Ariosophie
Ariosophie, die „Weisheit der Arier“, bezeichnet eine Lehre, die den esoterischen Erkenntnisweg der Theosophie mit der Germanenbegeisterung der Romantik (Hainbund, Herder, Grimm) und mit dem Rassedenken des 19. Jahrhunderts verknüpfte. Der ausgeprägte Rassismus der Ariosophie beeinflusste politische Ideologien des 20. Jahrhunderts. Elemente ihrer religiös-okkulten Lehren wie die Runenmagie und die Rekonstruktionen einer Germanenreligion wirken in der modernen Esoterik weiter.
Geschichte und Lehre
Der Begriff „Arier“ war im 2./1. Jahrtausend v. Chr. die Selbstbezeichnung von Menschen in Persien und Indien. Seit dem 18. Jahrhundert nahmen Sprachwissenschaftler ein Trägervolk für die Ursprache der indogermanischen Sprachgruppe an, das man „Arier“ nannte und in Zentralasien lokalisierte. Der Begriff „arisch“ entstammt also ursprünglich der Sprachwissenschaft. Im 19. Jahrhundert entstand auf dieser Basis die Theorie einer Abstammungsgemeinschaft aller Angehörigen der indogermanischen Sprachgruppe, der „arischen Rasse“. Der uns vertraute Gedanke einer alle Menschen umfassenden „Menschheit“ ist nicht selbstverständlich. Das Gefühl der Überlegenheit eines Volkes über ein anderes gibt es, seit es Menschen gibt. Aber erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine ausgefeilte Theorie der menschlichen Rassen, verbunden mit der Vorstellung einer Überlegenheit der Europäer bzw. der „Arier“.
Prägend war dabei der französische Diplomat und Schriftsteller Joseph-Arthur Comte de Gobineau (1816 – 1882). Dieser war vielseitig begabt, reüssierte als Schriftsteller und erfreute sich der Anerkennung führender Männer seiner Zeit. Er verbrachte Jahre in Schweden, Brasilien und Persien und zeichnete sich durch Integration in die einheimische Kultur und durch sprachwissenschaftliche Untersuchungen aus. Während seines Aufenthalts in Persien erschien 1853 bis 1855 seine vierbändige „Abhandlung über die Ungleichheit der menschlichen Rassen“, eine Menschheitsgeschichte entlang der Rassentheorie.
Demnach war die Welt ursprünglich von einer vollkommenen, gottgeschaffenen „nordischen“ oder „arischen“ Urrasse beherrscht. Daneben gibt es in absteigender Folge noch die gelbe und die schwarze „Primärrasse“. Wenn sich Rassen vermischen, geschieht eine Korrektur nach unten, also ein immerwährender Abstieg, sichtbar im modernen Drang zum Egalitären. Gobineaus Geschichtsphilosophie ist deterministisch und kulturpessimistisch. Für ihn hat sich die weiße Rasse am reinsten in Skandinavien und im französischen Adel erhalten, Deutsche sind eine niedrigrangige germanisch-slawische Mischung. Bei Gobineau fehlen ein positives Programm zur Verbesserung der Lage und jeglicher Antisemitismus.
Gobineau wurde vor allem im deutsch- und englischsprachigen Raum rezipiert. Befremdlich wirkten seine rassischen Überlegungen eher nicht. Der Entwicklungsvorsprung des Westens war in der Zeit kolonialer Ausbreitung und der Entdeckungsreisen für alle offensichtlich und erklärungsbedürftig. Den meisten Zeitgenossen erschienen rassisch begründete Erklärungen nicht unplausibler als andere oder gar keine.
Der englische Schriftsteller Houston Stuart Chamberlain (1855 – 1927), einflussreiches Mitglied des antisemitisch geprägten Richard-Wagner-Clans, popularisierte Gobineaus Theorien. Er sah als erster in den Deutschen die Ur-Herrenrasse und trug den rassisch fundierten Antisemitismus ein. Chamberlain traf in den frühen 1920er Jahren mit Hitler zusammen und hinterließ bei ihm Eindruck.
Die eigentliche Ariosophie wurde von zwei Wienern geschaffen, dem Journalisten Guido von List (1848 – 1919) und dem ehemaligen Zisterzienser Jörg Lanz von Liebenfels (1874 – 1954, beide Adelstitel sind selbstverliehen).
