Dirk Evers

Apologetische Theologie im „Weltanschauungskampf“

Der Streit um Theologie und Naturwissenschaften vor und nach 1900

Apologetik als theologische Disziplin in der Neuzeit

Dass zwischen Grundüberzeugungen des christlichen Glaubens und dem Zeitgeist eine tiefgreifende Spannung empfunden wird, ist eine Erscheinung der Neuzeit und seit der Aufklärung ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Die aufklärerische Vernunftkritik an Religion und Christentum brachte eine Fülle an Literatur zur Verteidigung eines der Vernunft entsprechenden Christentums hervor. Das geschah zunächst dadurch, dass die Kongruenz zwischen Offenbarung und Vernunft, zwischen Christentum und Naturerkenntnis erwiesen werden sollte. Besonders in Schottland und England führte dies alsbald zu Veröffentlichungen mit Titeln wie „Christianity not mysterious“, „Christianity as old as creation“, „The excellency of theology, compared with natural philosophy“. Vor allem hier wurde eine „Apologetik Massenware“1, die die Wahrheit, Natürlichkeit und Vernünftigkeit des Christentums zu verteidigen suchte. Doch auch Teile der deutschen Aufklärung schickten sich an, ein Bündnis zwischen Christentum und Vernunft zu schmieden. Unter Aufnahme naturkundlicher Erkenntnisse entstand im 17. und 18. Jahrhundert z. B. die so genannte Physikotheologie, die aus den Werken der Natur auf den Schöpfer schließen wollte, wie überhaupt eine Verbindung von naturwissenschaftlichem Denken und religiös gefärbtem Weltbild für fast alle Naturwissenschaftler dieser Zeit kennzeichnend ist. Gott als der große Werkmeister schien sich aus der Zweckmäßigkeit und Vollkommenheit der Natur erweisen zu lassen, wie zugleich im Mittelpunkt der aufgeklärten christlichen Religion der Neuzeit das natürliche und vernünftige Sittengesetz stand, dessen Geltung sich in der teleologisch interpretierten Weltsicht der Naturwissenschaften zu erweisen schien.

Entscheidend aber war, dass nun unter der Voraussetzung und gegenüber dem Anspruch einer universalen Vernunft argumentiert wurde, die nicht mehr von vornherein auf Offenbarung bezogen war, sondern als das einer religiösen Begründung nicht bedürftige Allgemeine das Forum darstellte, vor dem sich zu rechtfertigen hatte, was überhaupt Wahrheit für sich in Anspruch nehmen wollte. Die Theologie sah sich in der Philosophie der Aufklärung einer ihr äußeren, unabhängige Autorität beanspruchenden Instanz von Rationalität gegenüber. In dieser Situation wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Apologetik als eigene theologische Disziplin eingeführt. Als erster hat wohl Gottlieb Jakob Planck 1794 versucht, die Apologetik in die Enzyklopädie der theologischen Wissenschaften einzugliedern.2 Bei ihm ist sie Teil der Exegese und soll vor allem mit den Mitteln der Historie den Nachweis der göttlichen Autorität der biblischen Bücher führen, auch wenn ein strenger Beweis dabei nicht möglich ist.

Der enzyklopädische Ort der Apologetik blieb allerdings unklar. In Schleiermachers „Kurzer Darstellung des theologischen Studiums“3 bildeten Polemik und Apologetik die beiden Teile der philosophischen Theologie, wobei die Apologetik jedoch im Unterschied zu Planck nicht die Wahrheitsfrage stellt, sondern das eigentümliche Wesen des christlichen Glaubens nach außen zur Darstellung bringen soll: Es soll „für das eigentümliche Wesen des Christentums eine Formel aufgestellt und mit Beziehung auf das Eigentümliche anderer frommen Gemeinschaften unter jenen Begriff subsumiert werden“4. Die Wahrheitsfrage wird ganz bewusst nicht gestellt, weil sich die Wahrheit und Notwendigkeit des christlichen Glaubens den Glaubenden allein von innen her erschließt. In der Glaubenslehre Schleiermachers heißt es deshalb: „Auf jeden Beweis für die Wahrheit oder Notwendigkeit des Christentums verzichten wir vielmehr gänzlich, und setzen dagegen voraus, daß jeder Christ, ehe er sich irgend mit Untersuchungen dieser Art einläßt, schon die Gewißheit in sich selbst habe, daß seine Frömmigkeit keine andere Gestalt annehmen könne als diese.“5 Es kann der Theologie einzig darum gehen, das eigentümliche Wesen des Christentums authentisch zur Darstellung zu bringen, dabei dann aber alles Widervernünftige „durch die Vernunftmäßigkeit der Darstellung“6 auszuscheiden.

Diese als Befreiung verstandene Selbstbegründung der Theologie mit einer Beschränkung der Apologetik auf die nach außen kommunizierbare Darstellung des Wesens des Christentums unter Sistierung der Wahrheitsfrage zeigte sich aber als unzureichend angesichts der bevorstehenden und von Schleiermacher selbst in seinen Sendschreiben an Friedrich Lücke hellsichtig geahnten Auseinandersetzungen zwischen Theologie und den modernen Naturwissenschaften. Zwar war Schleiermacher selbst noch zuversichtlich, „daß jedes Dogma, welches wirklich ein Element unseres christlichen Bewußtseyns repräsentirt, auch so gefaßt werden kann, daß es uns unverwickelt läßt mit der Wissenschaft“7. Doch sollte sich bald zeigen, dass die Trennung von frommem Selbstbewusstsein und wissenschaftlicher Erkenntnis nicht durchzuhalten war. Diese Entwicklung lässt sich an einem Begriff aufzeigen, den ebenfalls Schleiermacher in prägnanter Form in die theologische Debatte eingebracht hat, dem der Weltanschauung.

