Johannes Heil unter Mitarbeit von Elias S. Pfender

Antisemitismus heute. Eine Bestandsaufnahme

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Antisemitismus heute. Eine Bestandsaufnahme1

Antisemitismus und Juden – Deutschland und Europa

In Europa leben 1,1 Millionen Juden, davon 85 % in Frankreich, England, Deutschland und Ungarn. Annähernd 50 % von diesen leben allein in den Großräumen Paris und London,2  während in der größten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, in Berlin, gerade einmal etwa 1 % der europäisch-jüdischen Bevölkerung lebt. Dennoch kommt der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland mit ca. einhunderttausend gemeindlich eingetragenen Mitgliedern3  im europäischen Zusammenhang und damit auch bei der Frage nach judenfeindlichen Einstellungen und Bewegungen besondere Aufmerksamkeit im In- wie im Ausland zu. Das liegt an der besonderen geschichtlichen Situation in der Folge des Holocaust verbunden mit dem Umstand, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zuletzt die einzig markant wachsende in Europa war, sowie der Attraktion, die insbesondere Berlin auf jüngere Israelis und Juden aus anderen Ländern ausübt. Deutschland ist, historisch bedingt und mit limitiertem Vertrauensvorschuss versehen, gerade angesichts der gegenwärtig krisenhaften Entwicklung in Frankreich und anderen europäischen Ländern zum skeptisch beäugten Prüfstein für die Bestandsfähigkeit einer jüdischen Diaspora unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts geworden. Der Blick auf die deutschen Verhältnisse, eben auch auf Konstanten und Veränderungen antisemitischer Manifestationen, verläuft deshalb nicht in einem engen nationalen Rahmen, sondern bewegt sich in einem weiteren, europäischen wie auch internationalen Bedingungs- und Interessengefüge.

In diesem Zusammenhang erscheinen die kontinuierlichen Manifestationen von Antisemitismus nach 1945 und zuletzt die von klar antisemitisch formulierten Parolen und Gewalt begleiteten Proteste anlässlich der israelischen Militärreaktion auf den Beschuss Israels aus dem Gaza-Streifen im Sommer 2014 in ganz eigenem Licht. Sie werden für nicht minder beunruhigend als die Entwicklung in Frankreich erachtet, die in den Attentaten vom Januar 2015 in Paris gipfelten, oder davor und danach die Anschläge in Brüssel, Kopenhagen und anderswo. Umfragen von NGOs und Regierungsstellen kommen im Ergebnis einhellig zum Befund, dass auch in Deutschland der Nahostkonflikt an vorhandene Vorurteilsstrukturen anknüpft, sie überlagert und neue Formationen von Trägerschichten hervorbringt. Dabei bedeutet der Sommer 2014 nur den bisherigen Höhepunkt einer länger zurückreichenden Entwicklung, in der die Wahrnehmung von Juden undifferenziert mit der von Israelis und israelischer Politik zusammenfließt. Erschwerend kommt hinzu, dass die antizionistische Aufladung und Neuausrichtung traditioneller Judenfeindschaft über die bisherigen Träger rechts, links und partiell in der Mitte hinausreicht. Ihre Antriebskräfte kommen aus einem markant wahrnehmbaren muslimischen und besonders islamistisch inspirierten Spektrum. Es ist international vernetzt, in seinem Ausmaß aber schwer messbar. Zum jetzigen Zeitpunkt ist zu fragen und für die künftige gesellschaftlich-politische Praxis maßgeblich, ob das erzeugte und medial massiv vermittelte Bild als Gesamtbild verstanden werden kann und auf sicheren Befunden beruht. Hier ist Skepsis angebracht. Genauere Analysen tun not, zumal auch „Islamkritiker“ unterschiedlicher Couleur sich zuletzt beeilt haben, die Ereignisse des Sommers 2014 und die Anschläge Anfang 2015 in ihrem Sinne als Beleg für ein Bedrohungsszenarium zu deuten. In der sog. „Pegida“-Bewegung hat sich ihre Sicht auch ansonsten politikfernen Schichten mitgeteilt.

