Anthroposophie und christlicher Glaube
Tagung der EZW mit Vertretern der Anthroposophie und der Christengemeinschaft
Anthroposophie und christlicher Glaube stehen in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander. Rudolf Steiner, der Begründer und die bis heute unangefochtene geistige Autorität der Anthroposophie, hat im Gegensatz zur indischen Theosophie Christus einen zentralen Stellenwert in seinem Lehrgebäude zugewiesen. Betont spricht Steiner ein feierliches „Ja“ zu Jesus als dem Christus. Von daher ist Steiner als Streiter für eine christliche Form der Esoterik und die Anthroposophie durchaus als die christlichste Richtung der Theosophie anzusehen.
Auf der anderen Seite ist Steiners gesamte Redeweise von Christus so von den Prämissen des theosophischen Entwicklungsdenkens durchdrungen, dass er zentrale christliche Inhalte esoterisch umbiegt. Die Anthroposophie vertritt ein monistisches Konzept der Emanation alles Seienden aus dem Göttlichen und integriert den Menschen in eine letztlich geistig gedachte Natur, in der alle Materie lediglich „gefrorenen Geist“ darstellt. Dies bringt es mit sich, dass sich die Anthroposophie auch in ihrem Heilsverständnis signifikant von den im ÖRK verbundenen Kirchen unterscheidet. Trotz ihrer Christusbezogenheit steht die Anthroposophie darum am äußeren Rand des Christentums. Identische Begriffe bezeichnen in Kirche und Anthroposophie zum Teil sehr unterschiedliche spirituelle Sachverhalte, die aus einem jeweils anderen Deutungsrahmen verstanden werden. Auf diese Spannung hat Werner Thiede in seinem Referat zum Abschluss einer Tagung der EZW zum Thema „Anthroposophie und christlicher Glaube“, die vom 13. bis 15. November 2006 in Berlin stattfand, hingewiesen.
Vorangegangen waren zwei Tage tief schürfender Beschäftigung mit anthroposophischen Auffassungen und intensiver Gespräche mit den anwesenden Vertretern von Anthroposophie und Christengemeinschaft. Ein großer Teil der über 40 Teilnehmer dieser hochkarätig besetzten Fachtagung bestand aus Multiplikatoren: theologische Hochschullehrer, Pfarrer und Waldorflehrer, Presse- und Fernsehjournalisten, Beauftragte für Weltanschauungsfragen in den Landeskirchen und Bistümern, Funktionäre der Waldorfbewegung und Pfarrer der Christengemeinschaft sowie Mitarbeiter staatlicher Sektenberatungsstellen in Deutschland und Österreich.
Theosophie und Historismus
War Rudolf Steiner in erster Linie Theosoph oder Anthroposoph? Mit großer Einfühlsamkeit und Sachkenntnis befasste sich der einführende Vortrag von Helmut Zander (Bonn) mit den historischen und geistesgeschichtlichen Wurzeln der Anthroposophie. Diese liegen, so Zander, vor allem in der Theosophie und dem Historismus des 19. Jahrhunderts. Steiner war selbstverständlich Theosoph und bezog seine verkündeten Inhalte in weit stärkerem Maße aus der Rezeption theosophischer Schriften, als dies später von ihm selbst und in der Anthroposophischen Gesellschaft zugegeben wurde. Allerdings hat er die theosophischen Stoffe meist in kreativer Weise umgearbeitet. Zum Teil wurden aktuelle wissenschaftliche Entdeckungen seiner Zeit mit aufgenommen und verarbeitet, was Zander an eindrucksvollen Beispielen darlegte. So kann man z. B. sehen, dass Steiners Äußerungen über die Luftschiffe in Atlantis vom Juli 1904 (GA 11, 29f) fast wörtlich einer Passage aus dem Buch „Atlantis“ des Theosophen William Scott-Elliot von 1903 (S. 67) entsprechen. Steiner hat aber, den Fortschritten in der Luftfahrt in jenem Jahr entsprechend (man denke an den spektakulären Flug der Gebr. Wright), die Technik (Höhenruder) und daraus folgend die Flughöhe der von ihm beschriebenen Luftschiffe modifiziert.
