Auf der Suche nach der „gnostischen Anthropologie“
Der kolumbianische Esoteriker Samael Aun Weor und auf ihn zurückgehende Gruppierungen
Auch im deutschen Sprachraum gibt es Vereinigungen, Kreise oder Zentren, die sich der Untersuchung der „gnostischen Anthropologie“ verschrieben haben. Diese Organisationen mit Bezeichnungen wie „Zentrum für Studien gnostischer Anthropologie“, „Kreis für die Untersuchung der gnostischen Anthropologie“ oder auch „Zentrum für Studien der Selbsterkenntnis“1 stehen im Zusammenhang mit dem Wirken des kolumbianischen Esoterikers Samael Aun Weor (1917-1977). International gibt es mehr als hundert verschiedene, voneinander unabhängige Gruppierungen, die sich auf ihn berufen. Ziel dieses Beitrags ist es, anhand der vorhandenen Materialien zu Samael Aun Weor das Grundgerüst der meisten dieser Vorstellungswelten darzustellen. Dazu kommt, dass Weors Entwurf in eine interessante Traditionslinie eingeordnet werden kann, die ihn mit dem deutschen Sprachraum und den Aktivitäten bekannter Okkultisten und Rosenkreuzer verbindet. Es handelt sich hier somit auch um ein Lehrbeispiel für die Verzweigung und die typische Mischung der Inhalte und Traditionen im Kontext esoterischer Bewegungen. Am Schluss des Beitrags soll speziell auf die Präsenz im deutschsprachigen Raum eingegangen werden.
Samael Aun Weors Leben
Samael Aun Weor wurde 1917 in Kolumbien als Víctor Manuel Gómez Rodríguez geboren. Zu seinem Leben findet sich sehr wenig gesichertes Material. Von ihm selbst gibt es ausführliche autobiographische Angaben in seinem 1972 erschienenen Buch Las tres montañas („Die drei Berge“).2 Diese Schrift stellt sich als Mischung aus biographischen Passagen und ausführlichen Darstellungen bestimmter Kapitel seiner spirituellen Lehre dar. Samael Aun Weor betont von Beginn an seinen Sonderstatus.3 So rühmt er sich einer alle Einzelheiten umfassenden Erinnerung an sein Leben bis hin zur eigenen Geburt. Von frühester Kindheit an praktizierte er bereits „Meditation“, beschäftigte sich mit seinen eigenen Vorinkarnationen und sei von „vielen Menschen aus alten Zeiten“ besucht worden. Die im Zuge dieser Meditationen erlangten ekstatischen Erlebnisse führten bald die Begrenztheit einer körperlichen Existenz vor Augen: Dabei ist von einem richtiggehenden „Schmerz“ die Rede, der ihn quälte und den es zu überwinden galt.4
Mit zwölf Jahren begann ein intensives Studium „unzähliger metaphysischer Werke“, im Besonderen der Bücher des in Lateinamerika sehr präsenten Allan Kardec (1804-1869) und dessen Nachfolgers Léon Denis (1846-1927).5 Dies eröffnete sein Interesse am Spiritismus, dem er dann auch praktisch nachging. Mit 17 Jahren hielt er bereits Vorlesungen im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft, woraufhin er das „diploma teosofista“ von niemand Geringerem als dem damaligen Präsidenten der Theosophischen Gesellschaft Adyar, Curuppumullage Jinarajadasa (1875-1953), erhalten haben soll.6 Mit 18 wurde er Mitglied der „Fraternitas Rosicruciana Antiqua“, der von dem Deutschen Arnoldo Krumm-Heller gegründeten lateinamerikanischen Rosenkreuzervereinigung.7 Während dieser Zeit will er die gesamte Rosenkreuzerbibliothek gelesen haben, dazu noch alle Werke Krumm-Hellers, Eliphas Levis, Franz Hartmanns, Rudolf Steiners und Max Heindels.8 Sein weiterer Weg führte ihn nach eigenen Angaben mit 30 Jahren in die „Ecclesia Gnostica Catholica“, eine zum „Ordo Templi Orientis“ gehörige Organisation, die für das Zelebrieren der so genannten „Gnostischen Messe“ zuständig ist. Die Einweihung in die „Ecclesia Gnostica Catholica“, die aber für Weor nicht als gesichert angenommen werden kann,9 wird von ihm selbst im 12. Kapitel seiner Autobiographie detailreich beschrieben.