Von der Apologetik zum Weltanschauungskampf

Ursprünglich war der Begriff „Weltanschauung“ von Kant in einer Seitenbemerkung der „Kritik der Urteilskraft“8 geprägt worden, um dann, wie Hans Blumenberg treffend feststellte, „eine durch Vieldeutigkeit begünstigte fatale Karriere [zu] machen“9. Schon im Rahmen der Kant’schen Philosophie steht der Begriff der Weltanschauung unter einer eigentümlichen Spannung. Die Verbindung zwischen dem Begriff der „Welt“ als der Totalität der Erscheinungen und dem der „Anschauung“, der auf die Totalität Welt eigentlich gar nicht in Anwendung kommen kann, erscheint im Zusammenhang der Kant’schen Philosophie geradezu paradox. Kant hat ihn denn auch außer an dieser einen Stelle nicht weiter verwendet. Schleiermacher hingegen gebraucht ihn „in allen Perioden seines Schaffens“10, vor allem aber in der Pädagogik. Für ihn ist Weltanschauung wesentlich Ergebnis eines Bildungsprozesses, in dem der Mensch die Welt in sich aufnimmt und zugleich beginnt, sich in der Welt darzustellen, so dass das „rezeptive Chaos des Neugeborenen“ sich in Richtung auf eine „Totalität aller Eindrücke“ wandelt.11

Doch seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts und mit der Ablösung der idealistischen Systeme entwickelt sich die Bedeutung von Weltanschauung immer mehr in Richtung von Gesinnung. Unter dem Eindruck der empirischen Wissenschaften, der materialistischen Kritik am idealistischen Subjektivismus, der 48er-Revolution, aber auch durch die technischen, ökonomischen und sozialen Umwälzungen der Industrialisierung entsteht die Idee einer modernen Weltanschauung auf wissenschaftlicher Grundlage, die zunehmend in Konkurrenz zur christlichen Religion und Weltanschauung gerät. Dies nimmt nun auch die breitere Öffentlichkeit wahr, wie etwa die publizistische Aufregung um den so genannten Materialismusstreit 1854/55 zeigt.

Der konservative Physiologe Rudolf Wagner hatte auf der 31. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte12 in Göttingen einen Vortrag zum Thema „Menschenschöpfung und Seelensubstanz“ gehalten, in dem er nicht nur die Annahme einer besonderen unwägbaren und unsichtbaren Seelensubstanz und damit die Unsterblichkeit der Seele zu verteidigen suchte, sondern sich auch bemühte, die Abstammung des Menschengeschlechts aus einem anfänglichen Menschenpaar nachzuweisen.13 Sein alter Gegner, der Zoologe und Demokrat Carl Vogt, setzte sich mit diesen Behauptungen vom Standpunkt eines materialistisch gesinnten Naturwissenschaftlers auseinander und errang einen allgemein anerkannten publizistischen Sieg.14 In den darauffolgenden Jahren verbreiteten sich kämpferisch-materialistische Schriften in den Kreisen des gebildeten Bürgertums, wie z. B. Ludwig Büchners „Kraft und Stoff“ von 1855, das bis 1904 21 Auflagen erlebte und in alle Weltsprachen übersetzt wurde.

Auf den Materialismusstreit der 1850er Jahre folgte in den 1860er Jahren ein Streit um den Darwinismus, der nach Meinung mancher Wissenschaftshistoriker in keinem anderen europäischen Land auf so breiter Basis und mit derselben Heftigkeit ausgetragen wurde wie in Deutschland.15 Als Vorkämpfer und Ideologe des Darwinismus in Deutschland machte sich Ernst Haeckel einen Namen, der 1868 mit einer populärwissenschaftlichen Darstellung unter dem programmatischen Titel „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ Darwins Evolutionstheorie einer breiten gebildeten Öffentlichkeit zugänglich machte. Haeckel verstand sein Eintreten für den Darwinismus von Anfang an auch als Kampf gegen den überkommenen Gottes- und Unsterblichkeitsglauben. „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ – in diesem Titel schon zeigte sich der Anspruch, durch das wissenschaftliche Weltbild das überlieferte religiös fundierte Weltbild kulturell äquivalent abzulösen. 1872 fasste der aus Zürich von empörten Bürgern vertriebene ehemalige Theologe und Tübinger Stiftler David Friedrich Strauß genau dieses Programm zu einem Glaubensbekenntnis auf materialistisch-darwinistischer Grundlage unter dem Titel „Der alte und der neue Glaube“16 zusammen und machte auf diese Weise eine Art wissenschaftlicher Ersatzreligion in liberalen Kreisen bestsellerfähig (von Nietzsche als pathetisches Philistertum verspottet17). Naturwissenschaftliche Weltanschauung, Materialismus und Atheismus schienen für die gebildete Öffentlichkeit eine Art natürliche Koalition einzugehen und eine moderne Weltanschauung auf „wissenschaftlicher Grundlage“ zu ermöglichen.

Bemerkenswert ist, dass auf diese Entwicklungen weniger die theologische Wissenschaft als vielmehr eine protestantisch-bürgerliche Publizistik reagierte, die das – gemessen an den Auflagezahlen – zumindest zunächst auch recht erfolgreich tat.18 Doch erreichte diese Literatur im Grunde nur die noch relativ kirchennahen konservativen Kreise. Während die intellektuelle liberal-protestantische Elite über solche Auseinandersetzungen die Nase rümpfte, wurde für die der Kirche entfremdeten Bevölkerungsgruppen der Eindruck verstärkt, dass das Christentum eine interessengeleitete, reaktionäre und auf Besitzstandswahrung bedachte, aber durch die Wissenschaft im Kern erschütterte und womöglich obsolet gewordene Weltsicht darstellte. Im Bewusstsein weiter Kreise der gebildeten Öffentlichkeit, aber auch der durch Volksvorträge und Publikationen aufgeklärten Arbeiterschaft erschien die oft dilettantisch vorgetragene kirchlich-theologische Apologetik in ständige Rückzugsgefechte mit vielen Niederlagen verstrickt.

Weil diese Debatten zwar durchaus öffentliche Aufmerksamkeit fanden, jedoch abgekoppelt von tiefer gehenden wissenschaftstheoretischen und theologischen Überlegungen stattfanden, waren sie auch stark der Dynamik populärwissenschaftlicher Medialität ausgesetzt und tendierten dazu, die unterschiedlichen Positionen recht schematisch darzustellen. Da wird das Christentum auf eine theistische Weltanschauung zurechtgestutzt und zur rein materialistischen oder mechanistischen Weltanschauung in Opposition gesetzt. Und die entsprechende apologetische Publizistik schwankt hin und her zwischen halbherzigen und von vornherein wenig aussichtsreichen Harmonisierungsversuchen und entschiedener Frontstellung gegen wahre und imaginierte Gegner.

