benedicta orthodoxe und katholische Gebete vergleicht.

Gern hätte man mehr über die nichtchristlichen Eremiten erfahren. Aber die Autorin hat offenbar nur mit einigen der Vorgestellten persönlichen Kontakt gehabt, andere kennt sie nur aus Internetrecherchen, Zeitungsartikeln und dem Fragebogen, der leider nicht abgedruckt ist. Diese ungleiche Quellenlage wird aber nicht offengelegt, sondern zeigt sich hier und da im Laufe des Buches. Wer in welche Kategorie gehört, erfährt man nicht. Die Auskünfte über die außerkirchlichen Eremiten sind eher mager und nicht immer genau – eine Buddhistin in einer shivaitischen Gemeinschaft?!

Praktische Fragen werden eher kurz behandelt. Ja, die meisten Eremiten müssen irgendwie für Geld arbeiten, auch die kirchlichen. Nein, Alterssicherung gibt es oft nicht. Ja, es gibt gescheiterte Eremitenversuche (bis hin zum Suizid), aber da werden die Gesprächspartner einsilbig.

Das Buch versteht sich durchaus auch als praktische Anleitung. Es gibt Tipps, wo man Eremit auf Zeit sein kann und worauf ein Anfänger achten sollte. Auch zahlreiche Hinweise auf weiterführende Literatur, Filme usw. fehlen nicht. Andere Fragen bleiben offen. Was ist im Krankheitsfall? Warum ist eine hinduistische Eremitin nach 20 Jahren aus Indien nach Deutschland zurückgekehrt? Wie ging es ihr dort? Wie hält man es ohne Wasseranschluss mit der Körperpflege? Wie viel Gartenland braucht eigentlich ein Mensch, der sich als Selbstversorger ernährt? Und wie viele Stunden am Tag muss er darin arbeiten? Wie hält man es im Winter im Schäferkarren aus? Wie ist das juristisch, wenn ich mich einfach irgendwo in einer Eremitenhöhle niederlasse? Wie denkt sich ein Eremit sein Alter? Wie ist das nun mit der Opposition von Ordensoberen gegen die Entlassung eines Mitglieds ins Eremitendasein? Wie gestaltet sich das Verhältnis zu den spirituellen Meistern, die viele Eremiten, v. a. Anfänger, haben? Für Antworten auf manche dieser praktischen Fragen wären einige der sich wiederholenden geistlichen Einsichten verzichtbar gewesen.

Aber trotz diverser Schwächen und Längen: Dies ist ein lesenswertes Buch über eine Lebensform, nach der sich fast jeder schon mal gesehnt hat. Nach diesem Buch ahnt man unter anderem, warum für die meisten von uns die Sehnsucht besser ist als ihre Umsetzung.


Kai Funkschmidt