Die Fragilität messen – deutsche Befunde seit 2011

Der Ende 2011 vorgelegte Bericht der 2008 eingesetzten Expertenkommission des Bundestages hat eine differenzierte und umfassende Bestandsaufnahme der verfügbaren Daten und Analysen vorgenommen und eine Reihe von Empfehlungen ausgesprochen. Zu den Ergebnissen zählt die Feststellung, dass „eine Größenordnung von etwa 20 Prozent [der Gesamtbevölkerung] latentem Antisemitismus an[hängt]. Die Umfragen verdeutlichen im Einzelnen, dass neben den ‚klassischen’ antisemitischen Bezichtigungen – Juden besäßen zu viel Einfluss (Verschwörungsvorwurf) oder seien wegen ihres eigenen Verhaltens selbst ‚schuld’ an ihrer Verfolgung – Mutmaßungen und Vorwürfe sehr viel stärker eine Rolle spielen, die erst als Reaktion auf den Holocaust und die Existenz des Staates Israel entstanden sind.“4  Dieser Bericht bildet die Grundlage der vorliegenden Ausführungen. Er wird durch jüngere Erhebungen ergänzt.

Erhebungen und Umfrageergebnisse im Bereich Antisemitismus und Judentum sind methodisch umstritten und mit besonderer Sorgfalt zu betrachten. Mehrere Faktoren sind dabei zu berücksichtigen. Da Juden nur einen ganz geringen Bevölkerungsanteil ausmachen, kennen viele Menschen persönlich niemanden, der dem Judentum angehört. Aufgrund dieser Distanz können Aussagen, ganz gleich ob positiv oder negativ, zunächst mit Unwissenheit versehen sein, weil sie nur auf Sekundärinformationen beruhen. Außerdem ist Antisemitismus in der öffentlichen Meinung geächtet. Deswegen werden sich viele in einer Umfrage für eine sozial erwünschte Antwort entscheiden, die aber nicht unbedingt ihrer eigenen Vorstellung entsprechen muss. Nicht zuletzt sind Aussagen in diesem Bereich extrem kontextabhängig, so dass auch das Umfeld einer Äußerung mit betrachtet werden muss, um abzuschätzen, ob judenfeindliche Konnotationen eine Rolle spielen oder nicht.

Zudem verwenden manche Studien 5er-Skalen mit einer mittleren Antwortkategorie „teils/teils“. In diese Kategorie kann sich jeder Befragte flüchten, der zu einer Aussage keine Stellung beziehen möchte. Inhaltlich ist die Mittelkategorie nicht interpretierbar, so dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Antworten weder als Zustimmung noch als Ablehnung gewertet werden kann. Hinzu kommt die Schwierigkeit, Meinungen zu filtern, die (durchaus legitim) Kritik an Israel äußern und nicht antisemitisch sind. Mit diesen Vorbehalten sind die Studien zu betrachten, die aus diesen Gründen und insbesondere der Interpretationsschwierigkeiten wegen nur sehr zurückhaltend durchgeführt werden.

Auf der Basis des Bielefelder Langzeitprojekts zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) kommt eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragte Studie zu dem auf den ersten Blick überraschenden Befund, dass „rechtsextreme und menschenfeindliche Einstellungen in Deutschland gegenüber den Vorjahren deutlich zurückgegangen“ seien. Aufgrund der Proteste zum Gaza-Krieg im Sommer 2014 wurden die im Juni 2014 erhaltenen Aussagen zum klassischen Antisemitismus im September [2014] erneut überprüft. Zusätzlich wurden weitere Einstellungen (sekundärer Antisemitismus, israelbezogener Antisemitismus, NS-vergleichende Israelkritik, israelkritische Einstellung) erhoben, die jedoch nicht Teil der Umfrage im Juni 2014 waren. An der Befragung im September 2014 nahmen allerdings nur 505 Befragte teil, deren Zusammensetzung lediglich „nahezu einer repräsentativen Stichprobe“ entspricht.6  Aufgrund einer ungewöhnlich hohen Teilnahmeverweigerung können Verzerrungen der Stichprobe nicht ausgeschlossen werden, so dass die Ergebnisse vom September 2014 mit Vorsicht zu interpretieren sind. [Es folgen Umfrageergebnisse in einer hier nicht abgedruckten Tabelle 1.]

Insgesamt ist bei allen Bereichen des Antisemitismus ein zum Teil deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Lediglich beim klassischen Antisemitismus zeigt sich auf niedrigem Niveau Stagnation. Es haben „sowohl 2004 als auch im September 2014 die neuen Facetten des Antisemitismus [sekundärer Antisemismus etc.] sehr viel mehr Zuspruch erhalten als der klassische Antisemitismus“.8

Diese Befunde lassen sich unterschiedlich deuten. Der sekundäre Antisemitismus ist von 2004 bis 2014 deutlich gesunken, befindet sich aber immer noch auf einem hohen Niveau. Der israelbezogene Antisemitismus ist nicht nur gesunken, sondern liegt auch 2014 deutlich unter dem Niveau des sekundären Antisemitismus und ist etwa gleich ausgeprägt wie der klassische Antisemitismus. Ausgeprägter sind zum Teil Vergleiche zwischen Verbrechen der Nationalsozialisten und israelischen Aktionen.

