Apokalypse kurzfristig verschoben
Die Welt geht bekanntlich nach neuesten Erkenntnissen der Apokalyptiker im Jahre 2012 unter, oder doch bereits 2011? Im Mai dieses Jahres war in vielen amerikanischen Städten eine Kampagne präsent, die vor einem bevorstehenden Ende der Welt am 21. Mai bzw. am 21. Oktober 2011 warnte. Die Plakate mit der Aufschrift „Judgment Day May 21, 2011“ und der Aufforderung „cry mightily unto God“ wurden großflächig angebracht, und in den Wochen vor dem angegebenen Datum verbreiteten zahlreiche Gruppen von Überzeugten die Botschaft an zentralen Plätzen amerikanischer Großstädte.Den Hintergrund bilden die Berechnungen des autodidaktischen Bibelforschers Harold Camping (geb. 1921), der seit Jahrzehnten seine Botschaften über „Family Radio“ übermittelt. Der gelernte Ingenieur fand in den 1950er Jahren zum – in seinen Augen – rechten Glauben und gründete eine unabhängige, d. h. nicht kirchlich affiliierte christliche („non-denominational“) Radiostation. Den Medienangaben ist zu entnehmen, dass große Summen in die Kampagne investiert wurden: Eine Finanzaufstellung zur Organisation aus dem Jahr 2009 verzeichnet 18,3 Millionen Dollar an Spenden und eine Rücklage von mehr als 104 Millionen Dollar, die offensichtlich dieser Aktion zugutekommen konnten. Die Internetseite von „Family Radio“, die übrigens auch eine deutsche Version bereithält (http://worldwide.familyradio.org/de), informiert über die komplexen Zahlenspiele und Behauptungen Campings. Zwar hat sein vormaliger Termin, den er in einem Buch mit dem Titel „1994?“ bereits Anfang der 1990er Jahr propagierte, nicht gehalten (ebenso wie das davor schon angegebene Datum 1988), doch werden Fragen danach von seinen Anhängern mit dem Hinweis beantwortet, dass das damalige Datum noch mit Fragezeichen versehen gewesen sei und Camping im Buch selbst vermerkt habe, dass er möglicherweise falsch liegen könnte. Jetzt sei es aber sicher soweit.Konkret kündigte Camping an, dass es am 21. Mai 2011 zur sogenannten „rapture“ kommen werde, zur „Entrückung“ der Gerechten, die vor der Unbill der unmittelbaren Apokalypse bewahrt bleiben. Das endgültige Ende der Welt ist dann am 21. Oktober 2011 zu erwarten. Die Idee einer vorapokalyptischen Entrückung einer ausgesuchten Gruppe ist eine in den USA sehr präsente Vorstellung, deren Ausgangspunkt eine spezifische Interpretation einer Passage aus dem 1. Thessalonicherbrief (4,15-17) ist und die außerdem Bezüge aus alttestamentlichen Prophetentexten heranzieht. Die Interpretation geht auf John Nelson Darby (1800-1882), ein einflussreiches Mitglied der Brüderbewegung (Plymouth Brethren), zurück und wurde in die Bibelausgabe von Cyrus Scofield (1843-1921), die sogenannte „Scofield Reference Bible“ (ab 1909), übernommen. Diese hat in evangelikalen Kreisen bis heute höchstes Ansehen und verbreitet die Ideen von Darbys dispensationalistischer Geschichtslehre weiter.Die „Entrückung“ wurde zum Signal für den Beginn der eigentlichen Apokalypse, sie wirkt wie ein retardierendes Moment, das dem Geschehen zusätzlich Dramatik verleiht. Die Vorstellung wurde in den letzten Jahren vor allem auch durch die Buchreihe „Left Behind“ des evangelikalen Pastors Tim LaHaye und des Autors Jerry B. Jenkins bekannt. In dieser 16-bändigen Serie, deren Einzelbände allesamt die vordersten Ränge der „New York Times“-Bestsellerliste belegten, wird das Schicksal einer kleinen Gruppe von Menschen geschildert, die zu den nach der Entrückung Zurückgebliebenen gehören und nun auf der Seite der Gerechtigkeit gegen die Mächte des Antichristen kämpfen. Diese