Die eigentliche Herausforderung der Zeit, auf welche die Theosophie und mithin auch die Anthroposophie eine Antwort versuchte, war der Historismus. Die explosionsartige Verbreitung publizierter Forschungsergebnisse in allen Bereichen der Wissenschaft – auch der Ethnologie und der Religionswissenschaft – führte zu einer tief greifenden Verunsicherung (Ernst Troeltsch: „Alles wackelt“). Damit brach die kulturelle Hegemonie Europas weg, die Bibelkritik zerlegte die Glaubensurkunden, die Ausdifferenzierung der Wissenschaft erzeugte Spezialisten und verhinderte den Überblick. In dieser Situation setzte Steiner gegen die Verunsicherung der historischen Kritik das zuverlässige Wissen aus der Akasha-Chronik. Sein großer Entwurf zeichnet das Ganze gegen die Zerstückelung. Darin liegt ein Grund für die Attraktivität theosophischer und anthroposophischer Entwürfe bis heute. Die zahlreichen praktischen Arbeitszweige der Anthroposophie entstanden erst wesentlich später, nach dem Ersten Weltkrieg, im Zuge des Aufbruchs aus der bis dahin gepflegten Innerlichkeit (1918 Politik, 1919 Waldorfschule, 1920 Medizin, 1922 Christengemeinschaft, 1924 Heilpädagogik und Landwirtschaft).
Der anthroposophische Erkenntnisweg
Anthroposophie bezeichnet sich selbst oft als „Geisteswissenschaft“. Dahinter verbirgt sich der Anspruch, mit Hilfe des besonderen anthroposophischen Schulungsweges Wahrnehmungsmöglichkeiten der geistigen Welt zu eröffnen, die eine gleichsam wissenschaftliche Erforschung ermöglichen sollen.
Mit der Darstellung dieser grundlegenden Inhalte anthroposophischen Denkens befasste sich Bernhard Grom (München) in seinem Vortrag zum anthroposophischen Erkenntnisweg. Als grundlegende Besonderheit stellte Grom Steiners intuitionistischen Grundzug heraus: Die sinnliche Wahrnehmung ist nur der äußere Anlass, um fertige Begriffe im Inneren zu schauen. Dies ist verbunden mit einem pantheistischen All-Einheits-Denken, das die Individualität als Teil einer kosmisch-göttlichen Ganzheit versteht. Der anthroposophische Schulungsweg mit den Stufen der Imagination, der Inspiration und der Intuition soll zu dieser mystischen Einheitserfahrung hinführen und dem Anspruch nach zu einer eigenen Erkenntnis jener höheren Welten verhelfen, über die Steiner so umfangreiche Mitteilungen gemacht hat.
Die Sphären und Hierarchien der Geisterwelt (Devachan) hat Steiner nicht als der Welt gegenüberstehenden Schöpfer verstanden. Er kennt kein göttliches „Du“, sondern stets nur eine Vielzahl von Wirkmächten und Geisteswesen. So schreibt Steiner z.B., dass die Herabkunft des Christus jene Götter beschlossen hätten, die man als Vaterwelt zusammenfasst. Grom prägte dafür den Begriff eines plural strukturierten Emanationspantheismus.
Kritisch gegenüber dem intuitionistischen Gedankenmonismus Steiners gab Grom zu bedenken, dass Eingebungen immer richtig oder falsch sein können. Die Begriffe kommen – anders als Steiner es meint – nicht fertig aus einem geistigen Bereich ins Bewusstsein, sondern werden durch Beobachtung und Abstraktion mühsam, bruchstückhaft und auf dem Weg über manche Irrtümer gewonnen. Aus Steiners scheinbar so konkreten Mitteilungen aus der Akasha-Chronik hat sich nie eine archäologische Entdeckung ergeben. Auch was in der Meditation erfahren wird, ist zunächst wesentlich von den eigenen Überzeugungen und Erwartungen bestimmt.