Die wissenschaftliche Theologie verhielt sich angesichts des Substanzverlusts, den die Verbindung von Vernunft und Religion im Sinne der Aufklärung gebracht hatte, gegenüber apologetischen Versuchen jeder Art skeptisch. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschende, von Albrecht Ritschl begründete theologische Schule versuchte vielmehr, die Eigenart der Religion von einer empirischen Weltsicht kategorial abzusetzen. Ritschl unterschied zwischen der naturwissenschaftlichen Tatsachenerkenntnis der Naturwissenschaften und den „selbständigen Werthurteilen“19 der Religion. Während das Erkenntnisinteresse der Wissenschaften allein auf die Erfassung der gesetzmäßigen Kausalzusammenhänge der Natur gerichtet und damit auf die „sinnenfälligen Dinge“ begrenzt sein sollte, galt für die Erklärung organisierter und zielbestimmt handelnder Wesen, dass wir hierfür „auf die Anwendung des Zweckbegriffs angewiesen“ sind. Naturwissenschaftliches Denken erkennt so immer nur Teilzusammenhänge und kann deshalb nie „bis zu dem obersten Gesetze der Dinge“ vordringen.20 Dagegen ist die Religion Weltanschauung in dem Sinne, dass sie die Frage des Menschen nach dem Wozu seiner Existenz beantwortet und ihn dadurch zum sinnvollen praktischen Handeln und Umgang mit sich selbst anleitet. Faktisch zeigt sich dabei, dass „die christliche Weltanschauung durch die Enthüllung des geistigen und sittlichen Gesammtzweckes der Welt, welche der eigentliche Zweck Gottes selbst ist, sich als die vollkommene Religion bewährt“21.

Die christliche Religion erweist ihre Wahrheit darin, dass sie zur effektiven Sinnstiftung in einer aus der Perspektive der empirischen Wissenschaften sinnlosen Welt in der Lage ist. Zwar kann es „weder einen directen noch einen indirecten Beweis der Wahrheit der christlichen Offenbarung“22 geben, doch zugleich erweist sich der christliche Glaube als aus sich selbst heraus bestätigte religiöse Erkenntnis, die die „von Gott verbürgte ... und von dem Menschen erstrebte ... Seligkeit zu dem Ganzen der durch Gott geschaffenen und nach seinem Endzweck geleiteten Welt“23 in die rechte Beziehung setzt. Auch wenn Ritschl selbst (in einem Brief vom 18.6.1875) schreibt, in ihm stecke keine Faser Apologetik24, hat ihn Werner Elert doch mit Recht zu den Vertretern einer Apologetik durch „theologische Verselbständigung des Christentums“25 gezählt, und als solcher hat er durchaus weiter gewirkt, wie etwa die Beispiele von Julius Kaftan und Otto Ritschl bis hin zu Wilhelm Herrmann26 zeigen.

Doch – von Ritschl unbeabsichtigt – nimmt mit der Reduzierung der Religion auf ihre Funktion als wertorientierte Lebenshaltung die Auseinandersetzung zwischen den Weltanschauungen erst recht die Form eines Kampfes an, denn auf der Ebene der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und rationalen Argumentation kann zwischen den konkurrierenden Weltanschauungssystemen, die als funktional gleichwertig erscheinen, offensichtlich nicht entschieden werden. Und in der Tat wird seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit des Nationalsozialismus die Auseinandersetzung zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlicher Weltsicht mit all ihren politischen und sozialen Konnotationen zum „Weltanschauungskampf“ stilisiert.

Die „neueste Apologetik“ und der Weltanschauungskampf

Um die Jahrhundertwende war deutlich geworden, dass weder eine direkte Apologetik in Form der „alten“ Beweisapologetik noch eine von aller direkten Apologetik absehende Selbstbegründung des Christentums durch eine Fundamentalunterscheidung zwischen Religion und Wissenschaft den Herausforderungen gerecht wurde, die sich in den Auseinandersetzungen mit den empirischen Wissenschaften stellten. Vor Hörern aller Fakultäten gestand Adolf von Harnack in seinen berühmten Vorträgen über das Wesen des Christentums im Jahre 1900, dass die Disziplin der Apologetik „sich in einem traurigen Zustande“ befindet: „sie ist sich nicht klar darüber, was sie verteidigen soll, und sie ist unsicher in ihren Mitteln. Dazu wird sie nicht selten würdelos und aufdringlich betrieben.“27 Apologetik als interessengeleitete Verteidigung des Status quo oder auch nur dessen, was eine längst unabhängig gewordene Vernunft und Wissenschaft davon übrig ließen, war längst verdächtig geworden, der positiven Wahrheit des christlichen Glaubens und damit Gott selbst nichts mehr zuzutrauen. Dennoch war man sich bewusst, dass damit das, was vielfach als die apologetische Aufgabe bezeichnet wurde, nicht einfach erledigt war.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die evangelische Theologie anerkennen müssen, dass auch die Naturwissenschaften mit einem gewissen Recht weltanschauliche Anteile freisetzten, ja man musste überhaupt anerkennen, dass weite Teile der Bevölkerung sich abseits von christlichen Inhalten und kirchlichen Autoritäten Orientierung suchten und sich eine ganze Reihe von alternativen Weltanschauungsbewegungen ausbildeten.28 Schon seit den 1860er/70er Jahren war die Arbeiterbewegung unter dezidierter Abwendung von bürgerlicher Kultur und Religion auch zu einer geistig-kulturellen Heimat ihrer Anhänger avanciert. Spätestens seit den 1880er Jahren formierte sich die Gebildetenreformbewegung, in der vielfach diffuse, religiös-ideologisch aufgeladene Reformprojekte als gesellschaftliche Ziele propagiert wurden und sich Elemente eines naturwissenschaftlich-freigeistigen Weltbilds mit atheistisch-materialistischen, aber auch mit christlich-idealistischen Elementen mischen konnten. Dazu kamen immer öfter deutschnationale Vorstellungen, die sich mit sozialdarwinistischen Ideen bis hin zur Rassenhygiene und Euthanasie verbinden konnten, aber auch internationalistische nichtreligiöse Humanistenbewegungen entstanden innerhalb des Großbürgertums. Aus freireligiösen Strömungen bildeten sich so unterschiedliche Bewegungen wie die Vegetarierbewegung, die Freikörperkultur-, Reformhaus- und Abstinenzlerbewegung. Dazu kamen kulturkritische Weltanschauungsgruppen wie der Goethebund (1900), der Dürerbund (1902), aber auch die Anthroposophische Gesellschaft (1913). Alle diese freien Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften drangen auf verfassungsrechtliche Achtung und erhielten diese 1919 in der Weimarer Reichsverfassung, deren Artikel 136 bis 139 und 141 später auch in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eingingen und bis heute Gültigkeit haben.

