Tilman Nagel

Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam

Tilman Nagel, Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam, Duncker & Humblot GmbH, Berlin 2014, 422 Seiten, 29,99 Euro.

Tilman Nagel räumt auf. Intellektueller Sperrmüll soll entsorgt werden (die Tabus und Denkverbote der politischen Korrektheit), ideologische Vogelscheuchen beseitigt, scheinbare moralische Überlegenheit entlarvt. Zu den Tabus gehören „Den Islam gibt es gar nicht“, „Den Islam als Religion darf man nicht kritisch betrachten“ (hier „gibt“ es den Islam plötzlich) oder die vergleichende Gegenüberstellung von islamischer und europäischer Kultur („Orientalismus“, „Essenzialismus“!).

Der renommierte Göttinger Arabist und Islamwissenschaftler nennt als ein Motiv für die Veröffentlichung ausdrücklich seine „in langjähriger Erfahrung gesammelte Enttäuschung“ über die mangelnde Bereitschaft vieler Vertreter der „politisch-medialen Klasse“ zur nüchternen, wirklichkeitsnahen Wahrnehmung des Islams „und derjenigen seiner Charakterzüge, die unserer Kultur zuwiderlaufen“ (9). Wer nun in dem Buch die Abrechnung eines verbitterten Emeritus vermutet, liegt falsch – und macht es sich vor allem zu einfach. Es ist eines der bekannten Muster, sich der intellektuellen Anstrengung einer sachorientierten Auseinandersetzung durch Diskreditierung der Person zu entziehen (je nach dem: fehlende Sachkenntnis, Generalverdacht, Islamophobie – auch dies sind Themen des Bandes). Oder durch „angestrengtes Wegschauen“. Dem setzt der Autor bestens fundierte, auf souveräner Quellen- und Faktenkenntnis beruhende Expertise entgegen, die sich aus vielen Jahrzehnten intensiven Studiums der islamischen Primärquellen speist. Das Buch soll jedem – Muslim oder Nichtmuslim –, der den säkularen Staat im Disput mit schariagebundenen Muslimen verteidigt, geschichtliche und sachliche Zusammenhänge erschließen und Argumente für eine kritische Auseinandersetzung an die Hand geben.

Das tut es in über zwanzig Texten in vier Abteilungen: Grundsätzliches über den Islam; das Weltbild des Christentums und des Islams im Vergleich; der Islam und der säkulare Staat – Grundlinien eines Konflikts; „Mit Muslimen streiten“. Der größere Teil der Vorträge und Aufsätze wurde schon an anderer Stelle – meist entlegen – veröffentlicht. Einige gewichtige Texte sind neu. Alle werden durch mehrere hilfreiche Register erschlossen.

Im grundsätzlichen Teil wird systematisch, religionsgeschichtlich und theologisch in die zentralen Themenkomplexe eingeführt. Ein Gedanke, der sich immer wieder durch Nagels Darstellung des orthodoxen Sunnitentums zieht und nach verschiedenen Seiten hin entfaltet wird, ist der der absoluten Abhängigkeit des Menschen von Gottes Willen und Wirken. Gott bestimmt alles in seiner Schöpfung, und zwar in allen Einzelheiten und in jedem Augenblick ihres Bestehens. Auch das Wissen von der Welt wird nicht durch den Verstand und die von ihm geleitete Analyse gewonnen, sondern vollständig von Gott übermittelt. Es steht quasi von vornherein fest und kann durch eigenständiges Denken und Forschen prinzipiell nicht erweitert werden. Die diesbezügliche Szene des Korans („Allah lehrte Adam alle Namen“, Sure 2,31-33, im Unterschied zur mitschöpferischen Benennung der Geschöpfe durch Adam in Gen 2,19f) wird mehrfach eingehend interpretiert und in ihren Konsequenzen bis in aktuelle Fragestellungen etwa der Ethik und der Politik erörtert. Wichtiger Teilbereich des festen Wissensbestandes ist das Gesetz, die Scharia. Während das politische Denken im lateinischen Christentum von der Überzeugung herkommt, dass civitas terrenaund civitas Deiuntrennbar miteinander existieren, die Unvollkommenheit daher Kennzeichen irdischer Verhältnisse ist und die Vollendung des Reiches Gottes Gegenstand der Hoffnung bleibt, unterstehen die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen wie der Gemeinschaft im Islam einem allumfassenden göttlich legitimierten Begründungszusammenhang. Auch diesseitige Normen und Gesetze sind demzufolge zur Verwirklichung der göttlichen Ordnung da, auf die hin der Mensch von Anfang an angelegt ist (fitra). Da Gottes Fügungen letztlich nicht einsehbar sind, ist die Bestimmung des Menschen die unverbrüchliche Hingewandtheit zum Einen – „Islam“ im ursprünglichen koranischen Wortsinn –, die die Konzentration alles Trachtens und Denkens ausschließlich auf Allah beinhaltet. Der säkulare Staat hat aus dieser Perspektive vor allem Defizite. Menschliche Gesetzgebung kann nur hinter dem eigentlichen Auftrag der „besten Gemeinschaft“ der Muslime (umma) zurückbleiben, die mit Gottes Autorität das Gute gebietet und das Verwerfliche verbietet (Sure 3,110) – die Autonomie des Menschen nach westlichem Muster muss in dieser Sicht den Blick auf Allah verstellen und ihn damit sich selber entfremden.