Über die Befunde der FES-Studie soll an dieser Stelle hinausgegangen werden. Vor dem Hintergrund der Szenen, die sich im Sommer 2014 auf Straßen deutscher Städte, in den Posteingängen jüdischer Einrichtungen und Privatpersonen sowie besonders massiv in sozialen Netzwerken – im Schutze der Anonymität, aber auf breite Einsehbarkeit hin kalkuliert – abgespielt haben, fällt der Befund der Studie überraschend moderat aus. Auf Schuldabwehr zielender sekundärer Antisemitismus ist demnach im Zeitraum zwischen 2004 und 2014 deutlich zurückgegangen. Die völlige Ablehnung von Aussagen wie „Ich ärgere mich, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden“ hat deutlich zugenommen, die völlige Zustimmung zu solchen Aussagen dagegen abgenommen.

Geringer sind größtenteils die Veränderungen der teilweisen Zustimmung und der teilweisen Ablehnung. Der Aussage „Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer“ widersprachen voll und ganz nach dem Gaza-Krieg im September 2014 doppelt so viele Befragte wie 2004 (2014 51,6 % zu 2004 23,1 %); die Werte für völlige Zustimmung haben sich im gleichen Zeitraum halbiert (12,6 % auf 6,1 %). In summa: Der Studie zufolge ist nicht erkennbar, dass der relativ positive Trend der vergangenen Jahre sich zuletzt völlig verkehrt hätte.

Eine Analogie finden diese Befunde in Beobachtungen der Leipziger Mitte-Studie 2014 zur Abnahme rechtsextremer und antisemitischer Haltungen in den Jahren 2002 bis 2014, die nach stetem Anstieg auch in den östlichen Bundesländern zuletzt signifikant ausfiel.9

Zu etwa gleichen Ergebnissen kommt eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung. Danach stimmten 2013 8 % der Befragten der Aussage zu: „Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer“.10  Anhand der Studie der Bertelsmann-Stiftung ist erkennbar, dass kritische Einstellungen im Alter zunehmen. Je älter die Befragten sind, desto eher stimmen sie der Aussage zu: „Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer“.11  Dagegen wird der Israel/NS-Vergleich in allen Altersgruppen fast gleich und mit einer gegenüber anderen Fragen höheren Zustimmung geteilt.12

Soweit Unterschiede in Umfragen bestehen, könnte dies auf ein partielles Umdenken mit wachsendem Verständnis für die israelische Sicherheitspolitik angesichts des Erstarkens der „Al-Nusrah-Front“ und des „Islamischen Staates“ in Syrien und dem Irak interpretiert werden. Das von der FES-Studie in Rechnung gestellte Wirken einer weitreichenden „Kommunikationslatenz“, wie sie von den Berliner Soziologen Rainer Erb und Werner Bergmann 1986 für die beschränkte Fassbarkeit antisemitischer Einstellungen auf dem Wege auch anonymisierter Umfragen definiert worden ist,13  wird hier grundsätzlich skeptisch beurteilt. Zwar ist damit zu rechnen, dass in gewissem Umfang die Bereitschaft zu offener Äußerung gruppenbezogener menschenfeindlicher Einstellungen in Reaktion auf die Aufdeckung der NSU-Straftaten zurückgegangen ist.14  Eine gewisse Differenz zwischen gedachten und geäußerten Meinungen sollte in Rechnung gestellt werden. Gleichwohl gehört es zu den Erfahrungen der Gegenwart, dass im Unterschied zu den subtil wirkenden Konventionen der Zeit vor 1989 heute antisemitische und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nicht nur im Schutz der relativen Anonymität sozialer Netzwerke und Medienforen, sondern auch mit Klarnamen und voller Absenderangabe oder gar auf offener Bühne geäußert werden.15  Dass der anonyme Antisemit im Grunde ein Typ von gestern ist, zeigt sich auch darin, dass Juden antisemitische Artikulationen neben dem Internet am häufigsten im persönlichen Arbeits- und Gesellschaftsumfeld erleben.16