List publizierte anfangs noch mit wissenschaftlichem Anspruch eine Rekonstruktion der alten germanischen Religion, des sogenannten Wotanismus, benannt nach dem Hauptgott des germanischen Pantheons. Der Wotanismus sei durch das Christentum unterdrückt und das germanische Volk seiner Identität beraubt worden. Als Hauptquelle berief sich List wie die heutigen Neugermanen auf das skandinavische Götterepos „Edda“ (13. Jahrhundert), wobei seine Herleitungen keiner wissenschaftlichen Prüfung standhalten. Ab 1902 wandte er sich mehr dem Okkultismus als Erkenntnisweg zu. Statt pseudowissenschaftlicher „Forschung“ berief er sich bei der Konstruktion seiner germanischen Religion nun auf die verborgene Schau der „Erberinnerung“, die nur rassischen Ariern offenstehe. Hierbei bestehen enge methodische, inhaltliche und organisatorische Verbindungen zur Theosophischen Gesellschaft Helena Blavatskys (1831 – 1891), der Stammmutter der modernen Esoterik. Gemeinsame Elemente sind z. B. der Antirationalismus, die Rassenterminologie, der monistische Pantheismus, die Christentumskritik, die Grundregel der Entsprechung von „oben und unten“ (kosmische Mächte – irdische Wirklichkeit), die zyklische Kosmologie, die Vision einer stratifizierten Gesellschaft, die Naturfrömmigkeit und das Symbol der Swastika. Auf List geht der völkische Runenokkultismus zurück, die Vorstellung, den germanischen Runen wohne eine magische Kraft inne, die sich der (arische) Mensch durch Runenstellen (Körperhaltungen in Runenform) und Zaubersprüche aneignen könne. Politisch schwebte ihm ein pangermanisches Reich vor. Seine Ideen verbreitete er ab 1908 publizistisch durch die „Guido-von-List-Gesellschaft“, innerhalb derer ein erwählter Kreis Initiierter den „Armanen-Orden“ bildete.
Lists Mitstreiter Jörg Lanz von Liebenfels prägte 1915 den Begriff „Ariosophie“ und entwickelte sein Rassedenken auf biblischer Grundlage. Für ihn war Jesus ein arischer Heerführer und das Christentum die Religion der Rassereinheit. Er gründete 1907 den „Ordo Novi Templi“ und verbreitete seine Ideen jahrzehntelang in der Zeitschrift „Ostara“ (nach der fiktiven germanischen Göttin, der das vermeintlich vorchristliche Osterfest galt). Bei ihm haben nur Arier biologisch die Fähigkeit zur Gotteserkenntnis. Die arische Rasse selbst wird hier zum eigentlichen Gott. Liebenfels propagierte konkrete rassenhygienische Maßnahmen (Zuchtkolonien) und stilisierte sich selbst als den „Mann, der Hitler die Ideen gab“, was aber nicht nachweisbar ist.
Verbreitung und Nachwirkungen
Ariosophische Gruppen waren auch zu ihrer Blütezeit kein Massenphänomen, Mitgliederzahlen und Auflagen gingen nie über einige Tausend hinaus. Sie hatten aber lang anhaltende geistige Nachwirkungen. Neben Lists und Liebenfels’ o. g. Gemeinschaften entstanden weitere, z. B. 1913 die Germanische Glaubensgemeinschaft (aufgelöst 1957) des Malers Ludwig Fahrenkrog (1867 – 1952). Geistesverwandt, aber stärker kulturell und politisch als religiös-okkult orientiert waren die sog. „Deutschgläubigen“, z. B. der noch heute bestehende „Bund für Gotterkenntnis“ (Ludendorffer).
Die Liebe der Ariosophie zum Nationalsozialismus wurde nur kurz erwidert (cf. die Geschichte des Sachsenhains in Verden/Aller). Zwar griffen esoterisch interessierte Nationalsozialisten wie Himmler und Rosenberg manche Ideen auf, doch wurden sie nie politisch bestimmend. Die meisten Gruppen gerieten unter Druck und schlossen sich 1933 zur Deutschen Glaubensgemeinschaft zusammen, konnten aber Marginalisierung und Verboten nicht entgehen, als die Nazis begannen, eher auf die Deutschen Christen als auf die Schaffung einer germanischen Kunstreligion zu setzen.
Nach 1945 kam es zu Neugründungen und Wiederbelebungen ariosophischer Gruppen, so entstanden z. B. der Goden-Orden und die Artgemeinschaft. Führend waren seit den 1960er Jahren Sigrun und Adolf Schleipfer. Letzterer war Präsident der noch bestehenden Guido-von-List-Gesellschaft und überführte diese 1976 zusammen mit seiner Frau (später Sigrun von Schlichting) in den Armanen-Orden, eine Mysterienschule für Eingeweihte.
Die Artgemeinschaft wurde 1951 von Wilhelm Kusserow als Nachfolgerin der Nordischen Glaubensgemeinschaft gegründet. Ihr Motto lautet „Ökologisch denken – naturgemäß leben – artgemäß glauben“. Bis heute ist die Bewahrung des von den Ahnen ererbten Landes ein Anliegen der Ariosophienachfolger. So kam es in den 1970er Jahren zu Überschneidungen mit der Ökologiebewegung. „Heidnische“ Naturfrömmigkeit, eine „vorchristliche“ spirituelle Tradition, Kirchenkritik und Umweltschutz boten Anknüpfungspunkte in die New-Age- und die Umweltbewegung hinein. Von 1988 bis zu seinem Tod 2009 leitete der stellvertretende NPD-Vorsitzende Jürgen Rieger die Artgemeinschaft, die demnach als Teil der Neonazi-Szene gelten muss.