Nagel zeichnet die Entwicklungen nach, die die rationalen Strömungen in der islamischen Geistesgeschichte zurückdrängten und jenes Dogma von der Übergeschichtlichkeit des Korans und der Sunna – um den Preis der radikalen Entmächtigung des Geschaffenen – zur Durchsetzung brachten. In verschiedenen historischen, ideengeschichtlichen und theologischen Perspektiven geht er auf das Verhältnis von Herrschaft, Sufismus und Schariagelehrsamkeit ein. Einblicke in die Geschichte der Sozialinstitutionen zeigen auf, wie es zur Vorherrschaft der Schriftgelehrten (Ulama) kam und welche Bedeutung im Machtgefüge die Sufiorden bekamen, aber auch, wo die Ressourcen für eine Historisierung und ein hermeneutisches Verständnis des Korans und der Überlieferung liegen. Neben dem Sufismus gelten Seitenblicke auch dem Schiitentum.

Dabei geht es immer wieder um die Fragen, die heute in den Integrationsdebatten im Blick auf den Islam im Vordergrund stehen, auch in praktischer Hinsicht (z. B. das Gutachten zum Vollzug des rituellen Gebets in einer staatlichen Schule). Es geht um das Verständnis von Säkularität, die Auffassung der Menschenrechte und die Vorstellungen ihrer Durchsetzung, die „Islamisierung“ westlicher Begriffe, die Probleme einer Grenzziehung zwischen Islam und Islamismus, auch um die Beseitigung von Missverständnissen wie die Zweiteilung von „großem“ und „kleinem“ Dschihad (die es in der klassischen Schariawissenschaft nicht gibt, sondern als Vertiefung des schariatischen Dschihadbegriffs durch ein sufisches Ideal der Askese ab dem 11. Jahrhundert in Erscheinung tritt).

Bemerkenswert ist die Sektion D „Mit Muslimen streiten“, die die Folgen des orthodoxen Anspruchs auf absolute Geltung der islamischen Quellen für heutige Diskurse analysiert. Die diskursethische Maxime, den Gedankengang des Gegenübers zunächst einmal aus sich heraus zu verstehen, spielt praktisch keine Rolle, wenn der Wirklichkeitsbezug von Koran und Sunna nicht wirklich einer grundsätzlichen Prüfung unterzogen werden muss. Die Argumentation andersgläubiger oder atheistischer Gesprächspartner zu verfolgen und zu entschlüsseln, ist nicht notwendig, Selbstkritik unter diesen Voraussetzungen schwierig. Die Frage der taktischen Unwahrhaftigkeit (taqiyya) wird diskutiert. Der Teil enthält schließlich auf über dreißig Seiten ein ganzes Dossier – bisher unveröffentlicht – zum Thema „Islamische autoritative Texte und das Grundgesetz“ und die aufschlussreiche, fast als knappe Zusammenfassung zu lesende Analyse der Reaktion des Koordinationsrates der Muslime in Deutschland (KRM) darauf.

Man kann, man wird sich über das Buch ereifern. Vor allem der Essenzialismusvorwurf wird (wieder einmal) nachhallen. Aber nachdem aufgeräumt ist, hat man einen besseren Überblick, und manches steht wieder am richtigen Platz. An Tilman Nagels anspruchsvollem, aber verständlich geschriebenem Plädoyer für Redlichkeit und Nachhaltigkeit kann niemand vorbeigehen, der sich mit den Widersprüchen zwischen einer säkularen Gesellschaft und dem religiös-politischen Wahrheitsanspruch des Islam auseinanderzusetzen bereit ist.


Friedmann Eißler