Rüdiger Braun

Antisemitismus unter Muslimen: Ein muslimischer Debattenbeitrag

Wenn in der gesellschaftlichen Debatte um die vielfältigen in Deutschland verbreiteten Erscheinungsformen von Antisemitismus zuweilen auch von einem muslimischen, islamischen oder islamisierten Antisemitismus die Rede ist, ist es zur Präzisierung und Einordnung der verwendeten Begriffe sinnvoll, dass sich auch verstärkt Muslime selbst daran beteiligen. Das vom progressiv-muslimischen Verein Alhambra e. V. etablierte Forum MuslimDebate. Forum für eine neue muslimische Debattenkultur setzt dazu einen mutigen Anfang. Es referiert im überschaubaren Format einer Handreichung zum „Antisemitismus unter Muslim:innen“1 grundlegende Einsichten in die bisherige auf Deutschland bezogene Debatte zu der Frage, in welchem Maße sich von einem kulturell bedingt muslimischen oder gar religiös begründeten islamischen Antisemitismus sprechen lässt.

Nach einer Einführung in antisemitische Narrative unter Muslimen (A) stellt sie Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit diesen vor (B) und differenziert dabei zwischen zwei Schritten: Neben dem Erkennen und Hinterfragen von Verdrängungs- und Entlastungsstrategien unter Muslimen geht es darum, die unter diesen verbreitete religiös aufgeladene Vorstellung von Gegnern und Feinden in der deutschen Lebenswirklichkeit langfristig zu überwinden. Beiträge einer von MuslimDebate ausgerichteten Tagung mit Akteuren aus Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaft geben dazu notwendige Denkanstöße.

Die auch der Handreichung zugrunde gelegte Antisemitismusforschung unterscheidet allgemein zwischen

  • (a) dem klassischen Antisemitismus, der Juden bestimmte biologische, „rassische“ oder kulturelle Eigenschaften zuschreibt und Verschwörungstheorien befördernde Stereotypen beinhaltet,
  • (b) dem mit der deutschen Erinnerungskultur verbundenen sekundären Antisemitismus und
  • (c) einem israelbezogenen Antizionismus, der sich als ausdrücklich antisemitisch erst dann bezeichnen lässt, wenn die Politik Israels mit dem Nationalsozialismus verglichen oder mit anderen Standards als andere Demokratien beurteilt wird.

Spielt der sekundäre Antisemitismus unter Muslimen nachvollziehbarerweise keine Rolle, weisen Muslime der Forschungslage zufolge hinsichtlich des klassischen und des israelbezogenen Antisemitismus signifikant höhere Zustimmungswerte auf als Nicht-Muslime bzw. Menschen ohne Migrationshintergrund.2 Erklären lassen sich diese zum Teil mit dem weit verbreiteten, gelegentlich auch zur staatlichen Propaganda gehörenden Antisemitismus muslimischer Herkunftsstaaten. Yasemin El Menouar spricht in der Handreichung von einer „Erregungsbereitschaft unter Muslimen im Kontext Israel“, wobei die Rückbindung an die Ursprungsgesellschaft und die Identifikation mit den dortigen Konflikten durch Diskriminierungserfahrungen nochmals befördert wird: Die Herkunftsländer werden zur idealisierten Heimat, „mit der man eine größere Verbundenheit spürt, weil man sich hier nicht anerkannt fühlt“ (15). Erfahrungen von Diskriminierung bedingen somit ein erhöhtes Bedürfnis nach Identifikation mit einer – religiösen, nationalen, ethnischen – „Eigengruppe“. Doch sind die höheren Zustimmungswerte zu antisemitischen Einstellungen unter Muslimen nicht allein durch die Herkunft aus der islamischen Welt und eine geringere Internalisierung der gesellschaftlichen Tabuisierung von Antisemitismus bedingt. Von noch größerer Relevanz als Diskriminierungserfahrungen oder die weltanschauliche Orientierung selbst erweist sich die jeweilige Auslegung einer Weltanschauung oder Religion: Es sind insbesondere fundamentalistische und traditionell-konservative religiöse Einstellungen, die eine Feindschaft gegenüber Juden begünstigen.

Innerhalb der Formen von Antisemitismus im muslimischen Kontext nimmt die zeitgenössische Forschung eine weitere Differenzierung vor: Beschreibt der islamische Antisemitismus (a) judenfeindliche Einstellungen unter Muslimen, die sich positiv auf Passagen im Koran oder in der islamischen Tradition beziehen, bildet die Judenfeindschaft im islamistischen Antisemitismus (b) einen unabdingbaren Bestandteil des radikalislamistischen Weltbildes. Der arabische Antisemitismus (c) wiederum hat seinen ideologischen Bezugspunkt nicht in der Religion, sondern im (regional unterschiedlich ausgeprägten) arabischen Nationalismus, der Muslime und Angehörige anderer Weltanschauungen gleichermaßen verbindet. Als islamisiert (d) schließlich wird jener Antisemitismus unter Muslimen bezeichnet, der sich als ideologischer Import des christlichen Antijudaismus und/oder des europäischen Antisemitismus in die islamische Welt verstehen lässt. Diese Formen des historischen Antisemitismus nahmen über die Kolonialgeschichte Nordafrikas und des Nahen Ostens großen Einfluss auf Entstehung und Verbreitung antisemitischer Narrative unter maghrebinischen und arabischen Muslimen.