Oft genannt, aber bislang ohne empirischen Beleg: Antisemitismus unter Muslimen

Wenig Auskunft können die besprochenen Erhebungen über die quantitative Zunahme antisemitischer Einstellungen unter Muslimen in Deutschland geben. Nach einer älteren Umfrage des unabhängigen Washingtoner Pew Research-Centers waren 2006 „negative Ansichten zu Juden“ unter Muslimen in Deutschland doppelt so hoch (44 %) wie unter Nicht-Muslimen. Ähnlich, aber auf wesentlich niedrigerem Niveau (28/13 %), stellte sich die Verteilung in Frankreich dar.17  Diese Werte dürften sich zwischenzeitlich erheblich geändert haben, ohne dass sie sich im Einzelnen belegen ließen. Zur Verfügung stehen teils hervorragende qualitative Studien, die Analysen der in den letzten Jahren unter Muslimen gewachsenen Vorstellungen vornehmen.18  Der Nährboden für verfestigte negative Einstellungen, gerade unter jüngeren Muslimen gegenüber Juden, liegt diesen Studien zufolge in den persönlichen, aber auch empirisch fassbaren Abwertungserfahrungen, die diese Jugendlichen machen und für die Antisemitismus dann eine gegenstabilisierende Funktion hat.19 Ohne quantitative Begleitstudien bleiben solche Studien aber Momentaufnahmen von begrenzter Aussagekraft, die sich obendrein in die Gefahr einseitiger Inanspruchnahme begeben. […]

Antisemitismus in Deutschland und Europa im Vergleich

Zwar geben die für die Bundesrepublik gemessenen Befunde nicht unmittelbar Anlass zur Besorgnis. Auch wenn das persönliche Erleben von Betroffenen diesen Ergebnissen in bestürzender Weise widerspricht, so stellen die empirischen Befunde sich aber im gesamteuropäischen Zusammenhang als vergleichsweise günstig dar. Dies geht aus einem 2014 veröffentlichten Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) in Wien hervor. Je nach Fragestellung waren dafür ermittelte Vergleichsdaten anderer Staaten der EU leicht bis erheblich höher und nur in Ausnahmen geringer. Dies kann als Resultat einer bedachteren Politik und als immerhin noch vergleichsweise bessere Grundlage für proaktives Handeln in der Zukunft verstanden werden. Eine isolierte Betrachtung der deutschen Verhältnisse verbietet sich aber auch deshalb, weil die europäische Einigung auch in ihren Schattenseiten vorangeschritten ist, und – so paradox es klingen mag – die europäische Einigung auch Europagegner, Chauvinisten, Rassisten und Antisemiten europaweit vereint. Entwicklungen und Einstellungen in anderen Ländern wirken nicht zuletzt auf Deutschland zurück.

Der FRA-Bericht wurde unter der Federführung des Markt- und Meinungsforschungsunternehmens Ipsos MORI sowie des Institute for Jewish Policy Research London (JPR) auf der Grundlage einer im Verbund mit der FRA entwickelten Datenerhebungsmethodik erstellt. Es handelt sich um eine nicht repräsentative Erhebung. Der Bericht bietet eine vergleichende handlungsorientierte Studie aufgrund von Online-Befragungen unter knapp sechstausend jüdischen Bürgern und Bürgerinnen aus acht Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die in einem relativ knappen Zeitraum im Herbst 2012 durchgeführt wurden. Sie sind Teil der Arbeiten der FRA, in denen die Erfahrungen unterschiedlicher Gruppen mit Hasskriminalität analysiert werden. Es ist das Verdienst dieses Berichts, mit der Untersuchung jüdischer Erfahrungen und Wahrnehmungen im Zusammenhang mit Antisemitismus eine sonst wenig beachtete Perspektive gewählt zu haben. Damit werden keine eigentlichen Daten zu antisemitischen Einstellungen oder ein Gesamtbild zu Vorfällen, sondern zu Wahrnehmungen und zur subjektiven Wirksamkeit von Antisemitismus bereitgestellt. Die Studie bietet damit auch für Deutschland Ergebnisse, die aus anderen Erhebungen nicht verfügbar sind. Allerdings fehlen dem FRA-Bericht die für einen vollständigen Gesamtbefund wesentlichen Staaten wie Polen, Spanien und Portugal. Der Befund für Rumänien war quantitativ zu gering, um ihn vergleichend einzusetzen, und befindet sich in einem eigenen Anhang.20  Gründe für die Unvollständigkeit der Erhebung werden ansonsten nicht genannt. Für Bulgarien liegt eine davon unabhängige Studie der Jahre bis 2010 der Organization of the Jews of Bulgaria vor, die hier nicht ausgewertet wurde.