Groms zweiter fundamentaler Kritikpunkt betrifft das Gottesverhältnis. Die Auflösung Gottes in ein pluriformes göttliches Bewusstseins- und Geistmeer macht einen echten Gebetsdialog kaum noch möglich. Zwischen menschlichem Denken und Gottes erschaffendem Denken besteht ein grundlegender Unterschied. Die materielle Welt ist keineswegs ein verfestigter Teil des gleichen Göttlich-Geistigen.
Waldorfschule im Geist der Anthroposophie
Der wohl bedeutendste praktische Arbeitszweig der Anthroposophie besteht in der Waldorfpädagogik. Interessante, aktuelle wissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Waldorfpädagogik konnte Heiner Ullrich (Mainz) in seinem Vortrag über das anthroposophische Erziehungsmodell vorstellen. Mit großer Detailgenauigkeit beschrieb er, warum die Freie Waldorfschule eine Schule aus dem Geist der Anthroposophie darstellt, obwohl sie sich selbst nicht als Weltanschauungsschule versteht.
Organisatorische Besonderheiten bestehen in ihrem Charakter als Einheits- bzw. Gesamtschule, in der die Schüler ohne Zensuren und ohne Sitzenbleiben bis zur 12. Klasse gemeinsam lernen. Somit bildet die Klasse eine langjährige Schicksalsgemeinschaft.
Es gibt keine fachspezifischen Lehrbücher, sondern alle Unterrichtsinhalte werden in sog. Epochenheften handschriftlich festgehalten. Dieser Begriff ergab sich aufgrund der Organisation des Unterrichts in sog. Epochen, z.B. vier Wochen Deutsch, zwei Wochen Physik, wobei der Klassenlehrer den täglichen Hauptunterricht in nahezu allen Fächern erteilt. Lediglich in den Nebenfächern (Fremdsprachen, Religion etc.) gibt es besondere Fachlehrer. Als zentrale Aufgabe des Klassenlehrers gilt die Temperamentserziehung, d.h. die seelische Konstitution des Kindes soll gemäß der Lehre von den Temperamenten ins Gleichgewicht gebracht werden. Neben der Unterteilung in die vier Temperamente (Melancholiker, Choleriker, Phlegmatiker, Sanguiniker), die sich bis in die Sitzordnung auswirkt, spielt die Einteilung in die Altersstufen nach Lebensjahrsiebten eine zentrale Rolle. Während im ersten Lebensjahrsiebt die äußeren Sinne durch Nachahmung ausgebildet werden, soll im zweiten Jahrsiebt die Autorität des Klassenlehrers zur Entfaltung der inneren Sinne helfen. Erst im dritten Jahrsiebt bildet sich nach Steiner das abstrakt-begriffliche Denken heraus. Eine solche Rhythmisierung zeigt sich auch in der Konzentration des Lehrstoffes bzw. der Erzählstoffe, die der Klassenlehrer am Ende des Hauptunterrichtes täglich vorträgt.
Die Lehrmethode wird zuweilen als „goetheanistisch“ bezeichnet. In der Naturbetrachtung wird versucht, hinter der äußeren Naturerscheinung deren seelisch-geistige Realitäten zu sehen. Mit Verweis auf die morphologische Naturanschauung Goethes sollen in bewusster Abkehr von der quantitativ-experimentellen Forschungsweise des „Materialismus“ die Schüler z.B. die Pflanzen als Manifestationen von Gedanken erkennen. Für einen Waldorflehrer ist die Pflanzenwelt die Seelenwelt der Erde und in allem Naturdasein lebt ein Geistig-Seelisches, welches der Mensch erkennen kann, da er als Mikrokosmos alle Bestandteile der Welt enthält. So ist in den Unterricht eine spirituelle Dimension mit einbezogen, die sich nur von der Anthroposophie her erschließt. Die weit verbreitete Ansicht, Waldorfschule sei Reformpädagogik, greift darum zu kurz. Es ist eine Schule aus dem Geist der Anthroposophie mit einem hohen Grad an Spiritualisierung und Ritualisierung, die in dem Ausmaß ihrer weltanschaulichen Geschlossenheit in der Schullandschaft beispiellos ist.
Wer sind die Waldorfschüler?