Nach diesen Mitgliedschaften, die ihn offensichtlich desillusionierten, widmete er sich im Eigenstudium esoterischen Autoren und ging auf ausgedehnte Wanderschaft. Viel ist darüber nicht bekannt und lässt sich auch aufgrund seiner romanhaften Eigenbeschreibungen nicht wirklich rekonstruieren. Als wesentliche Erkenntnis dieser Zeit ist jedoch die Entdeckung der „Sexualmagie“ angegeben, die dann zu einem der wichtigsten Elemente seiner Lehre wurde. Im Zuge von Meditationen erhielt er zudem weitere Einsicht in seine vorangegangenen Leben. So soll er u. a. ein ägyptischer Priester, Julius Caesar, Mitglied eines tibetischen Ordens und das Äquivalent Jesu auf dem Mond gewesen sein.10
Ab 1948 begann Weor einen interessierten Kreis zu unterrichten, und es kam zur Gründung einer ursprünglich als „Movimiento Gnostico“ (Gnostische Bewegung) bzw. als „Universal Christian Gnostic Church“ bezeichneten Bewegung, deren Selbstbezeichnung jedoch immer wieder geändert wurde. Diese Gründung kann als die „Urform“ der Gruppen angesehen werden, die im Zusammenhang mit Weor zu nennen sind. 1950, ein Jahr nach dem Tod Arnoldo Krumm-Hellers, veröffentlichte er sein Buch El Matrimonio Perfecto („Die vollendete Ehe“), das schon unter dem Namen Samael Aun Weor erschien. Dies soll der Name seines „wahren Selbst“ sein, wie er durch Meditation erfahren haben will. Das Buch ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Sexualität vor dem Hintergrund der schon erwähnten sexualmagischen Theorie. Die Veröffentlichung dürfte auf jeden Fall zu einer Reihe von Angriffen auf seine Person geführt haben, zumal die freizügige Thematisierung von Sexualität und ihrer Kraft zu dieser Zeit äußerst kontrovers war. Auf dieses erste Buch folgte eine Vielzahl weiterer Publikationen. Insgesamt sollen es mehr als 80 Bücher und Hundertschaften an Konferenzbeiträgen und Kurzmitteilungen sein. Sie beschäftigen sich mit bekannten esoterischen Themen wie beispielsweise (hermetischer) Astrologie, UFOs oder Kabbalah. Im Internet sind im Übrigen neben den Veröffentlichungen auch einige Videos von Konferenzbeiträgen und Interviews einzusehen.11
Zu den Lehren Samael Aun Weors
Grundsätzlich ließe sich das esoterische Lehrgebäude, das mit Weor verbunden ist, beschreiben als inspiriert von theosophischen Versatzstücken, den rosenkreuzerischen Ideen eines Arnoldo Krumm-Heller, Elementen der Lehren Aleister Crowleys, Georges Ivanovich Gurdjieffs u. a. Weor bezeichnete sich selbst als „Meister der Synthese“, der sämtliche modernen, aber auch die antiken esoterischen Traditionen der Welt zusammengeführt habe.12 Im Vorwort seiner ersten Publikation ist programmatisch zu lesen: „Hier hast du, werter Leser, die Synthese aller Religionen, Schulen und Sekten. Unsere Lehre ist die Lehre der Synthese.“13
Die drei Schlüsselthemen im Denken Weors, die als die „drei Faktoren der Bewusstseinsrevolution“ bezeichnet werden, sind – soweit dies aus dem umfangreichen Werk rekonstruierbar ist – Tod, Wiedergeburt und Opfer.14 Tod bedeutet dabei die Zerstörung sämtlicher negativer Bewusstseinsfaktoren, die das Erwachen des Menschen behindern. Es geht darum, die innere „Essenz“ des Menschen von ihren Verkrustungen zu befreien, um zu einem wahren Wesen zu gelangen. Wiedergeburt bezieht sich auf die daraufhin mögliche Geburt eines „höheren“ alchemischen Körpers, was man insbesondere durch Techniken der Sexualmagie erreichen könne. Opfer bezieht sich darauf, dass der endgültig Initiierte alles tun muss, um das erlangte Wissen in seiner Vollständigkeit zu verbreiten.