Einige Vorstellungen der Ariosophie sind in den Mainstream eingedrungen. So vergeht kein Weihnachten, kein Ostern und kein Johannistag, ohne dass irgendwo in den Medien die rein spekulative Behauptung wiederholt wird, es handle sich dabei um ursprünglich heidnische Feste, die vom Christentum übernommen worden seien. Ariosophie und Neuheidenszene sehen darin einen Beleg für die Unterdrückungsgeschichte durch die Kirche.
Teile der gegenwärtigen „neugermanischen“ Religion innerhalb der Neuheidenszene beziehen sich vor allem in der Runenmagie (auch „Runen-Yoga“) ausdrücklich oder zumindest sachlich auf Guido von List. Dies geschah lange Zeit unter einfacher Ausblendung von dessen Rassetheorien. Doch besteht durch den neugermanischen, auf (Re-)Konstruktion autochthoner Religiosität gerichteten Ansatz eine immanente Tendenz zu ethnischer Verengung. Diese muss nicht rassisch oder rassistisch intendiert sein, sondern ergibt sich aus der Sache selbst. Erst in den letzten Jahren beginnen sich Neugermanen aktiv mit den rechtsextremen Elementen ihrer eigenen Tradition zu befassen. Das Ergebnis sind neue Formen des Neugermanentums, auch „Asatrú“ (Asen-Treue, Asenglaube) genannt, die explizit die ethnisch-rassischen Ideen ihrer frühen Vordenker ablehnen und zum Teil auch aktiv gegen Rechtsextremismus arbeiten. Einige verstehen ihre Religion sogar explizit menschheitlich-universalistisch statt ethnisch-germanisch.
Einschätzung
Es liegt auf der Hand, dass die rassistischen Grundlagen der Ariosophie weder mit dem christlichen noch mit einem säkular-demokratischen Ethos vereinbar sind. Dabei sollte sich der Einwand nicht primär auf die wissenschaftliche Kritik stützen. Heute wird oft behauptet, dass bereits die Annahme der Existenz menschlicher Rassen eine rassistische Konstruktion und „Rasse“ in Wirklichkeit erfunden sei. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar – obgleich eine „arische Rasse“ tatsächlich eine Fiktion ist. Demgegenüber ist festzuhalten: Die Menschenwürde, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen hängt gerade nicht von ihrer Gleichheit ab, sondern ist in ihrer Geschöpflichkeit begründet. Sie kann daher auch nicht durch etwaige wissenschaftliche Erkenntnisse über reale gruppenbezogene Unterschiede unterminiert werden, ebenso wenig wie sie durch deren Abwesenheit begründet werden muss.
Ariosophie ist wie die heutige Esoterik ein genuines Kind der Theosophie und zeigt, dass auch scheinbar harmlose naturfromme Spiritualität das Potenzial zu problematischen Ausprägungen hat. Neugermanische Gruppen jeder Provenienz suchen zur Mitgliederwerbung Kontakte unter Naturschützern, Mittelalter-Reenactment-Liebhabern usw. Daher ist es begrüßenswert, wenn es in der Asatrú-Bewegung heute eine aktive und reflektierte Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus gibt (z. B. bei Nornirs Ætt, www.nornirsaett.de/doc/ario/ario.html). Es verbietet sich daher auch, alle germanisch orientierten Neuheiden unter rechtsextremistischen Generalverdacht zu stellen. Insgesamt ist zurzeit zu beobachten, dass die rechtsextremen Gruppen der Szene eher schrumpfen und die universalistisch ausgerichteten (auf niedrigem Niveau) wachsen.
Kai Funkschmidt
Quellen
Gobineau, Joseph Arthur Comte de, Essai sur l’inégalité des races humaines, 4 Bde., Paris 1853 – 1855
Lanz von Liebenfels, Jörg, Grundriß der ariosophischen Geheimlehre: Die Rassenkunde als Fundament der Ariosophie, Düsseldorf 1926
List, Guido von, Der Übergang vom Wuotanismus zum Christentum (mit germanischem Festkalender), Leipzig/Zürich 1911
Sekundärliteratur
Baer, Harald, Arischer Rassenglauben – gestern und heute. Das Weltbild der esoterischen Ariosophen und „philosophischen“ Deutschgläubigen, EZW-Informationen 129, Berlin 1995
Daim, Wilfried, Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Jörg Lanz von Liebenfels, München 1958
Gründer, René, Blótgemeinschaften – Eine Religionsethnografie des „germanischen Neuheidentums“, Würzburg 2010
Gründer, René, Neopaganismus im deutschsprachigen Raum. Entwicklungslinien eines neureligiösen Feldes, in: MD 10/2012, 363-375
Goodrick-Clarke, Nicholas, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz 1997
Pöhlmann, Matthias (Hg.), Odins Erben. Neugermanisches Heidentum. Analysen und Kritik, EZW-Texte 184, Berlin 2006
Schnurbein, Stefanie von, Göttertrost in Wendezeiten. Neugermanisches Heidentum zwischen New Age und Rechtsradikalismus, München 1993
Sünner, Rüdiger, Schwarze Sonne. Entfesselung und Missbrauch der Mythen in Nationalsozialismus und rechter Esoterik, Freiburg i. Br. 1999