Im zweiten Teil seines Vortrages konnte Heiner Ullrich einige aktuelle Studienergebnisse vorstellen. Das weltweite Interesse an Waldorfpädagogik hält derzeit unvermindert an. In den USA und Südafrika haben sich die Schulgründungen verdoppelt, in Deutschland gibt es mittlerweile mehr als 200 Waldorfschulen. Eine schwedische Drei-Jahres-Studie hat soziale Milieus und Lernerfolge verglichen. Auffällig war dabei das extrem homogene soziale Milieu der Eltern von Waldorfschülern. 90 % sprechen die Sprache des Landes, gehen „weichen“ (sozialen) Berufen nach, sind politisch eher links geprägt, verstehen sich als religiös und haben eine soziale Haltung gegenüber den Schwachen der Gesellschaft. Bei den in Schweden schon längere Zeit üblichen einheitlichen Bildungstests schneiden die Waldorfschüler am Ende des 9. Schuljahres relativ schlecht ab. Ein größerer Teil der Schüler erreicht die Standards nicht. Auffällig ist, dass aber trotz der objektiv schlechteren Leistungen die Waldorfschüler sich an ihrer Schule wohler fühlen und ein positiveres Bild von ihren eigenen Schulleistungen besitzen. Die sozialen Kompetenzen sind im Vergleich zu anderen ausgeprägter und die Waldorfschüler verinnerlichen in höherem Maß die Leitziele demokratischer Erziehung.
Obwohl fachlich nur mäßig erfolgreich, studiert der größere Teil der Absolventen (60 %) später an einer Hochschule, wobei stärker aus persönlichem Interesse als aufgrund von Karriereüberlegungen studiert wird.
In einer neuen Studie aus Deutschland wurden u.a. die Berufe der Eltern und die Studienfächer der Waldorfabsolventen untersucht. Auffällig war hier der hohe Anteil von Lehrern an staatlichen Schulen unter den Waldorfeltern (20 %). Die ehemaligen Waldorfschüler wählten oft künstlerische und sozialpflegerische Berufe, der größte Teil wurde aber wiederum Lehrer (15 %) oder Ingenieur (10 %). Unterrepräsentiert waren hingegen Kaufleute und Bürofachkräfte, was auf eine eher wirtschaftsfeindliche Ausrichtung schließen lässt.
Im Ergebnis kann man feststellen: Waldorfschulen sind keine Schulen für alle Kinder, sondern Schulen des Bildungsbürgertums. Sie bringen nicht nur „lebensuntüchtige Schöngeister“ hervor, sondern überwiegend erfolgreiche berufliche Karrieren. Nicht zu beantworten ist die Frage, wie sich dabei die Anteile zwischen Waldorfschule und der pädagogisch kompetenten Elternschaft verteilen. Immerhin haben – auch diese Zahl muss man sehen – 38 % der Waldorfschüler während der Schulzeit privaten Nachhilfeunterricht bekommen.
80 % der ehemaligen Waldorfschüler fühlten sich in ihrer Schule wohl und würden wieder auf eine Waldorfschule gehen. 50 % haben ihre Kinder wieder auf eine Waldorfschule geschickt. Kritisch gesehen wird die geringe Bedeutung der naturwissenschaftlichen Fächer und der Politik.
Überproportionale Wahrnehmung
Jens Heisterkamp, Chefredakteur der anthroposophischen Zeitschrift „info3“ (Frankfurt), wies in seinem Überblick über die anthroposophischen Arbeitszweige in Deutschland darauf hin, dass die öffentliche Wahrnehmung der Anthroposophie größer ist, als man angesichts der eher geringen Anzahl anthroposophischer Einrichtungen vermuten könnte.
Ein in Buchform erhältliches Adressverzeichnis weist auf 700 Seiten etwa 7 000 Adressen aus. Dahinter stehen ca. 18 000 Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft und ca. 10 000 Mitglieder der Christengemeinschaft. Angesichts von 165 000 Zeugen Jehovas in Deutschland sind das eher bescheidene Zahlen, empfand selbst Jens Heisterkamp. Allerdings sind etwa 90% der Medienberichte zu anthroposophischen Einrichtungen und Initiativen von einer positiven und respektvollen Resonanz getragen. Die rund 200 Waldorfschulen nehmen 0,8 % der Erstklässler der Bundesrepublik auf. Welche Auswirkungen der durch die Pisa-Studien ausgelöste Leistungsdruck haben wird, ist noch unklar.