Die heuristisch durchaus wertvolle Klassifikation sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass die genannten Formen des Antisemitismus in der Realität nie trennscharf nebeneinander, sondern in unterschiedlichen Mischformen auftreten. Antisemitische Narrative werden, wie die Handreichung zu Recht betont, aus ihrem kulturellen und religiösen Kontext gelöst und „in einer dekulturierten und dekontextualisierten Form zur Feindbildkonstruktion genutzt“ (5). Ein von (insbesondere jungen) Muslimen reproduzierter Antisemitismus muss somit noch nicht zwingend ein religiös motivierter, speziell „islamischer“ Antisemitismus sein. Es legt sich daher nahe, sprachlich zwischen einem religiös begründeten islamischen bzw. – als Extremform – islamistischen und einem eher kulturell geprägten muslimischen Antisemitismus, das heißt, einem „Antisemitismus unter Muslimen“ zu unterscheiden.

Die Handreichung richtet sich entschieden gegen eine aus Rücksichtnahme auf die Muslime vorgenommene Tabuisierung des unter Muslimen verbreiteten Antisemitismus. Sie nimmt aber zugleich eine Einordnung des Antisemitismus als eine Form der in der pluralen Moderne verstärkt auftretenden gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit vor, die dessen Überwindung wenig dienlich ist: „Seine Zielsetzung ist die Abwertung von Gruppen und ihrer Mitglieder einzig aufgrund der zugewiesenen Gruppenzugehörigkeit“ (5). Richtig ist, dass sich die unterschiedlichen Formen und Dynamiken des Antisemitismus (links, rechts, religiös, muslimisch, israelbezogen, völkisch u. a.) in einem streng dualistischen Welt- und Geschichtsbild verbinden, das in der Identifizierung des Juden als des Anderen (sog. Othering) nicht ohne Stereotypen auskommt.

Doch ist Antisemitismus ein Phänomen sui generis, das weit in die Geschichte zurückreicht (vgl. das Buch Ester und das Purim-Fest) und, mit gleichordnenden Formeln wie „Rassismus, Islamfeindschaft und Antisemitismus“ nicht wirklich erfasst ist. Mag auch der unter Muslimen existierende Antisemitismus sehr viel stärker politisch als religiös motiviert und der christlich verbreitete Vorwurf des Gottesmordes dem Islam grundlegend fremd sein: Auch der Islam kennt die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung, die insbesondere nach der Gründung des Staates Israel verstärkt hoffähig und durch das zaristische (wohlgemerkt gefälschte und von einem maronitischen Christen ins Arabische übersetzte) Pamphlet der „Protokolle der Weisen vom Zion“ nochmals befördert wurde.

Zudem kann die fehlende Anerkennung von Zuwanderern aus muslimischen Ländern unter Muslimen zu einer „fast trotzigen Aufwertung der Religiosität“3 und zu eher abgrenzend-fundamentalistischen Formen derselben führen. In von klaren Regeln, Zugehörigkeit und starker Identität gekennzeichneten muslimischen Milieus vermögen dann stereotype Zuschreibungen an Juden zu gedeihen, die „eine Gemeinschaft zum eigenen Nutzen und zum fremden Schaden bilden und mit ihren Netzwerken gesellschaftliche Einflusskanäle, wie Politik, Wirtschaft und Medien kontrollieren“ (11). Aufbrechen lassen sich diese Zuschreibungen der Handreichung zufolge nur, wenn Räume und Gelegenheiten zu einer authentischen Begegnung zwischen Muslimen und Juden geschaffen werden: „Je stärker im Rahmen einer solchen Annäherung jüdische Individualität und Alltagspraxis in den Vordergrund treten, umso mehr kann es gelingen, kollektivistische Vorstellungen von ‚Juden‘ und ihren vermeintlichen Eigenarten und Wesenseigenschaften aufzubrechen“ (11).

Murat Kayman (Alhambra e. V.) zufolge hat Antisemitismus in Deutschland gesellschaftlich eine so große Stigmatisierungswirkung, dass Muslime die Auseinandersetzung mit dem Thema eher meiden. Im Rahmen des Zusammenlebens in Deutschland eröffne sich jedoch für Muslime und Juden gleichermaßen „die Gelegenheit der Komplizenschaft für eigene, gemeinsame Interessen“, sind sie doch in ähnlicher Weise davon betroffen, „dass Menschen in unserer Gesellschaft auch heute noch allein aufgrund ihres muslimischen oder jüdischen Glaubens als Fremde wahrgenommen und ausgegrenzt werden“ (19). So verständlich dieser auf die gemeinsame Diskriminierungserfahrung abhebende Schulterschluss mit den Juden auch sein mag: Eine selbstkritische muslimische Aufarbeitung des unter Muslimen existierenden Antisemitismus wird darüber hinausgehen müssen.

Rüdiger Braun, 02.07.2023
 

Anmerkungen

  1. Vgl. https://alhambra-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2021/10/MuslimDebate-Antisemitismus-unter-Muslimen.pdf (Abruf: 3.6.2023).
  2. Vgl. Mediendienst Integration: Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen, Berlin 2023, 4.
  3. So Veronika Hofinger/Thomas Schmidinger: Endbericht. Wege in die Radikalisierung, Wien 2017, 38.