Diese drei Faktoren sollen im Rahmen der stufenweisen Hinführung durch die Lehren Weors erreichbar sein. Dabei gibt es insgesamt sieben Einweihungsstufen, die in drei Teile gegliedert sind, die als „exoterisch“, „mesoterisch“ und „esoterisch“ bezeichnet werden. Von größter Bedeutung für den Aufstieg des Initianden ist die Sexualmagie, die die „Wiedergeburt“ des alchemischen Körpers ermögliche.
Grundsätzlich nimmt Weor hier eine sehr strikte Positionierung vor. Nur die so genannte „karezza“-Technik, d. h. das Zurückhalten des Orgasmus zur Sublimierung der dabei freiwerdenden Energien, ist legitim. Andere Formen der Sexualmagie, wie sie beispielsweise durch Aleister Crowley und seine Epigonen vorgegeben wurden, sind abzulehnen.15 Die hohe Bedeutung sexualmagischer Praktiken wird von Weor in so gut wie allen seinen Publikationen betont. Sie stellt für ihn den Gipfelpunkt, ja die Synthese sämtlicher esoterischer Traditionen dar. „Jede Religion, jeder esoterische Kult hat als Synthese die Sexualmagie.“16 Das dabei erzielte Ergebnis bezeichnet Weor auch als Vorgang einer „Christifikation“ des Menschen: „Wir wollen eines erreichen, ein Ziel, eine Absicht: die Christifikation. Jeder Mensch muss sich christifizieren.“17 In Anlehnung an asiatische Traditionen wird häufig auch der Begriff „sahaja maithuna“ verwendet, um den höchsten Grad der Vereinigung von Mann und Frau im Zuge der sexualmagischen Praktik zu beschreiben. Das Praktizieren dieser Sexualmagie soll es ermöglichen, einen weiteren Aspekt der Lehren Weors zu realisieren, der ebenfalls in den Schriften einen großen Raum einnimmt: die Verwirklichung eines „Astralkörpers“ und „unkörperlicher Reisen“. Auf diesen „Astralreisen“ erlangt der Eingeweihte Erkenntnisse, die seine bislang gewonnenen übersteigen. Er wird so stufenweise in höchste Wissenssphären eingeführt.
Viele Spaltungen nach Weors Tod
Samael Aun Weor starb 1977. Es kam in Folge relativ rasch zum Zerfall seiner Bewegung in viele rivalisierende Einzelbewegungen. Die gemeinsame Klammer all dieser Gruppierungen ist die Verehrung der Person Weors als Lehrer und übermenschliche Figur, zumeist als Meister Kalki Avatar oder „Messiah“ des Wassermannzeitalters, Buddha Maitreya oder Logos des Planeten Mars.18 Im Internet kursiert auch ein eigener „Himno Avatara“, der diese Art der religiösen Verehrung besonders deutlich macht. Weor wird darin als Erlöserfigur besungen, als Licht; er habe die Dunkelheit weggeschafft, seine „heilige Mission“ ausgeführt, sei als „Licht der Befreiung“ anzusehen, was durch die unterlegten Bildergalerien unterstrichen wird (von Bildern des ägyptischen Gottes Thot über den indischen Shiva bis hin zu Christus).19 Es ist äußerst schwierig, eine Übersicht über die verschiedenen Gruppierungen zu geben, zumal sich die Tendenz zu Schismen und Abspaltungen als konstanter Faktor der Weor-Gruppen erweist. Diese Trennungen sind dabei oft schon auf Zerwürfnisse innerhalb der Familie Weors zurückzuführen.
