Alternativmedizin
Zum Begriff
Auf dem weiten Feld der Alternativmedizin gibt es unterschiedliche Bezeichnungen: Volks-, Erfahrungs- oder traditionelle Medizin, holistische oder Ganzheitsmedizin, unkonventionelle Heilweisen oder Komplementärmedizin. Alternativmedizinische Verfahren stellen im Grunde die Wiege der wissenschaftlichen Medizin dar. Denn bevor sich die akademische Schulmedizin im 19. Jahrhundert konstituierte, gab es ein großes Spektrum von Heilern, in dem sich erfahrungskundige Apotheker und geschickte Chirurgen mit Scharlatanen und Quacksalbern mischten. Später wurden „Barfußärzte“ und „Wasserdoktoren“ populär, die mit ungewöhnlichen Methoden eine Alternative zu konventionellen medizinischen Behandlungen durch approbierte Ärzte boten. Zur Verfestigung von Abgrenzungen, aber auch gegenseitigen Vorurteilen tragen Kampfbegriffe wie „Schulmedizin“ oder „Ganzheitsmedizin“ bei.
Bei der Bezeichnung „Komplementärmedizin“ jedoch wird schon im Begriff ausgedrückt, dass dieses Angebot das Wissen der etablierten Medizin sinnvoll ergänzen soll, wie das zum Beispiel die Chiropraktik, die Osteopathie, Massagen oder Entspannungsverfahren beabsichtigen. Die Weltgesundheitsorganisation definiert Komplementärmedizin als „ein breites Spektrum von Heilmethoden, die nicht Teil der Tradition des jeweiligen Landes sind und nicht in das herrschende Gesundheitssystem integriert sind“. Was als unkonventionell empfunden wird, hängt allerdings wesentlich von der eigenen kulturellen Prägung ab. Es gibt große kulturelle Unterschiede in der Popularität alternativer Heilweisen, wie schon der Vergleich zwischen den USA und Deutschland verdeutlicht: Die populärsten alternativen Heilmethoden sind in den USA: 1. Selber beten für die Gesundheit, 2. Entspannungsverfahren, 3. Kräuterheilkunde; in Deutschland: 1. Akupunktur, 2. Homöopathie, 3. Kräuterheilkunde.
Das Wissen um eine effektive Krankenbehandlung erweitert sich ständig, und durch neue Erkenntnisse werden früher als „außermedizinisch“ abgelehnte Verfahren wie die Akupunktur oder Entspannungsmethoden bei bestimmten Indikationen heute ernst genommen. Durch die Möglichkeit ärztlicher Zusatzbezeichnungen wie Naturheilverfahren oder Homöopathie sind beispielsweise diese Verfahren in die Nähe der konventionellen Medizin gerückt worden, obwohl darüber seit Jahrzehnten vehement gestritten wird.
Von einer regelrechten „Alternativmedizin“ kann nur gesprochen werden, wenn sie von einem gänzlich anderen (nicht naturwissenschaftlichen) Verständnis als dem der konventionellen Medizin ausgeht. Kinesiologie, Elektroakupunktur, Bach-Blütentherapie oder Heiledelsteine – alternativmedizinische Verfahren sind vielfältig und vermischen wissenschaftliche Erkenntnisse mit esoterischen oder asiatischen Weisheiten. Dort wird von naturwissenschaftlich nicht nachweisbaren Kräften wie Chi oder Prana ausgegangen, durch die körperliche Selbstheilungskräfte in Gang gesetzt werden sollen. Es werden Fließkanäle in Form von Meridianen oder Chakras im Körper angenommen, die sich ebenfalls einer wissenschaftlichen Erfassung und Erklärung entziehen. Man stellt sich einen „feinstofflichen“ Körper vor, ein den materiellen Körper umgebendes geistiges Kraftfeld, auf das heilend eingegriffen werden kann. In der Homöopathie werden Wirkungen von chemischen Stoffmengen behauptet, die unterhalb der naturwissenschaftlich möglichen Nachweisgrenze liegen.
In der Alternativmedizin werden die Grenzen zwischen Materiellem und Geistigem bewusst überschritten. Auch kleinere weltanschauliche Gruppen wie anthroposophische Heilpraktiker oder Anhänger des Bruno Gröning-Freundeskreises arbeiten mit Heilungspraktiken, die auf spezifischen esoterischen Geistverständnissen fußen. Teilweise wird versucht, mit fragwürdigen Theorien einer „Quantenheilung“ oder „Energiemedizin“ wissenschaftliche Begründungen für Wunderheilungen zu finden.
In der Alternativmedizin wird oft behauptet, durch die Seele den Körper heilen zu können. Häufig wird dabei das folgende simple Störungs- und Behandlungsmodell zugrunde gelegt: Von Natur aus sind Körper und Seele gesund, aber die Umwelt bzw. die Erziehung haben Schäden verursacht. Bestimmte Psychotechniken oder Heilriten sollen nun dem Anwender Einstellungen und Haltungen vermitteln bzw. den Körper so beeinflussen, dass sich vorhandene „Blockaden“ auflösen und die Selbstheilungskräfte der Seele und des Körpers aktiviert werden.