Der Befund der FRA zeigt, dass Juden Antisemitismus durchweg als ein zentrales Problem betrachten und zuletzt ein merkliches Anwachsen beobachten.21 Im Einzelnen fallen jedoch deutliche Länderunterschiede auf [vgl. die umseitige Tabelle]. In Relation zu anderen sozialen Problemen rangiert der Antisemitismus in der Wahrnehmung der in Deutschland befragten Juden an höchster Stelle (61 %), während in den anderen europäischen Staaten bei durchweg deutlich höheren Werten (in Frankreich, Großbritannien, Italien, Ungarn liegt der Wert bei über 90 %) Arbeitslosigkeit, die Wirtschaftslage oder Rassismus im Allgemeinen gleichrangig oder noch höher wahrgenommen werden. Bei allen Fragen zu sozialen Problemen rangieren die deutschen Werte durchweg leicht oder deutlich unter dem Acht-Länder-Durchschnitt.22 Wo der Antisemitismus ohnehin als großes oder sehr großes Problem wahrgenommen wird (Belgien, Frankreich und Ungarn), ist auch der Eindruck besonders verbreitet, dass er in den vergangenen fünf Jahren noch erheblich zugenommen habe.23 Dagegen gibt es markante Unterschiede in der Zustimmung zur Aussage, dass er „stark“ zugenommen habe: Frankreich 74 %, Deutschland 32 %, Lettland 9 %.24

Es überrascht nicht, dass Juden in Europa mit antisemitischen Einstellungen, vor allem auch mit Vergleichen zwischen NS-Deutschland und Israel, am häufigsten im Internet konfrontiert werden, wobei unklar bleibt, ob dabei nur direkte Zuschriften oder auch Funde im Internet berücksichtigt sind. Nach dem Internet werden Juden mit Antisemitismus am häufigsten im Freundes- und Arbeitsumfeld konfrontiert.

Mit Ausnahme von Lettland (29 %) und Großbritannien (41 %) liegen die sonstigen Länderwerte hier gleichmäßig zwischen 53-59 %, haben also mehr als die Hälfte der Befragten in den letzten zwölf Monaten solche Erfahrungen gemacht.25  Hier zeichnet sich eine überaus bedenkliche, desintegrativ wirkende Dynamik gesellschaftlicher Beziehungsgestaltung zwischen Juden und Nichtjuden ab, denn auf lange Sicht muss es zur Umgehung nachteilhafter Erfahrungen sicherer erscheinen, nur unter „seinesgleichen“ zu verkehren und sich auch auf freie Berufe und andere Selbständigkeit zu verlegen.

Hinsichtlich der Sorge von Juden in Deutschland und Italien, Opfer einer antisemitischen Attacke zu werden (42/45 %), jüdische Orte und Veranstaltungen zu meiden (27/22 %), keine jüdischen Symbole zu zeigen (19/27 %) oder an Auswanderung zu denken (18/22 %) sind die Ergebnisse in etwa gleich und bewegen sich bei den Werten für Großbritannien, während sie für Frankreich und Belgien durchweg signifikant höher ausfallen, etwa mit 74/65 % in der Sorge, Opfer einer antisemitischen Attacke zu werden.26

Bemerkenswert ist auch hinsichtlich der weiteren Beurteilung der in Deutschland erhobenen Daten zur Entwicklung antisemitischer Straftaten der Befund, dass mehr als zwei Drittel „der schwerwiegendsten“ antisemitischen Vorfälle der vergangenen fünf Jahre von den Betroffenen nicht angezeigt wurden, bei tätlichen Angriffen sind es sogar drei Viertel.27 Dies trifft aber auch für andere Bereiche zu, bei denen ebenfalls von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Gerade hier wäre eine nach Ländern differenzierte Erhebung wünschenswert gewesen, zumal auch infolge der national unterschiedlichen Standards im Strafrecht jeder Ländervergleich gegenwärtig unscharf bleiben muss.28 Die jüngste Länderstudie des JPR zu Italien ergab, dass in 68 % der Fälle von Vandalismus, 53 % physische Gewalt und 80 % Beleidigungen („Harassment“) nicht angezeigt wurden.29 Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die für die Bundesrepublik verfügbaren Zahlen des Verfassungsschutzes und der Landeskriminalämter zu antisemitischen Straftaten mit Vorsicht zu bewerten; sie sind für die relative Entwicklung aufschlussreich, können aber nicht als absolute Zahlen gelesen werden. Dies gilt auch für die Anfang Mai [2015] vom Bundesinnenministerium vorgestellten Zahlen, die für 2014 einen Anstieg von 25,2 % meldeten.30 Allerdings bleibt eine jüngst für den European Jewish Congress erstellte Studie des Kantor Center for the Study of European Jewry der Tel Aviv University zu antisemitischen Straftaten weltweit sowohl hinsichtlich seiner Befunde für Deutschland wie auch auf grundsätzlicher Ebene in Hinsicht der Differenziertheit der Analyse noch deutlich hinter den Angaben zurück, wie sie aus den Daten deutscher Behörden zu beziehen sind.31  Weiterführende Ansätze für eine verbesserte Praxis in Deutschland sind dagegen aus der Vorgehensweise des britischen Community Security Trust zu beziehen, dessen Befunde und Analysen auf der Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden und NGOs beruhen.32