Die wichtigste Vereinigung ist das „Gnostic Institute of Anthropology“ (www.gnostic-institute.org), das von der Witwe Weors, Arnolda Garro Gómez (1920-1998, genannt „Maestra Litelantes“), bis zu ihrem Tod geleitet wurde und sich als legaler Hüter des Erbes Weors sieht (was aber auch alle Übrigen für sich beanspruchen). Das Institut stellt international gesehen die größte Vereinigung dar (ca. 18000 aktive Mitglieder)20 und bemühte sich u. a. um eine historisch-kritische Edition der Schriften Weors. Entstanden ist es 1989 als Abspaltung der ursprünglich größten Weor-Vereinigung, der „Asociación Gnóstica de Estudios de Antropología y Ciencia Asociación Civil“ (AGEACAC). Die Spaltung ist aufgrund von Dissensen in Bezug auf diverse Lehrmeinungen und insbesondere im Zusammenhang mit einem Streit um das Copyright der Schriften Weors entstanden. Die AGEACAC existiert weiterhin unter der Leitung der Tochter Weors, Hypatia Gómez, und von Victor Manuel Chavez (www.ageacac.org). Der Bruder Hypatias, Osiris Gómez, wiederum übernahm nach dem Tod der Mutter die Leitung des „Gnostic Institute of Anthropology“ (Hauptsitz in Mexiko).
Es sind noch andere Gruppen zu nennen, die im Zusammenhang mit Weor und seiner Wirkung stehen. Sie sind auf eigenständige Gründungen von Schülern Weors zurückzuführen:
• die „Asociación Gnóstica de Estudios Antropológicos Culturales y Científicos” (AGEAC), die 1992 in Spanien von Oscar Uzcátegui Quintero gegründet wurde und als Abspaltung von der AGEACAC entstanden ist. Quintero war einer der engsten Schüler Weors und beansprucht für sich, als legitimer Nachfolger bestimmt worden zu sein.21 Der Hauptsitz ist in Granada (www.ageac.org).
• der „Centro de Estudios Gnosticos“ (CEG), eine Splittergruppe des „Gnostic Institute of Anthropology“, die von Ernesto Barón geleitet wird. Dieser war eine Zeitlang Leiter einer Ausbildungsstätte in der Weor-Tradition in Guadalajara, überwarf sich jedoch mit Weors Frau, woraufhin er sich 1984 mit einer Gruppe Gleichgesinnter in Monserrat in Spanien niederließ.22 Von dieser Gruppierung gibt es im europäischen Raum wiederum eine Abspaltung, die von der Frau Baróns, Cloris Rojo Barón, nach der Trennung von ihrem Mann 2001 gegründet wurde. Zudem erfolgte bei diesen Gruppen um das Jahr 2003 herum eine Umbenennung in Zentren für „Studien der Selbsterkenntnis“.
• die „Gnostic Christian Universal Church“, gegründet von dem Kolumbianer Teofilo Bustos, der als „Master Lakshmi“ bezeichnet wird und aktuell seinen Hauptsitz in Venezuela hat (www.gnostico.com).