sogenannte „Tribulation Force“ besteht mehrheitlich aus Personen, die in vielfältiger Weise mit den bedeutenden Akteuren der Apokalypse verbunden sind, beispielsweise mit dem aus Rumänien(!) stammenden Weltpotentaten Nicolai Carpathia, dem Antichristen, der eine Einheits-Weltregierung (samt Einheits-Weltreligion) erschafft (vgl. zu „Left Behind“: Christoph Raedel, Faszination des Endes, EZW-Texte 212, Berlin 2010).Der große Erfolg der Serie ist ein untrügliches Zeichen für die Präsenz der Thematik in einem spezifischen Segment der amerikanischen evangelikalen Tradition, wobei aber immer davon auszugehen ist, dass nicht jeder, der die Bücher liest, von deren Thesen überzeugt ist. Doch geht es um die Thematisierung der Apokalypse und die Umsetzung ihres Ablaufs in die Moderne, die wohl die große Faszination der Romanserie ausmachen. Und hier ist auf eine schon lange Tradition hinzuweisen, in der in der unmittelbaren politischen Geschichte Anhaltspunkte für den Anbruch des Weltuntergangs gesucht werden. Einer der wichtigsten Texte in diesem Zusammenhang ist das Buch „The Late, Great Planet Earth“ des christlichen Autors Harold Lee „Hal“ Lindsey (geb. 1929), der bedeutenden Einfluss auf das Weltbild und die Terminologie amerikanischer Präsidenten, beispielsweise eines Ronald Reagan, hatte.Der 89-jährige Camping reiht sich somit in eine ganze Reihe von vergleichbaren Autoren ein, bietet aber auch spezifische Sonderlehren. Zum einen gibt er ein fixes Datum an, was von den meisten Prämillenaristen nicht getan wird, wenn sie auch von der unmittelbaren Imminenz des Weltuntergangs überzeugt sind. Vergleichbare sogenannte „date setter“ für den exakten Zeitpunkt der Apokalypse gab es in der Geschichte des amerikanischen Christentums jedoch immer schon. Die Vorhersagen des Baptistenpredigers William Miller für das Jahr 1844 oder die mehrmalig korrigierten Datierungen der Zeugen Jehovas in ihrer Frühzeit sind die bekanntesten Beispiele. Zuletzt kam es gerade für die 1980er und 1990er Jahre zu einer neuen Welle an Weltuntergangsprophezeiungen.Doch nicht nur das konkrete Datum, auch die Angaben zum Ablauf unterscheiden sich bei Camping vom Mainstream der Prämillenaristen. So geht er davon aus, dass es eigentlich nur die Gerechten, die während der Entrückung in den Himmel geführt werden, auch definitiv dorthin schaffen. Die Zurückgebliebenen sind de facto schon in der Hölle; eine Entscheidung für das rechte Christentum während der Apokalypse (in der Zeit der „Bedrängnis“) ist somit nicht möglich. Dazu ist der Abstand zwischen Entrückung und Weltuntergang bemerkenswert kurz und entspricht nicht den ansonsten üblichen sieben Jahren.Sehr auffällig ist bei Camping die Thematisierung von Homosexualität als untrüglichem Vorzeichen für den Untergang. Die in seinen Augen schon derzeit übermäßige Präsenz gleichgeschlechtlicher Propaganda in der Gesellschaft werde in den kommenden Monaten noch mehr zunehmen („Sodom und Gomorra“-Aspekt der Apokalypse). Ein einschlägiger Text auf der Internetseite von „Family Radio“ mit dem Titel „Gay Pride: Sign of the End“ musste im Vorfeld aufgrund verhetzender Sprache wieder entfernt werden.Das offenkundige Nichteintreten der Entrückung am 21. Mai 2011 ließ Camping ratlos erscheinen. Nach mehrtägigem Schweigen trat er vor die Kamera und meinte, dass er selbst vom Lauf der Dinge überrascht sei. Er fand jedoch eine neue Interpretation: Am 21. Mai hätte nun (nur) ein „geistliches“ Gericht („spiritual judgment“) stattgefunden, das Weltende am 21. Oktober sei weiterhin imminent. Man wird sehen.
Franz Winter, Boston/Wien