Alternative Heilverfahren können in vier Gruppen eingeteilt werden (Jütte 1996):
• klassische Naturheilkunde: Wasser-, Bewegungs-, Kräuter-, Ordnungstherapie
• biodynamische Heilweisen: Homöopathie, anthroposophische Medizin
• fernöstliche Heilweisen: Akupunktur, Traditionelle Chinesische Medizin, Ayurveda
• religiöse und magische Medizin: Geistheilung, Schamanismus, Reiki
Zur Verbreitung komplementär-alternativmedizinischer Verfahren
Eine strikte Unterscheidung zwischen Schul- und Alternativmedizin hat sich heute erübrigt. Die meist polemisch geführten Kämpfe der Lobbyisten haben längst die Patienten entschieden. Nur die wenigsten Patienten, die sich heute alternativ behandeln lassen, bauen ausschließlich auf alternativmedizinische Angebote. Beispielsweise wird die Misteltherapie, der sich mehr als die Hälfte aller Krebspatienten unterzieht, im Allgemeinen nicht anstelle einer konventionellen Krebsbehandlung eingesetzt, sondern begleitend zu ihr. Bei leichteren Erkrankungen wird oft erst einmal eine sanftere Alternativmedizin ausprobiert. Bei einem länger anhaltenden, chronifizierten Leiden wird die Alternativmedizin zunehmend zu einer „Parallelbehandlung“. Sehr viele Patienten bewegen sich in beiden Medizinsystemen. Allerdings zeigen Vergleichsstudien, dass die Zufriedenheit mit der Alternativmedizin im Allgemeinen größer ist als die mit der konventionellen Medizin, selbst wenn die Heilungsergebnisse unter dem Strich nicht besser ausfallen. Andere Aspekte tragen zur höheren Zufriedenheit mit der Alternativmedizin bei: Es werden genauere Hintergrundinformationen zur Erkrankung gegeben, der Arzt hört besser zu, der Patient wird mehr in therapeutische Entscheidungen einbezogen.
Als drei wesentliche Motive für die Wahl komplementär-alternativmedizinischer Verfahren werden genannt: 1. Unzufriedenheit mit der Schulmedizin, 2. Wunsch nach mehr Autonomie und Kontrolle, 3. Kongruenz der Wertorientierungen bzw. Weltanschauungen von Patient und Heiler.
In den Industrienationen erkranken seit Mitte des 20. Jahrhunderts kaum noch Menschen an Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Cholera oder Diphtherie. Heute sind die Menschen im Schnitt gesünder und werden älter. An die Stelle der Infektionskrankheiten sind jedoch die sogenannten „Zivilisationskrankheiten“ gerückt, zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, und eine gefährliche „neue Morbidität“, nämlich Depressionen und das Burnout-Syndrom. Gerade bei diesen Krankheiten kann die naturwissenschaftlich orientierte Medizin meistens keine schnell wirksame Abhilfe schaffen, weil über körperliche Maßnahmen hinaus Umstände oder die Lebensführung geändert werden müssen. Viele Patienten suchen deshalb Hilfe bei der Alternativmedizin. Der typische Nutzer komplementär-alternativmedizinischer Verfahren ist weiblich, mittleren Alters, mit gehobenen Bildungs- und Einkommensniveau, geplagt von einem chronischen Leiden oder einer Krebserkrankung.
Laut der Weltgesundheitsorganisation steigt die Zahl der Nutzer von Angeboten alternativer Medizin und der Naturheilkunde in den westlichen Industrienationen stetig an. Rund 60 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland nehmen derartige Methoden zur Behandlung kleinerer und auch ernsterer Erkrankungen in Anspruch. In diesem Teil des Gesundheitsmarktes werden jährlich rund 9 Milliarden Euro umgesetzt, wovon die Krankenkassen rund 4 Milliarden erstatten. Etwa 50000 Ärzte bieten in Deutschland alternative und komplementäre Heilverfahren zusätzlich an. Dazu kommen mindestens 15000 Heilpraktiker sowie zahlreiche Anbieter aus anderen Gesundheitsberufen.
Einschätzung
Der seit Jahrzehnten leidenschaftlich ausgefochtene Kampf zwischen einer „Apparatemedizin“ und einer „Ganzheitsmedizin“ offenbart die Grenzen einer dogmatisch-einseitigen Sicht- und Vorgehensweise: hier immer mehr Spezialwissen und naturwissenschaftliche Detailinformationen, aber auch zum Teil beängstigende Nebenwirkungen und der Verlust menschlicher Würde, dort manchmal erstaunliche Heilerfolge, aber auch schwammige Begrifflichkeiten, keine überprüfbaren Wirksamkeitsnachweise und die Gefahr von Scharlatanerie.