• die „Gnostic Christian Universal Movement in the New Order“, gegründet 1960 von dem Kolumbianer Joaquín Enrique Amortegui Valbuena (1926-2000), der als „Master Rabolú“ bezeichnet wird. Diese Gruppe hat eine unverkennbar apokalyptische Tendenz. So spricht Amortegui Valbuena in seinem letzten, auch auf Deutsch erschienenen Buch Hercolubus oder der rote Planet von einem sich der Erde nähernden Planeten, der aktuell beim Jupiter angelangt sei und in naher Zukunft auf der Erde einschlagen werde. Die dabei zu erwartende Katastrophe würden nur diejenigen überleben, die sich mit den drei Faktoren des Bewusstseins (im Sinne Weors) auseinandergesetzt hätten.23
Alle genannten Gruppierungen haben ihren Schwerpunkt im südamerikanischen Raum. In Europa ist von einer größeren Präsenz in Spanien auszugehen, insbesondere im Zusammenhang mit der von Oscar Uzcátegui Quintero gegründeten Vereinigung. Einige Gruppierungen bemühen sich jedoch um eine Verbreitung auch im übrigen europäischen Raum. Die in dieser Hinsicht aktivste Gruppierung ist der „Centro de Estudios Gnosticos“; eine gewisse internationale Präsenz hat auch die mit Teofilo Bustos (Meister Lakshmi) verbundene Vereinigung.24
Präsenz im deutschen Sprachraum
Grundsätzlich ist festzustellen, dass der deutsche Sprachraum kein bevorzugtes Verbreitungsgebiet der Weor-Gruppierungen zu sein scheint. Dies muss auch vor dem Hintergrund der sprachlichen Schwierigkeiten gesehen werden. Die Übersetzung der Texte Weors aus dem Spanischen kann aufgrund der vielen terminologischen Probleme, der anspielungsreichen Metaphorik und der beständigen Gedankensprünge und -brüche kein leichtes Unterfangen sein. Öffentlich wahrnehmbar ist v. a. die Vortragstätigkeit der Gruppierungen. In Österreich gab es beispielsweise seit Mitte der 90er Jahre in Wien, Graz und Linz immer wieder plakatierte Vortragsankündigungen eines „Zentrums für Studien gnostischer Anthropologie“, das im Zusammenhang mit dem „Centro de Estudios Gnosticos“ des Ernesto Barón steht.25 Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass es einen (kleinen) Kanon fester Themen gibt, die im Rahmen dieser Vorträge abgehandelt werden: z. B. „Das heilige Ägypten“ („Ägypten – ein Geschenk des Nils“, „Die magische Kraft der ägyptischen Bauten: Pyramiden, Sphinx, Tempel“, „Die Mythen von Isis, Osiris und Horus“)26; „Das Mysterium der gotischen Kathedralen“ (Die „gotische Kunst als Geheimsprache“, „Die Bedeutung der schwarzen Madonna“, „Energieströme unter den Kathedralen“)27; „Tibetische Psychologie“28; „Atlantis oder die Suche nach dem Ursprung“29; „Der Jakobsweg oder der Weg der großen Sehnsucht“30; „Die Kosmischen Wächter. Intelligentes Leben in der Weite des Universums“31.
Eine große Schwierigkeit der Selbstpräsentation dieser Gruppen stellt die schon erwähnte Tendenz zur Spaltung, Neuformierung oder Umbenennung dar. Das Wiener „Zentrum für Studien gnostischer Anthropologie“ präsentiert sich z. B. seit einigen Jahren als „Zentrum für Studien der Selbsterkenntnis“. Dies spiegelt die Umwandlung des „Centro de Estudios Gnosticos“ des Ernesto Barón in den „Centro de Estudios del Autoconocimiento“ (CEA) im Jahr 2003 wider.32
Deutlich ist bei diesem Beispiel auch ein gewisser Wandel in der Lehre, der sich in der „Abkehr“ von der Gnosis im engeren Sinne zeigt: So lässt sich in den aktuellen Angaben des CEA eine Tendenz zu einer allgemein psychologisierenden, nicht mehr so sehr direkt an Weor orientierten Sprache erkennen.33 Doch handelt es sich auch hier wohl nur um eine momentane Bestandsaufnahme, die in einigen Jahren wieder erneuert werden müsste. Thematisch lässt sich bei der Vortragstätigkeit keine größere Änderung feststellen. Ein Plakat des „Zentrums für die Studien der Selbsterkenntnis“ aus dem Jahr 2007 kündigt Vorträge zu „Griechischen Mythen und Selbsterkenntnis“ an mit Themen wie „Das Orakel von Delphi“, „Die Büchse der Pandora“, „Das Gesetz der Nemesis“.
