Alternative Medizin

Alternativmedizin weiter auf dem Vormarsch

Die Auseinandersetzungen zwischen Schul- und Alternativmedizin um ihre Wirksamkeit und Effizienz haben in den letzten Jahren abgenommen. Immer mehr Krankenkassen erstatten unter bestimmten Voraussetzungen beispielsweise Akupunktur-Behandlungen. Mittlerweile wird in Deutschland Naturmedizin im Wert von zwei Milliarden Euro und der gleiche Betrag für alternative Therapien von den Kassen erstattet. Darüber hinaus bezahlen die Patienten rund fünf Milliarden Euro für alternativmedizinische Therapien pro Jahr selbst. Bei einem internationalen Forum im Herbst 2007 diskutierten 125 Experten aus 15 Ländern kaum über unvereinbare Gegensätze, sondern eher darüber, wie beide Richtungen besser zusammenarbeiten können.1

Weil die Alternativ- bzw. Komplementärmedizin sich zunehmend verbreitet, werden kritische Nachfragen kaum beachtet. Fragte das Handbuch „Die Andere Medizin“ der Stiftung Warentest bei populären alternativen Heilmethoden noch ihre wissenschaftlich belegbare Wirksamkeit ab,2 verfolgen zwei neuere Publikationen eine ganz andere Strategie. Das Handbuch „Alternativ heilen“ stellt naturheilkundliche Verfahren wie etwa Heilpflanzen ohne Einschränkungen mit esoterischen Methoden wie Schamanismus oder „feinstofflichen“ Therapien gleich.3 Das von Rüdiger Dahlke herausgegebene „Große Buch der ganzheitlichen Therapien“ wirbt unverhohlen mit über 60 Beiträgen für größtenteils fragwürdige Heilverfahren, die weit ins Spekulative hineinreichen.4 Neben Umweltmedizin oder Musiktherapie werden im gleichen Stil von prominenten Anbietern die Festhaltetherapie (J. Prekop), Geistheilung (H. Krohne), Reiki (B. Simonsohn), die Reinkarnationstherapie (M. Dahlke), Meditation (W. Jäger), Selbstheilung (K. Cuby), Steinheilkunde (M. Gienger), Familienstellen (B. Hellinger) und vieles andere vorgestellt. In den Artikeln werden die jeweiligen Autoren ausführlich mit ihren Seminarangeboten und Kontaktdaten porträtiert, um die Leser gleich dafür zu werben. Wissenschaftliche Distanz und Neutralität lässt dieses Handbuch gänzlich vermissen.

Weltanschauliche Gruppen versuchen seit jeher, sich am wachsenden Gesundheitsmarkt zu beteiligen.5 Als vor zehn Jahren ein Gesetzentwurf zur Regelung gewerblicher Lebensbewältigungshilfe im Bundestag diskutiert wurde, bündelten sich ihre Gegner in der Initiative „Frankfurter Gespräche“. Kürzlich hat sich dieser Kreis in „Dachverband Freie Gesundheitsberufe“ umbenannt. Er setzt sich für Qualität und Transparenz alternativer Gesundheitsberufe ein und will zu ihrer Qualitätssicherung nach eigenen Leitlinien beitragen.6

Der Vormarsch der Alternativmedizin wird auch daran deutlich, dass heute knapp zwei Drittel der deutschen Ärzte etwa bei Krebspatienten unkonventionelle Methoden verordnen – hauptsächlich auf den Wunsch des Patienten hin. Wer verhindert jedoch, dass die Hilfesuchenden beispielsweise in den Fängen der Neuen Germanischen Medizin landen?7 Nach Recherchen betroffener Angehöriger sind weit mehr als 100 Todesfälle auf medizinische Behandlungsfehler dieses Verfahrens zurückzuführen.8 Ohne Zweifel bedarf die Schulmedizin der Ergänzung – aber bitte maßvoll und mit Vernunft!


Michael Utsch
 

Anmerkungen

1 www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=57593
 .
2 Stiftung Warentest (Hg.), Die Andere Medizin. „Alternative“ Heilmethoden für Sie bewertet, Berlin 2005. Trotz harscher Kritik an diesem Handbuch (vgl. z. B. www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=49323) ist unbestreitbar, dass viele dieser Verfahren keine empirischen Wirksamkeitsnachweise liefern können.

3 Christof Jänicke / Jörg Grünwald (Hg.), Alternativ heilen. Kompetenter Rat aus Wissenschaft und Praxis, München 2006.

4 Rüdiger Dahlke (Hg.), Das große Buch der ganzheitlichen Therapien, München 2007.

5 Michael Utsch, Geht die Bhagwan-Bewegung in dem alternativen Gesundheitsmarkt auf? In: MD 7/2000, 238-240; ders., Neue Koalitionen auf dem alternativen Gesundheitsmarkt, in: MD 5/2002, 138-142.

6 Kurskontakte 155/2008, 18-19.

7 Michael Utsch, Krebs durch seelische Konflikte? In: MD 5/2006, 186-189.

8 Vgl. www.todessekte.de.