Es war weiterhin der Begriff der Weltanschauung, der in diesem Differenzierungsprozess Konjunktur hatte. Und es war der Ausdruck „Weltanschauungskampf“, der als Schlagwort für die mit der Jahrhundertwende heraufziehenden Auseinandersetzungen diente und das Gefühl einer tiefen Krise des Christentums ausdrückte. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit des Nationalsozialismus schließen diese großen Auseinandersetzungen zwischen Religion, Kirchen, Wissenschaft, politischen Parteien und anderen Gruppierungen immer auch ein Ringen um Meinungsführerschaft, um Macht und Einfluss mit ein. Auch und gerade in den Neukonstituierungen der Weimarer Republik ist das Moment der Institutionenkonkurrenz zwischen Kirchen, Weltanschauungsvereinen, Parteien und anderen Überzeugungssystemen nicht mehr zu vernachlässigen. Die sich im Weltanschauungskampf neu besinnende protestantische Apologetik sieht sich jedenfalls vor die Aufgabe gestellt, in dieser Unübersichtlichkeit nach Orientierung und der Rolle des christlichen Glaubens und nach seinem Verhältnis zur Orientierungsleistung der Naturwissenschaften neu zu fragen.29

Bis in die Zeit des Nationalsozialismus hielt sich die Bezeichnung Weltanschauungskampf als Begriff für Auseinandersetzungen um die Bedeutung der Religion und des Christentums im Gegenüber zu Wissenschaft und Politik, die zunehmend von Kategorien wie Volk, Rasse und Menschenbild geprägt wurde. Von den Nationalsozialisten wurden diese Konflikte vereinnahmt und ideologisiert und zu einer Art Endgericht über das Schicksal des deutschen Volkes stilisiert. In antisemitischer Absicht wird der Begriff des Weltanschauungskampfes zum Beispiel von Alfred Rosenberg genutzt, dem Chefideologen der Nationalsozialisten seit den 1920er Jahren, den Hitler 1934 zum „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ ernannte und der gegen das Weltjudentum, die Kirchen und ihr „verjudetes“ Christentum sowie gegen den Bolschewismus schrieb.30 Bis zum Ende des Krieges stilisierte der Nationalsozialismus seine Ideologie als einen eschatologischen Weltanschauungskampf und machte sich dabei die religiösen Konnotationen zunutze, die dieser Begriff seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte. Noch am 25. Januar 1944 hat Goebbels vor der Generalität in Posen eine Rede mit dem Titel „Der Krieg als Weltanschauungskampf“ gehalten.

Doch kehren wir zurück zu unserer Fragestellung, den Auseinandersetzungen zwischen Theologie und Naturwissenschaften, und damit besonders zu dem anhaltenden Streit um den Darwinismus und die Evolutionstheorie. Als Vorkämpfer des Darwinismus in Deutschland hatte sich, wie wir sahen, Ernst Haeckel einen Namen gemacht. Er gründete nach einer ganzen Reihe von überaus erfolgreichen Schriften, unter denen die weit verbreiteten „Welträtsel“ von 1899 hervorzuheben sind, 1906 den Monistenbund als Verein zur Verbreitung einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“, der mit einer Unterbrechung im Nationalsozialismus bis heute existiert. In dem von Heinrich Schmidt verfassten Gründungsmanifest des Monistenbundes von 1906 heißt es ganz im Sinne des Kampfes um die Weltanschauung: „Die ungeheuren Forschritte der Naturwissenschaften haben die veralteten dogmatischen und mystischen Vorstellungen über Welt und Menschen, über Körper und Geist, Schöpfung und Entwicklung, Werden und Vergehen der erkennbaren Dinge verdrängt und beseitigt. Veraltete dualistische Vorstellungen werden zunehmend von monistischen ersetzt und die in der durch Tradition geheiligten Weltanschauung Unbefriedigten suchen nach einer naturwissenschaftlich begründeten, einheitlichen Weltanschauung. Diese verwirft den Glauben an die veralteten, traditionellen Dogmen und Offenbarungen und setzt an ihre Stelle die reine Vernunft.“31

Die kirchlich-theologische Antwort auf den Monistenbund folgte ein Jahr später. Gegen den Haeckel’schen Monistenbund wurde 1907 durch den Biologen Eberhard Dennert in Frankfurt a. M. der Keplerbund gegründet, und auch Dennert veröffentlichte aus diesem Anlass eine Gründungsschrift, mit dem zu erwartenden Titel: „Die Naturwissenschaft und der Kampf um die Weltanschauung“ (1908). Auch hier sei aus dem Gründungsaufruf zitiert: „Der Keplerbund steht auf dem Boden der Freiheit der Wissenschaft und erkennt als einzige Tendenz die Begründung und den Dienst der Wahrheit an. Er ist dabei der Überzeugung, daß die Wahrheit in sich die Harmonie der naturwissenschaftlichen Tatsachen mit dem philosophischen Erkennen und der religiösen Erfahrung trägt. Dadurch unterscheidet sich der Keplerbund bewußterweise von dem im materialistischen Dogma befangenen Monismus und bekämpft die von ihm ausgehende atheistische Propaganda, welche sich zu Unrecht auf Ergebnisse der Naturwissenschaft beruft.“32

Seine Blütezeit erlebte der Keplerbund von 1914 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, als ihm 8400 Mitglieder in 40 Ortsgruppen angehörten. Die Monatsschrift „Unsere Welt“, an der eine große Zahl bedeutender Naturforscher und Ärzte mitarbeiteten, und die 1908 gegründete, für Schüler bestimmte Zeitschrift „Für Naturfreunde“ hatten eine Bezieherzahl von zusammen 25 000.33

Der Keplerbund stand nicht allein. Weitere kirchliche Initiativen im Sinne dieser neuen Apologetik, die sich mit den weltanschaulichen Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Forschung auseinandersetzten, folgten: 1909 das Apologetische Seminar zu Wernigerode (später Luther-Akademie) unter Carl Stange, 1921 die Apologetische Centrale für evangelische Weltanschauung und soziale Arbeit in Berlin-Spandau unter Carl G. Schweitzer und Walter Künneth34, 1927 das Forschungsheim für Weltanschauungskunde in Wittenberg unter dem Theologen und Ornithologen Otto Kleinschmidt35. Dazu kam die Einrichtung von besonderen Professuren, so z. B. des Lehrstuhls von Romano Guardini für Religionsphilosophie und Christliche Weltanschauung in Berlin, der 1923 gegründet und 1939 von den Nationalsozialisten aufgelöst wurde.