Neben der Barón-Gruppe ist im deutschen Sprachraum eine in Berlin ansässige Vereinigung mit der Bezeichnung „Die Gnostik (sic!) Kultur in Deutschland“ präsent, die in der Tradition der Lehren des Teofilo Bustos (Meister Lakshmi) steht. Sie betreibt eine Internetseite (http://gnostik-kultur.tripod.com), doch mehr als einige Zitate aus Weors und Bustos Schriften (oft in schlechter deutscher Übersetzung) und das Angebot „to receive gnostic classes in English via email“ ist – neben Photos aus einem „Introduktionskurs zur Gnosis“ – darauf nicht zu finden. Ein ähnliches Bild ergibt sich im Zusammenhang mit einem „Institut für Gnostische Anthropologie e.V.“ (www.gnosis-meditation.de). Dort liegt ein Schwerpunkt auf dem Angebot einer „Meditation“, die Elemente des Yoga und einer so genannten „Runen-Gymnastik“ bzw. eines „Runen-Yoga“ präsentiert. Letzteres ist im Grunde genommen die Nachbildung von Runen durch Körperstellungen, die besondere körperliche und spirituelle Wirkungen haben sollen. Wirkungsgeschichtlich geht dies auf das Werk des deutschen Okkultisten Friedrich Bernhard Marby (1882-1966) zurück.34 Es wird auch die Befähigung zu Astralreisen in Aussicht gestellt, die am Ende der umfangreichen „Meditation“ stehen könnten. Auf der Internetseite ist zu lesen:35 „Mit Hilfe gezielten Übungen können wir unser Astralkörper Bewußt benutzen. Unser Astralkörper ist der Körper der Astrale Welt, die vierte Dimension. Es ist der Körper, den wir in die Träume sehen.“ Gerade dieses Zitat, das unter Beibehaltung der zahlreichen sprachlichen Fehler wiedergegeben wurde, führt auch die offensichtlichen Schwierigkeiten der öffentlichen Präsenz von Weor-Gruppen und ihrer Inhalte vor Augen. Es ist zu vermuten, dass die Betreiber der Seite keine muttersprachlichen Deutschen sind, ansonsten wäre diese massive Fehlerhäufung nicht erklärlich. Die Internetpräsenz gibt überhaupt beredt Auskunft über die nicht wirklich vollzogene Durchdringung des deutschsprachigen Raums. Die deutschen Varianten der diversen Internetseiten sind meist nur Anhänge umfangreicher lateinamerikanischer Seiten; die Links enden bald im spanischen Text.
Eine so große Tradition wie die der Weor-Gruppierungen rief im Laufe der Ausbreitung selbstredend auch Kritik hervor. Eine „Asociación de Ayuda a los Afectados por la Gnosis / The Association to Help People Affected by Gnosis” mit Sitz in Paris bot Hilfe an. Deren Internetauftritt (www.sos-gnosis.org) wurde 2002 initiiert, ist jedoch seit Sommer 2007 nicht mehr aktiv. Einer der Kritikpunkte, der über die allgemein üblichen Vorwürfe an Gruppen dieser Art hinausgeht (verlogene Haltung, Manipulation der Mitglieder, falsche Verwendung des Begriffs Gnosis, Widersprüche in den Schriften, wirres Gedankenkonstrukt), ist die Problematik der angeblichen sexualmagischen Praktiken. Nicht klar ist jedoch, ob die Weor-Gruppen diese Tradition, die bei ihrem Begründer eine sehr große Rolle spielte, auch heute noch zentral in ihrem Lehrgut enthalten, und wenn ja, in welcher Form. Den aktuelleren Veröffentlichungen und den Internetauftritten ist dahingehend nichts zu entnehmen.