Die anthroposophische Medizin ist mit drei Kliniken und der staatlichen Anerkennung als eigene Therapierichtung ein Vorzeigeprojekt. Allerdings sind im Adressbuch lediglich 400 anthroposophische Ärzte verzeichnet. Die klassischen Unternehmen Weleda und Wala befinden sich in einem Prozess der stärkeren Marktorientierung und versuchen sich offensiv auf dem Wellness-Markt zu behaupten. Zum biologisch-dynamischen Landbau der Demeter-Betriebe gehören mit 1 365 Landwirten weniger als 10 % der Öko-Betriebe in Deutschland. Erfolgreiche Firmen sind Alnatura, auch Hess Natur konnte sich mit Naturtextilien am Markt behaupten. Als Öko-Bank mit anthroposophischen Wurzeln fördert die GLS-Bank in Bochum viele engagierte Projekte.
Insgesamt ist die Anthroposophie ein fester Kulturfaktor in der deutschen Gesellschaft geworden. Allerdings ist sie momentan keine Wachstumsbranche, sondern eher „eine Stimme der erfahrenen Macher“, meinte Jens Heisterkamp.
Die Christengemeinschaft
Von besonderem Interesse in einem Dialog zwischen Anthroposophie und Kirche ist naturgemäß die Christengemeinschaft. Als Versuch Rudolf Steiners, auf Einladung von evangelischen Theologen den Lehren der Anthroposophie Ausdruck in einem christlichen Kultus zu verschaffen, steht sie zwischen anthroposophischer Weltanschauung und kirchlichem Glaubensvollzug.
Angetreten ist sie als „Bewegung für religiöse Erneuerung“. Wie viel konnte von diesem Anspruch bisher eingelöst werden und was leistet die Christengemeinschaft in dieser Hinsicht heute? Diese kritischen Anfragen in dem Vortrag des EZW-Referenten Andreas Fincke haben ihren Ausgangspunkt in der Beobachtung, dass die Christengemeinschaft zu den intellektuell anspruchsvollsten kleineren Religionsgemeinschaften gehört. Dabei sollte der Name Christengemeinschaft ursprünglich verdeutlichen, dass für das neue Bewusstsein die alten Kirchen keine Gemeinschaft von Christen mehr seien. So erhob sich die Christengemeinschaft über Katholizismus und Protestantismus als dritte Kirche. Aber was ist davon übrig? Unbefangene Religionswissenschaftler würden wohl an die Pfingstbewegung, aber kaum an die Christengemeinschaft denken, wenn man sie nach einer heutigen religiösen Erneuerungsbewegung fragt.
Spannend ist die Frage – und wurde auf der Tagung immer wieder diskutiert – nach der ökumenischen Stellung der Christengemeinschaft. Diese Stellung ist deshalb ungewöhnlich, weil Fremd- und Selbstwahrnehmung beträchtlich auseinander laufen. Nach ihrem Selbstverständnis sieht sich die Christengemeinschaft als Teil der Ökumene und nicht als exklusiven Heilsweg. Die Basisformel des ÖRK wird bedingungslos anerkannt, wie Frank Hörtreiter, Pfarrer in der Christengemeinschaft, nachdrücklich betonte. Die Trennung geht in diesem Fall von den in der Ökumene vertretenen Kirchen aus. Diese sind der Meinung, dass die theosophische und anthroposophische Prägung der geistigen Grundlagen der Christengemeinschaft so dominant ist, dass sie den ökumenischen Konsens verlässt. Äußerlich sichtbar wird dieser Dissens an der Nichtanerkennung der Taufe der Christengemeinschaft als christliche Taufe, weil die Christengemeinschaft nicht die übliche trinitarische Formel verwende und in der Taufintention von der christlichen Linie abweiche.