Zusammenfassung und Ausblick

Seit der Vorlage des Antisemitismus-Berichts der Expertenkommission des Bundestages 2011 sind die seinerzeit konstatierten Probleme noch vorhanden. Die Aufmerksamkeit hat sich, auch bedingt durch die Begleiterscheinungen des Gaza-Kriegs im Sommer 2014 und die Attentate in Brüssel im Mai 2014 sowie in Paris und Kopenhagen zu Jahresbeginn 2015, vor allem auf den von Muslimen ausgehenden Antisemitismus gerichtet. Dieses Bild ist mitnichten vollständig. Jüngere Befragungen, die für diesen Bericht ausgewertet wurden, gelangen zumindest in der Summe zu einem differenzierteren Bild, dass antisemitische Einstellungen vermutlich im gesamten gesellschaftlichen Spektrum zu finden sind. Es bestätigt im Wesentlichen die 2011 konstatierte Verbreitung antisemitischer Einstellungen und betont die nicht nur von den Extremen rechts und links ausgehenden Gefahren, sondern ebenso einen Nährboden aus antisemitischen Einstellungen in anderen Schichten.

Ebenso ist festzuhalten, dass die zuletzt unternommenen Untersuchungen nicht die Befürchtungen bestätigten, die nach den Ereignissen des Sommers 2014 gehegt wurden. Im Zehnjahresverlauf zeichnet sich in zwei wesentlichen Untersuchungen für Deutschland sogar eine relativ positive Entwicklung ab. Solange aber eine umfassende empirische Erfassung der Zustände, die nur mit hohem Einsatz an Mitteln in Zusammenarbeit verschiedener einschlägiger Institutionen in Deutschland geleistet werden kann, nicht verfügbar ist, wird eine weitere Expertenkommission zum Antisemitismus kaum neue und wirklich belastbare Ergebnisse bereitstellen können. Sie wird auf Untersuchungen einzelner Institutionen zurückgreifen müssen, die in der Reichweite ihrer Fragestellung und Analyse eingeschränkt bleiben.

Festhalten lässt sich für den Moment, dass das in jüngster Zeit medial vermittelte Bild, das einen weiter gewachsenen Antisemitismus erwarten lässt, mit den soweit empirisch gewonnenen Daten nur eingeschränkt übereinstimmt. Anlass zur Beruhigung gibt dieser Befund dennoch nicht. Gewiss – eine vorurteilsfreie Gesellschaft wird eine Utopie bleiben. Dennoch wäre es fahrlässig, einfach auf einen allmählichen weiteren Rückgang antisemitischer und anderer gruppenbezogener menschenfeindlicher Einstellungen durch gelebte gesellschaftliche Pluralität und die dazu nötigen kollektiven Lernprozesse zu vertrauen. Denn diese Pluralität selbst wird keineswegs überall als Zugewinn verstanden, ja ist selbst Anlass zu Gegenreaktionen in Form von Selbstabgrenzung und Ausgrenzung. Gerade die in ihren Profilen und Zielen überaus heterogenen sozialen Bewegungen der jüngsten Zeit – man denke für Deutschland nur an Stuttgart 21, Piratenpartei, AfD, Pegida und andere – legen nahe, dass vertraute Politikkonzepte nur noch bedingt greifen. Denn wenngleich es sich bei den genannten um Bewegungen von meist nur kurzer Bestandsdauer handelt, können wirtschaftliche Krisen und politische Herausforderungen, zumal wenn sie wie gegenwärtig in kaum überschaubarer Gleichzeitigkeit auftreten, immer neue Bewegungen in Gang setzen.