Die Anliegen dieser kirchlichen Initiativen wurden nun auch von Teilen der akademischen Theologie aufgenommen. Als Vorreiter kann Karl Heim gelten, der sein 1904 erschienenes Buch „Das Weltbild der Zukunft. Eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie“ 1906 in einer Selbstanzeige in der Zeitschrift „Die Reformation“ unter dem Titel „Eine neue Apologetik“36 ankündigte. Für Heim war klar: „Wir müssen jetzt ganz neue Wege suchen ..., wenn nicht der ungeheure Riß zwischen der nur unter sich verkehrenden Theologie und der Welt der Mediziner und Naturwissenschaftler über kurz oder lang zu einer Katastrophe führen soll. Eine Riesenarbeit ist zu tun, um den schon seit hundert Jahren verlorenen Anschluß wieder einzuholen, ehe es zu spät ist.“37

Heim sah das Verfahren einer „neuen Apologetik“ so38, dass es dabei nicht um die rationale Verteidigung einer religiösen Kosmologie gehen kann, sondern die wissenschaftliche Vernunft aus sich selbst heraus an ihre Grenzen geführt werden und für die Theologie die Frage nach der Glaubensgewissheit im Mittelpunkt stehen muss. Heim will alle Formen nur gegenständlicher Erkenntnis als weltanschaulich aporetisch erweisen, da sie die Spaltung von Subjekt und Objekt betreiben und so den Blick auf die Einheit der Wirklichkeit verlieren. Nur durch die Überwindung der Spaltung von Subjekt und Objekt durch einen mit der ganzen Existenz vollzogenen Entscheidungsakt, mit dem der Mensch seine eigene Existenz als in Gottes „überpolarem Ursein“ gegründet versteht, kann die Zerrissenheit des modernen Menschen geheilt, seine Denknot überwunden werden. Nicht um ein dezisionistisches Werturteil handelt es sich dabei, sondern um eine neue Sicht der Wirklichkeit als ganzer, in die Heim auch Einsichten der modernen Naturwissenschaften, vor allem die Relativitäts- und Quantentheorie, integrieren möchte.

War und blieb Karl Heim auch ein in der akademischen theologischen Szene eher randständiger Vertreter, so wurde in der Universitätstheologie die apologetische Herausforderung seit dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder Gegenstand intensiver Diskussionen39, und manche bemühten sich um eine Neubegründung auch der wissenschaftlichen Apologetik. Ich zitiere nur einige Titel von Veröffentlichungen: Julius Kaftan, Philosophie des Protestantismus. Eine Apologetik des evangelischen Glaubens, 1917 (Ritschl-Schule); Rudolf Wielandt, Praktische Apologetik, 1922; Carl Schweitzer, Zur Neubegründung der Apologetik, 1926; ders., Antwort des Glaubens. Handbuch der neuen Apologetik, 1928. Aber auch Horst Stephans „Glaubenslehre“ von 1921 mit dem Untertitel „Der evangelische Glaube und seine Weltanschauung“ gehört in diesen Zusammenhang.40 Stephan war denn auch der Verfasser des Lexikonartikels „Apologetik: III. Systematisch-Theologisch“ in der zweiten Auflage der RGG.

Intensiv wurde darüber debattiert, ob es nur eine praktische oder auch eine theoretische Apologetik oder überhaupt keine wissenschaftliche Apologetik geben und welches der enzyklopädische Ort solcher Apologetik sein kann. Strittig war, ob alle oder einige ihrer Aufgaben von der Religionsphilosophie oder der Prinzipienlehre zu erledigen seien oder ob gar eine neu einzurichtende Disziplin etabliert werden müsse, die einmal als christliche Weltanschauungsbegründung41, ein andermal als Weltanschauungslehre42 oder ganz neu als Eristik43 bezeichnet wurde.

Andere wie Martin Rade trugen dagegen schon früh „Bedenken gegen die Termini ‚Apologetik’ und ‚christliche Weltanschauung’“44 vor, und Rade bezeichnete das Vorhaben einer theoretischen oder wissenschaftlichen Apologetik überhaupt als „Nonsens“45. Auch andere warnten eindringlich davor, dass die Theologie sich mit dem Versuch einer Apologetik an fremde Maßstäbe ausliefere, und sahen alle Versuche, die Gewissheit des Christentums durch Elemente der wissenschaftlichen Kultur zu stützen, als verhängnisvoll an. Als 1921 Werner Elert in einer breit angelegten und bis heute gut lesbaren Studie mit dem Titel „Der Kampf um das Christentum“ die Geschichte der christlichen Apologetik in ihrem Gegenüber zur allgemeinen Geistesgeschichte darstellte, suchte er ausdrücklich „Klarheit zu gewinnen über die Stellung des Christentums im allgemeinen Denken der Gegenwart“46. Elert meinte, in den theologisch-apologetischen Bemühungen seiner Zeit eine Überwindung der theologischen Kompromissmethoden und darin eine Erneuerung des christlichen Distanzgefühls gegenüber der allgemeinen Kultur ausmachen zu können. Weder Kunst noch eine bestimmte Weltansicht noch ein allgemein gültiges Ethos können als Bundesgenossen vereinnahmt werden, sondern es gelte: „Das Christentum aus den Verschlingungen mit einer untergehenden Kultur zu lösen, damit es nicht mit in den Strudel hinabgerissen werde“47.

Damit ist auch schon ein Hinweis auf eine Entwicklung gegeben, mit der sich die akademische Theologie in der Weimarer Republik von der apologetischen Frage abwenden, ja sie bis heute desavouieren sollte. Es war nicht nur, aber doch vor allem die Dialektische Theologie und als ihr Vertreter Karl Barth, der nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs feststellte, dass das Projekt einer Apologetik des christlichen Glaubens als erledigt zu betrachten sei. Schon in seinem „Römerbrief“ von 1922 formulierte Barth: „Apologetik, Sorge um den Sieg der Heilsbotschaft, gibt es nicht.“48 Mit dem „Versuch einer Begründung und Rechtfertigung ... im Rahmen und auf Grund der Voraussetzungen und Methoden eines nichttheologischen, eines allgemein menschlichen Denkens und Redens“49 beraubt sich die Theologie ihres eigenen Grundes, nämlich der unbedingten Bindung an Gottes Wort. Die theologische Aufgabe kann ihren Ausgangspunkt immer nur von dort her nehmen, von wo sie sich begründet, aus der Offenbarung Gottes in seinem Wort. Die Theologie hat dabei keine eigene Weltanschauung zu entwickeln, deren Plausibilität dann im Rahmen des allgemeinen wissenschaftlichen Denkens dargelegt werden könnte.