Fragen an die Christengemeinschaft
Die Fragen, die in diesem Zusammenhang mit der Christengemeinschaft diskutiert werden (müssen), sind:
1. Welche Rolle spielen die Lehren Rudolf Steiners in der Christengemeinschaft wirklich?
In Dialogsituationen wird mitunter die Lehrfreiheit und Unabhängigkeit der Pfarrer der Christengemeinschaft betont und damit versucht, Steiners Einfluss zu relativieren. Aber steht Steiners Weltauffassung nicht als hermeneutischer Schlüssel hinter allen Lebensäußerungen und biblischen Textauslegungen der Christengemeinschaft? Faktisch ist die Christengemeinschaft trotz Lehrfreiheit viel homogener als ein beliebiger evangelischer Pfarrkonvent mit Bekenntnisbindung.
2. Welchen Charakter haben die Ritualtexte?
In den Gesprächen auf der Tagung wurde erneut deutlich, dass diese quasi das unverrückbare Fundament der Christengemeinschaft darstellen und als nicht von Steiner selbst stammend, sondern unmittelbar aus der geistigen Welt geschöpft gelten. (In analoger Weise meinen z.B. auch fromme Muslime, dass der Koran nicht von Mohammed stamme, sondern als Urbuch im Himmel aufbewahrt werde.) Diese Festlegung hat Konsequenzen. Praktisch verhindert sie eine Anpassung der Taufformel an die ökumenischen Gegebenheiten. Theoretisch steht sie in einer unübersehbaren Spannung zu der oft betonten Darstellung der Anthroposophie, Steiner sei kein Prophet. Wenn er aber in hellsichtiger Schau unverrückbare, „heilige“ Texte übermittelt, ist er in seiner Funktion eben kein „wissenschaftlicher“ Geistesforscher mehr, sondern bekommt unverkennbar prophetische Züge.
3. Welche Rolle spielt die abgeschlossene Offenbarung im Alten und Neuen Testament für die Christengemeinschaft?
Die während der Tagung von anthroposophischer Seite mehrfach erhobene Forderung, die Kanonsgrenzen zu öffnen und die Offenbarung nicht als abgeschlossen zu betrachten, geht in die gleiche Richtung. Diese Impulse können als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass Steiners Weltanschauung unterschwellig eben doch als neue Offenbarung betrachtet wird, welche die biblischen Quellen überbietet. Steiner selbst meinte jedenfalls explizit, sich nicht mehr auf die „historischen Urkunden“ beziehen zu müssen (GA 114, 20).
4. Wer ist Christus?
Der starke Christusbezug ist ein wesentliches verbindendes Element zwischen den christlichen Kirchen und der Christengemeinschaft. Aber meinen wir auch dasselbe, wenn wir „Christus“ sagen? Überdecken die Steinerschen Interpretationen vom Christusgeist als hohes Sonnenwesen das biblische Zeugnis, oder kann es sich dagegen behaupten? Diese Fragen verdienen es, in einem offenen und ehrlichen Dialog mit Vertretern der Christengemeinschaft weiter bedacht zu werden. In das Gespräch mit dem „Erzoberlenker“ der Christengemeinschaft, Vicke von Behr, der an fast der gesamten Tagung teilgenommen hat, haben sie nicht alle hineingepasst.
Fazit
Das Besondere an dieser Tagung war die Möglichkeit, die Anthroposophie in ihrer Breite und Vielschichtigkeit erleben zu können. Während man sich durch den Besuch einzelner anthroposophischer Einrichtungen nur ein Bild von einzelnen Arbeitsfeldern machen kann, so bot diese Tagung einen übergreifenden und doch sehr tief schürfenden Einblick in die anthroposophische Szene in Deutschland. Sogar bei der Christengemeinschaft ermöglichte es die Tatsache, dass verschiedene einflussreiche Persönlichkeiten der Christengemeinschaft über längere Zeit anwesend waren, diese in ihrer Unterschiedlichkeit zu erleben. So brachte die Tagung sicherlich für viele Teilnehmer neben fundierten Informationen wichtige Dialogerfahrungen und viele Impulse für die weitere Beschäftigung mit dem weiten Feld der Anthroposophie.
Harald Lamprecht, Dresden