Anhaltende Debatten um den Kreationismus in Europa
(Letzter Bericht 7/2007, 278f) Kreationismus wird in Europa von konservativen Christen, strenggläubigen Muslimen, orthodoxen Juden und den Mitgliedern christlicher Sondergemeinschaften wie den Zeugen Jehovas und zum Teil innerhalb der Neuapostolischen Kirche vertreten. Obwohl die Evolutionslehre in der Wissenschaft nahezu unumstritten ist, wird sie nach einer neuen Umfrage z.B. von jedem achten Dortmunder Lehramtsstudenten in Zweifel gezogen. Nach dieser Studie, die im vergangenen Jahr unter 1228 Studienanfängern durchgeführt wurde, ist 12,5 Prozent von ihnen unklar, ob überhaupt eine Evolution stattgefunden hat. Unter den künftigen Biologielehrern bestreiten immerhin 5,5 Prozent die vor rund 150 Jahren erstmals von Charles Darwin vertretene Theorie. Besonders groß ist der Widerstand gegen die Annahme, Mensch und Affe hätten gemeinsame Vorfahren: Neun Prozent der Biologiestudenten lehnen diese Annahme ab. Fächerübergreifend sind es sogar 13 Prozent der Lehramtskandidaten. Sogar 18 Prozent der Studienanfänger (10 Prozent der Biologiestudenten) befürworten die Annahme, der Mensch sei in seinem heutigen Aussehen direkt geschaffen worden.
Der Leiter der Studie, Professor Dittmar Graf, zeigte sich überrascht von den Ergebnissen. Schließlich haben alle Studienanfänger die moderne Biologie im Schulunterricht gelernt. Als Grund für die Skepsis sieht er Einflüsse aus den USA, wo die wortwörtliche Auslegung der biblischen Schöpfungsberichte und damit die Anzweiflung der Evolutionstheorie viel weiter verbreitet sind.
Auch in anderen europäischen Ländern wird kontrovers über den Kreationismus diskutiert. In Frankreich verschickte im Januar ein Autorenkollektiv um den türkischen Islamisten Harun Yahya (Adnan Oktar) einen 770 Seiten starken „Atlas der Schöpfung“ an fast sämtliche Schulen und Hochschulen des Landes. Darin wird Darwin als „die wahre Quelle des Terrorismus“ bezeichnet. Der polnische Europa-Abgeordnete Maciej Giertych von der rechtsradikalen „Liga der polnischen Familien“ glaubt, dass Dinosaurier und Menschen zeitgleich existiert hätten. Sein Parteikollege Miroslaw Orzechowski, Staatssekretär im polnischen Erziehungsministerium, verkündete öffentlich, die Evolutionstheorie sei eine Lüge.
Die politische Brisanz dieses ursprünglich religiösen Themas machte auch eine kontroverse Debatte im Europarat deutlich. Der dortige Ausschuss für Kultur, Wissenschaft und Bildung unter Vorsitz des französischen Mathematikers und Sozialisten Guy Lengagne hatte kürzlich einen umfangreichen Bericht vorgelegt, der in kreationistischen Lehren eine Bedrohung der Menschenrechte und der Demokratie sieht. Explizit warnt Lengagne vor der engen Verbindung zwischen religiösem Extremismus, der oft hinter der Ablehnung der Evolutionstheorie stecke, und rechtsgerichteter Politik. Wer den Kreationismus konsequent vertrete, wolle die Demokratie durch die Theokratie ersetzen. 63 der 119 Mitglieder des Europarats lehnten allerdings Lengagnes Bericht als zu einseitig ab und verwiesen ihn zurück an den zuständigen Ausschuss. Auf die Kritik des Europarats reagierte Lengagne entsetzt. „Wir erleben hier, wie die Weichen für eine Rückkehr ins Mittelalter gestellt werden, und zu viele Mitglieder dieser Menschenrechts-Versammlung bemerken es nicht“, sagte er.
Diese Kontroverse weist einmal mehr darauf hin, dass für eine angemessene Beurteilung des Kreationismus klar zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus unterschieden werden muss. Leider ist die dafür nötige Wahrnehmungs- und Unterscheidungsfähigkeit bei manchen Politikern und Journalisten nicht vorhanden (vgl. dazu R. Hempelmann, Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch? MD 1/2006, 4ff).
Michael Utsch