An den Grenzen der Erkenntnis. Handbuch der wissenschaftlichen Anomalistik
Gerhard Mayer/Michael Schetsche/Ina Schmied-Knittel/Dieter Vaitl (Hg.), An den Grenzen der Erkenntnis. Handbuch der wissenschaftlichen Anomalistik, Schattauer Verlag, Stuttgart 2015, 490 Seiten, 79,99 Euro.
Die Herausgeber (die alle am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, IGPP, in Freiburg tätig sind) Gerhard Mayer (Psychologe), Michael Schetsche (Politologe und Soziologe), Ina Schmied-Knittel (Politologin und Soziologin) und Dieter Vaitl (Leiter des IGPP) legen mit dem Werk das „erste deutschsprachige Handbuch ungewöhnlicher Phänomene und Erfahrungen“ (Rückseite) vor, wobei sie sich streng „an den Standards wissenschaftlicher Methodik“ (Rückseite) orientieren wollen. Die insgesamt 32 Autoren, die im Handbuch zu Wort kommen, sind größtenteils Psychologen; außerdem finden sich Beiträge von Soziologen, Ärzten, Kultur- und Naturwissenschaftlern. Das Handbuch soll sich an alle wenden, „die mit offenen Augen den Geheimnissen unserer Welt auf der Spur sind“ (Rückseite).
Es werden insgesamt 35 Kapitel auf drei Teile verteilt: Teil I umfasst das Thema „Historische Entwicklung und theoretische Debatten“ mit insgesamt sieben Kapiteln, darunter u. a. „Anthropologische Grundfragen und Probleme“ (31ff) von Klaus E. Müller, „Der Glaube an das Paranormale“ (51ff) von Harvey J. Irwin oder „Theoretische Erklärungsmodelle für Psi-Effekte“ (88ff) von Stefan Schmidt. Teil II behandelt in den Kapiteln acht bis 29 „Forschungsfelder“, darunter u. a. „Außergewöhnliche Bewusstseinszustände“ (122ff) von Dieter Vaitl, „Nahtod-Erfahrungen“ (164ff) von Ina Schmied-Knittel, „Spukphänomene“ (202ff) von Gerhard Mayer und Eberhard Bauer, „Medizinische Anomalien: Homöopathie, Geist- und Wunderheilung“ (289ff) von Harald Walach, „UFO-Sichtungen“ (332ff) von Andreas Anton und Danny Ammon oder „Kornkreise“ (384ff) von Eltjo H. Haselhoff. Teil III schließlich bietet „Methodologie und Methodik“ in den Kapiteln 30 bis 35, darunter u. a. „Laborexperimente in der Anomalistik“ (405ff) von Wolfgang Ambach, „Das Interview in der anomalistischen Forschung“ (427ff) von Ina Schmied-Knittel und Michael Schetsche oder „Fotografien in der Anomalistik“ (451ff) von Gerhard Mayer.
Die Themen werden in den einzelnen Kapiteln knapp, inhaltlich recht umfassend und gut verständlich dargestellt, sodass sich das Handbuch gut für eine erste Orientierung anbietet. Exemplarisch sei dies an Kapitel 12 „Nahtod-Erfahrungen“ (im Folgenden: NTE) von Ina Schmied-Knittel dargestellt: Nach einer Einleitung und einem Abschnitt über „Historisches“ folgt umfassend die „Phänomenologie“, die in „Definition“, „Häufigkeit“, „Auslöser“ und „Inhalte“ untergliedert wird. Dabei werden die gängigen Positionen und Konzepte nachvollziehbar dargestellt. Im kurzen Abschnitt „Nahtod-Erfahrungen und Psychohygiene“ wird auf den „transformierende[n] Charakter“ (169) von NTE hingewiesen. Der anschließende, längere Abschnitt „Untersuchungsmethoden“ befasst sich – entsprechend dem Anspruch des Handbuchs, sich „an den Standards wissenschaftlicher Methodik“ (s. o.) zu orientieren – mit „Fallsammlungen und Interviewstudien“, „Prospektive[n] Studien“, „Experimente[n]“ und der „AWARE-Studie“. Es folgen „Theoretische Erklärungen“, wobei zwischen „Konventionelle[n] Erklärungen“ (hierzu zählt etwa die „Sauerstoffhypothese“, 173) und „Anomalistische[n] Erklärungen“ (etwa die „postmortale Kontinuität“, 174) unterschieden wird. Im letzten Abschnitt „Problemlagen und Fazit“ schließlich wird auf die Schwierigkeiten bei der Untersuchung und Deutung dieses Phänomens verwiesen, wobei nüchtern festgehalten wird, dass „das Abstandnehmen von vorschnellen Urteilen psychohygienisch förderlicher“ sei „als jenseitssüchtige Spekulationen“ (175). Die Literaturliste mit insgesamt 29 Einträgen, die nach den zwei Kategorien „Zur vertiefenden Lektüre“ (drei Einträge) und „Lektüre“ (26 Einträge) differenziert wird, enthält die wichtigsten Titel zum Thema.
Das Buch „Blick in die Ewigkeit. Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen“ (2013) von Eben Alexander, das in letzter Zeit in der NTE-Szene für Aufmerksamkeit sorgte, wird in der Literaturliste beispielsweise nicht erwähnt. Überhaupt fehlen in Kapitel 12 weiterführende Hinweise auf die massenmedialen und popkulturellen Dimensionen des Phänomens und die Analyse ihrer Wechselwirkungen mit dem Diskurs rund um NTE selbst (worauf etwa Hubert Knoblauch hingewiesen hat); das wiederum deutet darauf hin, dass sich der Beitrag in Kapitel 12 eher einer naturwissenschaftlichen als einer kulturwissenschaftlichen Perspektive verpflichtet sieht.
Wer sich als Geistliche/r in Seelsorge und Beratung mit Erzählungen von ungewöhnlichen Erfahrungen und Phänomenen konfrontiert sieht, kann auf das Handbuch insofern mit großem Gewinn zurückgreifen, als darin wichtige wissenschaftliche Ansätze und Deutungen zu diesem Themenbereich gut verständlich, knapp und übersichtlich aufbereitet sind. Vor allem die in Teil II enthaltenen Kapitel bieten sich gut als Einstieg in ein Thema an. Wer selbst forschend und theoriebildend in diesem Feld unterwegs ist, wird auch die Kapitel I und III mit großem Gewinn lesen.
Zugleich ist daran zu erinnern, dass es sich bei diesem Handbuch um ein Werk handelt, das eine theologische Diskussion dieser Phänomene nicht intendiert. Wer als Seelsorger oder Seelsorgerin damit arbeitet, muss sich demnach selbst Gedanken über die theologische Relevanz des dargebotenen Materials machen oder anderswo danach suchen.
In diesem Sinne macht das rezensierte Handbuch auch auf das schmerzliche Fehlen eines entsprechenden Werkes einer theologischen Anomalistik zum theologischen, seelsorgerischen und liturgischen Umgang mit diesen Themen aufmerksam.
Haringke Fugmann, Bayreuth