Auch in den Debatten der 1930er Jahre um die Tragweite der so genannten natürlichen Theologie und um den „Anknüpfungspunkt“ der Offenbarung insistierten Barth und andere darauf, dass die Theologie mit dem Versuch, den christlichen Glauben gegenüber den Maßstäben der Wissenschaften, menschlicher Bedürfnisse oder kultureller Nützlichkeit plausibel zu machen, den Anspruch des Wortes Gottes immer schon unterlaufe, sich selbst zu einer unbeholfenen Weltanschauung degradiere und sich damit bei den Zeitgenossen immer schon in Misskredit bringe. Carl Schweitzer stellte in seinem schon erwähnten „Handbuch der neuen Apologetik“ von 1928 im Vorwort resigniert fest: „es sieht so aus, als hätten sich die verschiedensten theologischen Schulen in der radikalen Ablehnung der Apologetik verbündet“50. Die Theologie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sieht sich mit der erstaunlichen Tatsache konfrontiert, dass die radikale Kritik an aller Apologetik und Weltanschauungslehre durch die universitäre Theologie mit der Blüte der außer-akademischen apologetischen Initiativen zusammenfällt, oder, wie es ein Zeitgenosse ausdrückte, mit der „seltsame[n] Lage, daß ein theologisches Arbeitsgebiet gerade in dem Augenblick, da ihm von der ‚theologischen Wissenschaft’ aus mit den verschiedensten Gründen seine Unmöglichkeit bescheinigt wird, zu neuem Leben voll wirksamer Wirklichkeit erwacht“51.

Das Wahrheitsmoment des Einspruchs der Dialektischen Theologie war die Warnung vor Anbiederung und Ideologieanfälligkeit, der sich die Theologie mit dem Vorhaben auszusetzen schien, vor einer allgemeinen Weltvernunft bestehen zu wollen. In der Zeit des Nationalsozialismus erlagen viele Theologen dieser Gefahr – allerdings eher unabhängig davon, ob sie apologetisch orientiert waren oder nicht. Jedenfalls blieb die Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften bis in die 1950er Jahre unerledigt, als die neu gegründeten kirchlichen Akademien, die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) und die evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen dieses Anliegen wieder aufnahmen. Bis heute hat der Begriff „Apologetik“ den Makel „des theologisch Unsachgemäßen und Illegitimen“52 nicht ganz verloren. Doch über den Glauben und die in ihm begründete Hoffnung Rechenschaft abzulegen, ist nach 1. Petr 3,15 eine unaufgebbare Pflicht des Christen: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung (apologian) vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.“

Das ist mitnichten nur ein Anspruch, der von außen an den Glaubenden gestellt wird und der von vornherein die Verteidigungsstellung impliziert, womöglich gar mit dem Rücken zur Wand. Es ist die natürliche Folge wacher Zeitgenossenschaft, die die Botschaft von Jesus Christus mitten in diese Welt trägt. Denn das Evangelium gehört nicht in den Winkel, sondern in die Öffentlichkeit, also dorthin, wo die für unser Selbstverständnis und unser Zusammenleben grundlegenden Verständigungsprozesse laufen. Und zu diesen Verständigungsprozessen gehört in elementarer Weise auch die Frage, welche Rolle denn empirische Befunde und die aus ihnen abgeleiteten Hypothesen und Theoriekomplexe für unser Selbstverständnis und für unseren Umgang miteinander, mit unserer Welt und mit uns aus dieser Erkenntnis zuwachsenden technischen Möglichkeiten spielen. Dass Apologetik als Auseinandersetzung um eine theologisch und wissenschaftlich reflektierte Weltsicht angesichts einer Neubelebung kreationistisch-fundamentalistischer Bewegungen und angesichts eines offensiv vertretenen so genannten „neuen Atheismus“ auch von der akademischen Theologie als „Kunst des Antwortens“53 wieder entdeckt und gepflegt würde, wäre zu wünschen. Dabei kann sie an Einsichten anknüpfen, die sich aus der Debatte um die Apologetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewinnen lassen und auf die ich abschließend hinweisen möchte.

Apologetik heute?

Walter Sparn hat drei Momente identifiziert, die als charakteristisch für die Transformation der apologetischen Fragestellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelten können54 und die einen Erkenntnisgewinn gegenüber dem 19. Jahrhundert darstellen.

Erstens hatte man in der Auseinandersetzung mit der dezidiert weltanschaulichen Propaganda etwa von Ernst Haeckel gelernt, konsequent zwischen wissenschaftlicher Rationalität und weltanschaulichem Interesse zu unterscheiden55, und nun begonnen, die latente Weltanschaulichkeit der Wissenschaft ernst zu nehmen. Es war deutlich geworden, dass die Naturwissenschaften nicht per se als Gegner des Christentums anzusehen sind, zugleich aber auch nicht eine schlechthin wertneutrale Methodik zum Wissenserwerb darstellen. Die Scheidung von erfahrungswissenschaftlich gewonnenen bloßen Fakten und weltanschaulichen Anteilen wissenschaftlicher Erkenntnis ist nicht einfach gegeben, sondern kann nur durch kritische Selbstprüfung der Wissenschaften immer wieder neu gewonnen und auch dann nicht immer klar und allgemeingültig getroffen werden.56 Eine Unterscheidung, die man in diesem Zusammenhang immer wieder machte, war die zwischen Weltbild und Weltanschauung, wobei das Weltbild durch naturwissenschaftliche Fakten bestimmt wird, die daran sich anschließenden Weltanschauungen sich aber zusätzlich aus Überzeugungen speisen, die jenseits vom Faktenwissen ihre Ursprünge haben müssen.

Zweitens wurde fraglich, ob es tatsächlich so etwas wie eine verbindliche christliche Weltanschauung geben kann. Die Dichotomie von christlicher vs. moderner oder religiöser vs. wissenschaftlicher Weltanschauung begann sich zugunsten einer Pluralität von Weltbildern aufzulösen. Schon im 19. Jahrhundert hatte ja der Prozess der weltanschaulichen Differenzierung auch innerhalb des Christentums begonnen, als sich fundamentalistische Gruppen, freireligiöse Vereinigungen, die Anthroposophie und andere weltanschaulich differenzierte Gruppen und Bewegungen bildeten. Es wurde durch die verschiedenen innerchristlichen Bewegungen und Schulen deutlich, dass es eine plurale Vielfalt christlich geprägter Weltzugänge gibt. Dann aber legte es sich nahe, dass auch zwischen dem christlichen Glauben als solchem und der je zeitbedingten, kulturrelativen und womöglich individuellen Weltanschauung der Glaubenden unterschieden werden muss. Es wuchs das Bewusstsein, dass auch der Zusammenhang zwischen dem christlichem Glauben, christlich geprägten weltanschaulichen Orientierungen und der allgemeinen Kultur komplexer ist, als bisher angenommen.57