Eine große Schwierigkeit der Selbstdarstellung der vielen kleinen Weor-Vereinigungen ist die offensichtliche Tendenz zur ständigen Spaltung, die sich bis in die kleinsten Gruppenbildungen verfolgen lässt. Auf lateinamerikanischen Internetseiten finden sich Hinweise auf Copyright-Streitigkeiten und die Frage, welche Gruppe welchen Anspruch in Bezug auf Weor und seine Lehren hat. Eine Vielzahl dieser Auseinandersetzungen scheint gerichtsanhängig zu sein. Samael Aun Weor hatte bei all seiner spirituellen und esoterischen Kreativität und der spürbaren Lust an der Synthese vieler esoterischer Traditionen offensichtlich kein Auge für die Organisation seiner Anhängerschaft und die Regelung der Nachfolge. Eine beeindruckende Wirkungsgeschichte ist ihm allemal beschieden.
Franz Winter, Wien
Anmerkungen
1 Zu dieser neuerdings gebräuchlichen Bezeichnung einer der Gruppierungen vgl. die Ausführungen im letzten Kapitel dieses Beitrags.
2 Ich zitiere im Folgenden die spanischen Bücher nach den Kapitelangaben. Verwendung fanden die im Internet frei erhältlichen Ausgaben; diese und die folgenden Übersetzungen stammen vom Verfasser. Bibliographische Hinweise: Die Bücher Weors stehen im Internet vielerorts zum freien Download zur Verfügung, da der Autor kurz vor seinem Tod das Copyright freigegeben hat, um die weitere Verbreitung zu gewährleisten. Die umfangreichste Sammlung der Texte (mehrheitlich im spanischen Original, aber auch in den Übersetzungen, soweit deren Vervielfältigung freigegeben wurde) findet sich auf www.bibliotecagnostica.com. Dort ist es sogar möglich, eine vollständige Sammlung aller Texte als E-Book herunterzuladen. Dabei ist explizit die unentgeltliche Verbreitung der Texte Weors als oberstes Prinzip angesprochen. Eine Sammlung der wichtigsten Texte in englischer Übersetzung findet sich auf www.gnosisonline.org/Biblioteca/english_books.php. Wer Weor in persona sehen will, kann auf eine umfangreiche Sammlung von Kurzvideos zurückgreifen (z. B. auf www.youtube.com). Ein aktueller Überblick über die Bewegung findet sich im Lexikoneintrag von Massimo Introvigne / Pierluigi Zoccatelli, Gnostic Movement (Samael Aun Weor), in: Martin Baumann / J. Gordon Melton, Religions of the World 2, 2002, 553f.
3 Die nachfolgenden Zitate stammen aus der mir zugänglichen spanischen Version des Buches.
4 Im ersten Kapitel des Buches „Las tres montañas, Mi infancia“ wird in einer ganzen Sequenz dieses „Leiden“ an der Begrenztheit eindrucksvoll beschrieben.
5 Angaben aus dem dritten Kapitel des Buches „Las tres montañas, Espiritismo“.
6 Angaben aus dem vierten Kapitel des Buches „Las tres montañas, Teosofía“. Curuppumullage Jinarajadasa bereiste in der Tat zu dieser Zeit die USA und Südamerika.
7 Vgl. dazu ausführlich Harald Lamprecht, Neue Rosenkreuzer. Ein Handbuch, Göttingen 2004, 153-161.
8 Angaben aus dem fünften Kapitel des Buches „Las tres montañas, La Fraternidad Rosa-Cruz“.
9 Vgl. dazu aber die Ausführungen bei Massimo Introvigne, Il ritorno dello gnosticismo, Carnago 1993, 198, der diese Einweihung in die „Ecclesia Gnostica Catholica“ bezweifelt.