Mittlerweile wird der Qualität der Arzt-Patient-Beziehung ein hoher Stellenwert eingeräumt. Es gibt erstaunliche Hinweise auf die Heilkraft positiver Erwartungen und zuversichtlicher Haltungen, die in einem unterstützenden Gespräch vermittelt werden können. Von der Bundesärztekammer wurde 2011 ausdrücklich die therapeutische Nutzung des Placebo-Phänomens empfohlen. Im jungen Forschungszweig der Psychoneuroimmunologie können darüber hinaus Abhängigkeiten zwischen seelischem Befinden und den Immunzellen nachgewiesen werden. So wie einerseits negative psychische Einflussfaktoren die Immunabwehr schwächen, können andererseits Optimismus, ein hohes Selbstwertgefühl, Überzeugung der Selbstwirksamkeit, stabile soziale Beziehungen und positive Gefühle gesundheitsfördernd wirken. Diese Befunde untermauern die biblische Sicht auf den Menschen als Leib-Seele-Geist-Einheit.
Wer alternative Heilweisen in Anspruch nehmen möchte, sollte bedenken, dass jedes Verfahren seinen eigenen weltanschaulichen Hintergrund hat. Kommt ein alternatives Heilverfahren zur Anwendung, so werden auch seine Werte, seine Ideale und seine Ethik mit übermittelt. Zugespitzt könnte man sagen: In der Weltanschauung ist das Wirkprinzip eines alternativen Heilverfahrens verborgen. In der Regel widersprechen die Weltbilder der Alternativmedizin dem wissenschaftlichen Weltbild der Moderne. Den vormodernen Weltbildern entnehmen die Heilpraktiker vertrauensvoll ein Wissen, das gesunde Lebensführung vermittelt und (Selbst-)Heilungsprozesse in Gang setzen soll.
In den folgenden drei Erklärungsmodellen von Heilung ist die weltanschauliche Komponente besonders stark ausgeprägt:
• Energie-Medizin: Verborgene Lebensenergien werden aktiviert. Feinstoffliche, subtile Energien lösen Blockaden und stimulieren die Selbstheilungskräfte des Körpers und der Seele.
• Anthroposophische Medizin: Eine gereinigte Seele („Astralleib“) heilt den Körper. Das Geistige bestimmt die Materie.
• Geistheilung, Schamanismus: Kontakt zu jenseitigen Wesenheiten, die über Heilkräfte verfügen.
Zur Begründung der Heilwirkungen werden pseudowissenschaftliche Erklärungen angeführt: Parapsychologie, Quantenphysik oder biomagnetische Energiefelder liegen im Trend. Mit einem christlichen Welt- und Menschenbild sind solche Verfahren nicht zu vereinbaren, weil sie Ideen wie die Reinkarnation vertreten oder magische Bewusstseinstechniken einsetzen.
Wer heilt, hat Recht? Nein, nicht nur das Ergebnis zählt! Das dem Heilverfahren zugrunde liegende Weltbild sollte geprüft und mit den eigenen Werten abgestimmt werden. Wer Heilverfahren anbietet, sollte seinem Patienten die berechtigte Frage beantworten können, wer oder was ihn gesund machen soll. Denn wenn ein Patient sich unreflektiert einem Heilverfahren überlässt, sind Übergriffe nicht auszuschließen. Risiken und Nebenwirkungen werden häufig ausgeblendet.
An der Schnittstelle von wissenschaftlich begründeten Heilverfahren und weltanschaulichen Heilsversprechen erhält das zugrunde liegende Weltbild eine zentrale Funktion. Gerade bei alternativen Heilverfahren ist es ratsam, die weltanschaulichen Hintergründe genauer anzuschauen und zu prüfen, ob sie mit dem eigenen Weltbild übereinstimmen. Neuere Studien zur Wirksamkeitsforschung der Alternativmedizin weisen unmissverständlich darauf hin, dass dem gemeinsamen Weltbild von Therapeut und Patient ein enormes Heilungspotenzial zukommt, das zu nutzen sich lohnt. Wenn Heilung jedoch von der Übernahme dieses Weltbildes abhängig gemacht wird, sollte es der eigenen Anschauung entsprechen.
Michael Utsch
Literatur
Raymond Becker (Hg.), „Neue“ Wege in der Medizin. Alternativmedizin – Fluch oder Segen?, Heidelberg 2010
Daniel Bouhafs, Komplementärmedizin. Alternative Heilmethoden unter der Lupe, Chur 2011
Bundesärztekammer (Hg.), Placebo in der Medizin, Köln 2011
Hans-Wolfgang Hoefert / Bernhard Uehleke, Komplementäre Heilverfahren im Gesundheitswesen, Bern 2009
Robert Jütte, Geschichte der Alternativen Medizin, München 1996
Klaus Michael Meyer-Abich, Was es bedeutet gesund zu sein, München 2010
Paul Unschuld, Was ist Medizin? Westliche und östliche Wege der Heilkunst, München 2010