Dabei ersetzen, so wenig wie man die Prävention gegen Antisemitismus und andere gruppenbezogene menschenfeindliche Einstellungen allein in die europäische Zuständigkeit abgeben kann, die Untersuchungen auf europäischer Ebene durch die FRA und andere die Anstrengungen auf der nationalen Ebene nicht. Das nimmt Letzteren nichts von ihrem Wert, denn sie definieren Arbeitsfelder und werfen Fragen auf, die im nationalen Zusammenhang weiterzuverfolgen unbedingt ertragreich sein kann. So steht außer Frage, dass die Befassung mit Erfahrungen und Einstellungen jüdischer Bürger und Bürgerinnen, wie sie die FRA-Studie von 2014 in zumindest acht Mitgliedsländern der Europäischen Union unternommen hat, ganz zentrale komplementäre Momente zu den Befunden liefert, die in Deutschland und anderswo zu Einstellungen unter der Mehrheitsbevölkerung unternommen worden sind. Überfällig ist sowohl für Deutschland wie auch in anderen Mitgliedstaaten der EU wie auch auf europäischer Ebene eine fundierte empirische Erfassung zur Einstellung von Muslimen (auch) zu Juden und Judentum, die auch im Binnenbereich muslimischer Gemeinschaften differenzierend ansetzt und verbreiteten Vereinfachungen entgegenwirkt.

Gegenwirken soll auch das abschließende Stichwort für den Moment sein. Denn soweit fassbar, kann – ungeachtet der offensichtlichen Problemlage – der Befund zu antisemitischen Einstellungen in Deutschland und anderen europäischen Staaten wenigstens so gelesen werden: dass Ansatzmöglichkeiten und Erfolgsaussichten für das Wirken gegen eine Verfestigung judenfeindlicher Einstellungen und sonstiger Manifestationen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sehr wohl gegeben sind. Bildung und Aufklärung, aber auch das entschiedene Wort gegenüber antisemitischen Vorfällen aller Art bleiben das Gebot der Stunde. Deutschland mit der jahrzehntelangen Erfahrung in aktiver Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die ja immer auch Arbeit an der Zukunft ist, kann hier durchaus Vorbild sein.

Allerdings muss sich die Art des Gedenkens weiterentwickeln, damit auch die nachwachsenden Generationen, deren familiäre Wurzeln bisweilen außerhalb Deutschlands liegen, in diese künftige Kultur des Gedenkens so involviert werden, dass sie ihrerseits Verantwortung übernehmen können für Geschichte und Zukunft unseres Landes. Auch Europa als Erfahrungsgemeinschaft, die die Geschicke eines lange Zeit konfliktzerrissenen Kontinents in die Hände genommen hat, hat alle Aussicht, latenten und manifesten Formen der Judenfeindschaft den Kampf anzusagen.

Erhebungen und Analysen

Anti-Defamation League (2014): An Index of Anti-Semitism, New York, abrufbar via http://global100.adl.org/#country/germany, 24.03.2015 (zit. ADL 2014)

BT-Drs. 17/7700 (2011): Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze, Berlin, abrufbar via http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/077/1707700.pdf, 19.03.2015 (zit. BT-Drs. 17/7700 2011)

Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2014): Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014, Leipzig, abrufbar via http://d-nb.info/1051968550/34, 22.03.2015 (zit. Decker et al. 2014)

European Union Agency for Fundamental Rights (2013): Diskriminierung und Hasskriminalität gegenüber Juden in den EU-Mitgliedstaaten: Erfahrungen und Wahrnehmungen im Zusammenhang mit Antisemitismus, Wien, abrufbar via http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2013-discrimination-hate-crime- against-jews-eu-member-states_de.pdf, 24.03.2015 (zit. FRA 2014)

Hagemann, Steffen/Nathanson, Roby (2015): Deutschland und Israel heute. Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?, hg. von Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, abrufbar via http://de.scribd.com/doc/254765839/Studie- LW-Deutschland-Und-Israel-Heute-2015, 24.03.2015 (zit. BS 2015)

Institute for Jewish Policy Research (2015): From Old and New Directions. Perceptions and Experiences of Antisemitism Among Jews in Italy, London, abrufbar via http://de.scribd.com/doc/254660769/Perceptions-and-Experiences-of-Antisemitism-Among-Jews-in-Italy, 24.03.2015 (zit. JPR Italy 2015)

Klein, Anna/Zick, Andreas (2014): Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, hg. für Friedrich-Ebert-Stiftung von Melzer, Ralf, Berlin, abrufbar via http://www.fes-gegen-rechtsextremismus.de/pdf_14/FragileMitte-FeindseligeZustaende.pdf, 21.03.2015 (zit. FES 2014)

Mansel, Jürgen/Spaiser, Viktoria (2012): Antisemitische Einstellungen bei Jugendlichen aus muslimisch geprägten Sozialisationskontexten, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin, 220-239 (zit. Mansel/Spaiser 2012)