Damit wird drittens aber auch die Differenz zwischen religiöser Binnenperspektive und analytischer Außenperspektive zum Gegenstand theologischer Reflexion. Gerade in der Auseinandersetzung mit anderen weltanschaulich-religiös wirksamen Überzeugungen wird deutlich, dass „die binnenperspektivische Gewißheitsfrage anderer Art ist als die Wahrheitsfrage in der Außenperspektive“58. Durch die Entwicklung einer naturwissenschaftlich geprägten Anthropologie und Psychologie wurde z. B. eine Außenperspektive auf den Glauben möglich, die wiederum mit der Binnenperspektive der Wahrheitsgewissheit des Glaubens vermittelt werden wollte. Gibt es ein religiöses Apriori, gar eine Anlage zur Religion? Wie zeigt sich diese in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit? Und wie verhält sie sich zum Wesen des christlichen Glaubens? Entlastet der Verweis auf die irreduzible Authentizität religiöser Gewissheit die Apologetik von der Wahrheitsfrage? Auch wenn die Apologetik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit davon entfernt war, auf diese Fragen tragfähige Antworten zu finden, so hat sie doch den Sinn dafür geschärft, dass diese Fragen bis heute zu den Themen eines reflektierten Dialogs zwischen Naturwissenschaft und Theologie gehören.


Dirk Evers, Tübingen


Anmerkungen

1 Karl Gerhard Steck, Art. Apologetik II. Neuzeit, in: TRE 3, Berlin / New York 1978, 411-424, 413.

2 Gottlieb Jacob Planck, Einleitung in die Theologische[sic!] Wissenschaften I, Leipzig 1794.

3 1. Aufl. 1811, 2. Aufl. 1830.

4 Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg. von Heinrich Scholz, 31910, unveränd. Neudruck Berlin 1993, 19 (§ 44).

5 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd.1, hg. von Martin Redeker, Berlin 71960, 83 (§ 11).

6 Ebd., 94 (§ 13).

7 Friedrich Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke (1829), KGA I.10, hg. von Hans-Friedrich Traulsen, Berlin / New York 1990, 345-347, 351.

8 Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung: Werke, Bd. 5, Berlin 1913, 165-485, 255.

9 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 2001, 9.

10 Eilert Herms, „Weltanschauung“ bei Friedrich Schleiermacher und Albrecht Ritschl, in: ders., Theorie für die Praxis, München 1982, 121-143, 124, dort auch die entsprechenden Nachweise.

11 Friedrich Schleiermacher, Zur Pädagogik, 20. Std. (1813), in: Sämtliche Werke III/9 Berlin 1835-84, 621.

12 Vgl. aus kirchengeschichtlicher Perspektive dazu jetzt: Tilman M. Schröder, Naturwissenschaften und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich. Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evangelische Theologie, Stuttgart 2008 (siehe dazu die Rezension in dieser Ausgabe des MD, 473ff).

13 Rudolph Wagner, Menschenschöpfung und Seelensubstanz, Göttingen 1854; ders., Ueber Wissen und Glauben mit besonderer Beziehung zur Zukunft der Seelen. Fortsetzung der Betrachtungen über „Menschenschöpfung und Seelensubstanz“, Göttingen 1854.

14 Carl Vogt, Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände, Gießen 21854, 323; vgl. ders., Köhlerglaube und Wissenschaft, Gießen 41856, 32.

15 Vgl. Kurt Bayertz / Myriam Gerhard / Walter Jaeschke (Hg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 2: Der Darwinismus-Streit, Hamburg 2007.

16 David Friedrich Strauß, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß, Bonn 1872, Strauß’ Bekenntnis erregte zu seiner Zeit ebenso viel Aufmerksamkeit wie einst sein „Leben Jesu“, erlebte bis 1895 14 Auflagen und erschien dann 1904 noch einmal als Volksausgabe.

17 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Erstes Stück: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller, München 1873.

18 Vgl. die Nachweise bei Walter Sparn, Religiöse Aufklärung. Krise und Transformation der christlichen Apologetik im Weltanschauungskampf der Moderne, Glauben und Denken. Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft 5, Moers 1992, 88.

19 Vgl. z. B. Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3, Berlin (1874) 41895, 195 (§ 28).

20 Ebd., 199.

21 Ebd., 201.

22 Ebd., 24.

23 Ebd., 197.

24 Nach Otto Ritschl, Albrecht Ritschls Leben, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1896, 273.

25 Vgl. Werner Elert (Hg.), Der Kampf um das Christentum, München 1921, 258ff.

26 Vgl. z. B. den Beitrag von Wilhelm Herrmann, Der Glaube an Gott und die Wissenschaft unserer Zeit, in: ZThK 15 (1905), 1-26.

27 Adolf v. Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1900, 5.

28 Vgl. Frank-Michael Kuhlemann, Art. Welt / Weltanschauung / Weltbild III/2, in: RGG4, 556-559, 556f.

29 Einer der ersten, die das Motiv des Weltanschauungskampfes in einen Buchtitel aufnahmen, war der Pfarrer und Schriftsteller Richard Wimmer mit seiner Schrift „Im Kampf um die Weltanschauung, Bekenntnisse eines Theologen“ (Freiburg i. Br. 1887), die bis 1906 16 Auflagen erlebte. Sowohl Laientheologen nahmen die Kampf-Metaphorik auf (besonders drastisch etwa H. Wagner, „Klar zum Gefecht!“ Fingerzeige zur Verteidigung des Christentums gegen die moderne Weltanschauung, Blankenburg 1904) als auch Fachtheologen, die für das breitere Publikum schrieben. So verfasste der Erlanger Theologe August Wilhelm Hunzinger, später Hauptpastor am Hamburger Michel, 1909 in einer populärwissenschaftlichen Reihe das Werk „Das Christentum im Weltanschauungskampf der Gegenwart“ (Leipzig 1909). Und noch 1933 trug ein Quellenbuch zur Kirchengeschichte den Untertitel: „In 13 Kapiteln von: Das Christentum auf dem Wege zur Kirche bis zum: Das Christentum im Weltanschauungskampf der Gegenwart“ (Hermann Schuster / Walter Franke, Frankfurt a. M. 1933). Aber auch der Physiker Max Planck stellte 1935 einen Vortrag unter den Titel: „Die Physik im Kampf um die Weltanschauung“.

30 Raimund Baumgärtner, Weltanschauungskampf im Dritten Reich. Die Auseinandersetzung der Kirchen mit Alfred Rosenberg, Mainz 1977.