10 Angaben nach der biographischen Skizze bei Pierluigi Zoccatelli, Il paradigma esoterico e un modello di applicazione. Note sul movimento gnostico die Samael Aun Weor, in: La Critica Sociologica 135, 2000, 33-49, zitiert in der Internetversion, www.cesnur.org/2001/plz_weor.htm.
11 Vgl. z. B. www.gnosisonline.org/tv-gnosis-gnose/gnose-samael-01.php. Viele Videos erhält man auch auf www.youtube.com, Stichwort „Weor“.
12 Vgl. P. Zoccatelli, Il paradigma esoterico, a.a.O., zweites Kapitel.
13 Aus der Einleitung des Buches „El Matrimonio Perfecto“.
14 Darstellung nach der Übersicht bei P. Zoccatelli, Il paradigma esoterico, a.a.O.; eine Zusammenfassung darüber findet sich bei M. Introvigne / P. Zoccatelli, Gnostic Movement, a.a.O., 553.
15 Vgl. M. Introvigne / P. Zoccatelli, Gnostic Movement, a.a.O.
16 Übersetzung eines Zitats aus der Einleitung des Buches „El Matrimonio Perfecto“.
17 Ebd.
18 M. Introvigne / P. Zoccatelli, Gnostic Movement, a.a.O., 553.
19 Das Video ist im Internet weit verbreitet (z. B. www.youtube.com).
20 Angaben nach P. Zoccatelli, Il paradigma esoterico, a.a.O., zweites Kapitel, Punkt 2.1.
21 Ebd., Punkt 2.3.
22 Ebd., Punkt 2.4.
23 Vgl. dazu die Angaben zum Buch auf www.hercolubus.com. Die Publikation ist auch auf Deutsch im C. Volkenborn Verlag erschienen. In der deutschen Version der Internetankündigung (www.cvverlag.de) heißt es: „V. M. Rabolú, Indio aus Südamerika, beschreibt uns mit aller Klarheit das Herannahen eines riesigen Planeten, der schon jetzt die Ereignisse der Erde spürbar beeinflusst.“
24 Es gibt bislang eine einzige tiefergehende Darstellung der Präsenz von Weor-Gruppen in Europa, und zwar in Form der hier schon öfter zitierten Studie von P. Zoccatelli zur Situation in Italien.
25 Ich bedanke mich bei Stefan Lorger-Rauwolf vom Wiener Referat für Weltanschauungsfragen für den Einblick in das Archiv und das freundliche Zur-Verfügung-Stellen einiger der vorgestellten Plakate.
26 Aus einer Vortragsankündigung des „Zentrums für Studien gnostischer Anthropologie“ in Wien, 2001.
27 Vortragsankündigung des „Zentrums für Studien gnostischer Anthropologie“ in Wien, 1999. In ähnlicher Weise kündigt ein Plakat aus dem Jahr 1996 einen Vortrag über „Die Mysterien des Antiken Ägypten“ an.
28 Öfter plakatiert 1996.
29 Plakate aus den Jahren 1996 und 1998.
30 Plakate aus dem Jahr 1996.
31 Plakate aus den Jahren 1996 und 1998. In Bezug auf die Außenpräsentation ergeben sich viele Parallelen zu der „Neuen Akropolis“, die jedoch ungleich erfolgreicher in ihrer internationalen Ausbreitung zu sein scheint.
32 www.cea-internacional.com; vgl. die Angaben auf www.cesnur.org/religioni_italia/g/gnosi_08.htm.
33 Vgl. die Angaben auf www.cea-internacional.com/de/index.html, wo der Name Weor überhaupt nicht mehr vorkommt.
34 Vgl. dazu Nicholas Goodrick-Clarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz 1997, 142f; zu Epigonen Marbys vgl. Karlheinz Weißmann, Erwachen im Untergrund. Neuheiden unter uns, in: MD 4/1991, 99-112, 108f, und Walter Schmidt, „Bund der Runenforscher Deutschlands“ wieder aktiv, in: MD 6/1992, 185-187.