Pew Research Center (2008): Unfavorable Views of Jews and Muslims on the Increase in Europe, Washington, abrufbar via http://www.pewglobal.org/2008/09/17/unfavorable-views-of-jews-and-muslims-on-the-increase-in-europe, 24.03.2015 (zit. Pew 2008)

Pew Research Center (2015): The continuing decline of Europe’s Jewish population, Washington, abrufbar via http://www.pewresearch.org/fact-tank/2015/ 02/09/europes-jewish-population, 24.03.2015 (zit. Pew 2015)

Porat, Dina et al./Kantor Center for the Study of European Jewry (2015): Antisemitism Worldwide 2014. Moshe Kantor Database for the Study of Contemporary Antisemitism and Racism, Tel Aviv University (zit. Porat/Kantor Center 2015)

Schäuble, Barbara (2012): ,,Anders als wir”. Differenzkonstruktionen und Alltagsantisemitismus unter Jugendlichen, Berlin (zit. Schäuble 2012)

Anmerkungen

1  Der Text dieses Beitrags ist lizenziert unter den Bedingungen von „Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland“, CC BY-SA 3.0 DE (abrufbar unter: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de).

2   Vgl. JPR Italy 2015, 3a.

3   Anderweitig genannte höhere Zahlen erscheinen nicht begründet: 2010 mit 230 000 Juden in Deutschland, vgl. Pew 2015.

4   Vgl. BT-Drs. 17/7700, 2011, 173.

5  Vgl. FES 2014, 10.

6   FES 2014, 69.

7  Vgl. FES 2014, 66ff mit Graphiken 71ff.

8  FES 2014, 71.

9  Vgl. Decker et al. 2014, 59, 61.

10  Vgl. BS 2015, 39f.

11  BS 2015, 41. Ähnlich fällt auch der Befund für 2013/14 in der weltweiten Erhebung der Anti-Defamation-League aus (ADL 2014), wobei diese Werte ob ihrer wenig differenzierten Fragestellungen und Analysen hier nicht weiter berücksichtigt wurden.

12  Vgl. BS 2015, 39-41.

13  Vgl. FES 2014, 84.

14  Vgl. ebd.

15  Ich selbst habe das abgesehen von monatlich mehreren eingehenden einschlägigen Zuschriften per Post und per E-Mail kürzlich bei einer Fachtagung Ende 2014 in Österreich erfahren, als im Anschluss an meinen Vortrag über die Verhältnisse in den deutschen jüdischen Gemeinden und nochmals in der Schlussdiskussion der Tagung ein von einer norddeutschen Universität emeritierter Kollege energisch darauf bestehen wollte, von mir eine Stellungnahme zur israelischen Siedlungspolitik und „zu den Verbrechen Israels an den Palästinensern“ zu erhalten.

16  Vgl. FRA 2014, 20f, 25, 12, 59.

17  Vgl. Pew 2008.

18  Vgl. konzise Zusammenfassung: Mansel/Spaiser 2012; ferner Schäuble 2012. Die ohnehin wenig differenzierte Studie wurde am 15. Januar 2015, also eine Woche nach den Anschlägen von Paris, veröffentlicht und bildet die Einstellungen des Jahres 2014 ab.

19  Vgl. auch Botsch et al. 2012.

20  Vgl. FRA 2014, 82.

21  Vgl. FRA 2014, 11.

22  Vgl. FRA 2014, 14f.

23  Vgl. FRA 2014, 14.

24  Vgl. FRA 2014, 17.

25  Vgl. FRA 2014, 24-26.

26  Vgl. JPR Italy 2015, 44.

27  Vgl. FRA 2014, 14.

28  Vgl. dazu auch JPR Italy 2015, 3b. Dieses Defizit wird auch durch die jüngste Erhebung des Kantor-Centers der Universität Tel Aviv, die ohne Differenzierung Befunde als „violent incidents“, „violent acts“, „violent activities“, „violent cases“ auflistet und auch den historisch kaum abzusichernden Vergleich der heutigen Situation mit den 1930er Jahren zulässt, nicht behoben, vgl. Porat/Kantor Center, 5f, passim.

29  Vgl. JPR Italy 2015, 34f.

30  http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Nachrichten/Pressemitteilungen/2015/05/pmk-2014.pdf?__blob=publicationFile (11.05.2015).

31  Porat/Kantor Center, zu Deutschland 50-54.

32  https://cst.org.uk/antisemitism/report-antisemitism (09.05.2014).