31 Heinrich Schmidt, Die Gründung des Deutschen Monistenbundes, in: Das Monistische Jahrhundert 22/1 (1912/13), 740-749, 740.

32 Nach Friedrich Wilhelm Bautz, Art. Dennert, Eberhard, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchen-Lexikon 1, 1260-1262, 1261.

33 Ebd.

34 Vgl. dazu Matthias Pöhlmann, Kampf der Geister. Die Publizistik der „Apologetischen Centrale“ (1921-1937), Stuttgart u. a. 1998.

35 Vgl. als erste Einführung Hans-Peter Gensichen, Theologie und Naturwissenschaft bei Otto Kleinschmidt, Berlin 1985, 65-76.

36 Karl Heim, Eine neue Apologetik, Die Reformation 5, Berlin 1902, 386-389.

37 Aus einem Brief vom 11. Februar 1906, zitiert nach Hermann Timm, Glaube und Naturwissenschaft in der Theologie Karl Heims, Witten 1968, 25.

38 Vgl. Karl Heim, Das Gewißheitsproblem in der systematischen Theologie bis zu Schleiermacher, Leipzig 1911; ders., Glaubensgewißheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion, Berlin 1916.

39 So arbeitete z. B. der Greifswalder Theologie und Kritiker des Darwinismus Otto Zöckler in einer posthum erschienenen Schrift die Geschichte der Apologie zum Zweck ihrer Neubegründung auf: O. Zöckler, Geschichte der Apologie des Christentums, Berlin 1907.

40 Vgl. dazu Volker Dieterich-Domröse, „Weltanschauungslehre“. Bemerkungen zu einem Neuansatz der theologischen Apologetik in der Zeit der Weimarer Republik, in: Glauben und Denken. Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft 5, Moers 1992, 122-141, v. a. 129-133.

41 A. W. Hunziger, „Apologetik“ und „Christliche Weltanschauung“, in: ZThK 18 (1908), 39-49, 45.

42 Horst Stephan, Art. Apologetik III. Systematisch-Theologisch, in: RGG2, 422-425, 424.

43 Dieser Ausdruck stammt von Emil Brunner, der die sich als Eristik nach außen wendende Apologetik als die „andere Aufgabe der Theologie“ (E. Brunner, Die andere Aufgabe der Theologie, in: Zwischen den Zeiten 7 [1929], 255-276) neben der nach innen gewandten Dogmatik bezeichnete. Neu an dieser Form von Apologetik ist, dass sie nicht auf die Verteidigung kirchlich-theologischer Einzelpositionen ausgerichtet ist, sondern prinzipielle Fragen verhandeln soll, und dass sie nicht als fundamentaltheologische Grundlegung der Theologie in Frage kommt, so als ob diese darauf angewiesen wäre, „durch Eristik zuerst gleichsam der kirchlichen Lehre den nötigen Raum zu schaffen“ (E. Brunner, Die christliche Lehre von Gott. Dogmatik, Bd. 1, Zürich 21953, 109). Dennoch hält Brunner daran fest, dass es jeder Theologie auch „um den Angriff der Kirche auf die gegnerischen Positionen des Unglaubens, des Aberglaubens, der wahnhaften Ideologien“ gehen muss und dass dazu auch „der Nachweis“ gehört, „dass die Angriffe der Gegner ... gegen die biblische Botschaft als vernunftwidrig, kulturfeindlich, wissenschaftlich unhaltbar u. dgl. auf Irrtümern beruhen, die entweder aus der Verwechslung von Rationalismus und Vernunft, von Positivismus und Wissenschaft, von kritischer und skeptischer Haltung oder aber aus Unkenntnis der wirklichen biblischen Lehre stammen“ (ebd., 107).

44 Martin Rade, Bedenken gegen die Termini „Apologetik“ und „christliche Weltanschauung“, in: ZThK 17 (1907), 423-435.

45 Ebd., 424.

46 Werner Elert (Hg.), Der Kampf um das Christentum, a.a.O.

47 Ebd., 489.

48 Karl Barth, Der Römerbrief, 12. unveränd. Abdr. der neuen Bearb. von 1922, Zürich 1978, 11.

49 So Barths Beschreibung von Apologetik in KD II/2, 577.

50 Carl Schweitzer, Antwort des Glaubens. Handbuch der neuen Apologetik, Schwerin 1928, 9.

51 Friedrich Karl Schumann, Neue Wege der Apologetik? In: ThR NF 1 (1929), 289-311, 291.

52 Eilert Herms, Mit dem Rücken an der Wand? Apologetik heute, in: ders., Offenbarung und Glaube, Tübingen 1992, 484-516, 486. Überhaupt bemüht sich Eilert Herms um eine positive Wiedergewinnung von Begriff und Aufgabe christlich-theologischer Apologetik heute. Vgl. auch ders., Offenbarung und Erfahrung, in: ders., Offenbarung und Glaube, a.a.O., 246-272; Art. Apologetik VI. Fundamentaltheologisch, in: RGG4, 623-626.

53 Paul Tillich, Systematische Theologie III, Berlin 41987, 226.

54 W. Sparn, Religiöse Aufklärung, a.a.O., 94ff.

55 Das gilt im Übrigen nicht nur für die Theologie, sondern auch für die Naturwissenschaften selbst. Allerdings ist diese Einsicht schon seit dem so genannten Ignorabimus-Streit ins Bewusstsein gedrungen, der durch die 1872 von dem Berliner Physiologen Emil Du Bois-Reymond gehaltenen Rede „Über die Grenzen des Naturerkennens“ ausgelöst wurde, die sich ebenfalls nicht von ungefähr mit Haeckels „Welträtseln“ auseinandersetzte. Vgl. dazu Kurt Bayertz / Myriam Gerhard / Walter Jaeschke (Hg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 2: Der Ignorabimus-Streit, Hamburg 2007.

56 Hier haben späte Anhänger der Ritschl-Schule aufgrund ihrer Kant-Kenntnis wichtige Beiträge geleistet. Vgl. z. B. Arthur Titius, Natur und Gott, Göttingen 1926 (21931), der unter Aufnahme Kant’scher Denkformen eine Verweltanschaulichung der Wissenschaft kritisiert.

57 Instruktiv sind in diesem Zusammenhang die kulturtheoretischen Entwürfe, die Paul Tillich in den 20er und 30er Jahren erarbeitet. Vgl. z. B. P. Tillich, Die Religiöse Deutung der Gegenwart. Schriften zur Zeitkritik, Gesammelte Werke, Bd. 10, Stuttgart 1968.

58 W. Sparn, Religiöse Aufklärung, a.a.O., 104.