Aus dem Himalaja nach Deutschland

Die theosophische Agni-Yoga-Bewegung

Seit Jahrzehnten fristet die Theosophie in Deutschland auf dem religiösen Markt eher ein Nischendasein. So tritt die Deutsche Theosophische Gesellschaft mit ihren acht Logen kaum öffentlich in Erscheinung. Zwar sind viele Gedanken der „Mutter der Esoterik“, Helena Blavatsky, in der heutigen Esoterik angekommen; gleichwohl dürfte die Rezeption ihrer Theoriebildung in der esoterischen Szene eher gering sein.1

Umso bemerkenswerter ist es, dass die der klassischen Theosophie nahestehende Agni-Yoga-Bewegung über eine Internetpräsenz hinaus aktiv in der esoterischen Szene wirbt.2 Seit mehr als 15 Jahren existiert in Hamburg die „Schule für Lebendige Ethik“, ehemals „Agni Yoga – Schule des Höheren Weges“. Seit einigen Jahren verstärken und beleben russlanddeutsche Zuwanderer die Bewegung.

Eindrücke

An einem strahlenden Frühlingssonntag im wohlhabenden Hamburger Stadtteil Othmarschen: Zeit fürs monatliche Treffen der Hamburger Anhänger der Agni-Yoga-Lehre. Die Zusammenkunft der Hamburger „Schule für Lebendige Ethik“ und der „Russisch-Deutschen Roerich-Gesellschaft Hamburg“ findet in einem zweigeschossigen Backsteinhaus statt, dem sogenannten Agni-Yoga-Tempel. Etwa 20 Mitglieder der Agni-Yoga-Bewegung im Alter von 30 bis 70 Jahren, in der Mehrzahl Frauen, sind in dem mit antiken Möbeln und großen Ölgemälden ausgestatteten Haus anwesend.3

Meditativ die Eröffnung: Alle nehmen am großen, modernen Tischgeviert Platz. Vor einem kleinen Bilderrahmen-Triptychon mit Abbildungen der Begründer der Agni-Yoga-Lehre, des Ehepaars Helena und Nikolaj Roerich, sowie des Mahatma Morya wird für einen Moment der Stille eine Kerze entzündet. Die Anwesenden sollten sich mit den Mahatmas verbinden, gute Gedanken in alle sechs Richtungen senden und innerlich bekräftigen, dem Guten und dem Gemeinwohl dienen zu wollen. Darauf folgt ein halbstündiger thematischer Vortrag über „Die neue Welt“4 mit anschließender Diskussion. Nach einigen Informationen über Themen kommender Treffen beendet gemeinsames abwechselndes Lesen aus dem vierten Agni-Yoga-Band „Gemeinschaft“ den Nachmittag.

Agni Yoga – Lebendige Ethik – Frieden durch Kultur

Die Agni-Yoga-Lehre wurde von dem Ehepaar Helena Iwanowna Roerich (1879-1955) und Nikolaj Roerich (1874-1947) begründet. Gemeinsam haben sie für ihre Verbreitung durch Veröffentlichung der medial von Helena Roerich empfangenen Botschaften der himmlischen Mahatmas sowie durch die Gemälde Nikolaj Roerichs gesorgt.5 Im deutschsprachigen Raum wird statt des Begriffs „Agni Yoga“ oft die Bezeichnung „Lebendige Ethik“ verwendet. Der gleichfalls anzutreffende Terminus „Frieden durch Kultur“ stellt eine zielbeschreibende Überschrift für die Agni-Yoga-Lehre dar.

Die Philosophie des Agni Yoga versteht sich als eine alle Weisheit und Kenntnisse der Philosophie- und Religionsgeschichte umfassende und überbietende Lehre. Sie ermögliche es dem Menschen, seine Seele zu Höherem zu entwickeln, seine wahre Bestimmung – die Unsterblichkeit – zu verwirklichen und dabei die gesamte Gesellschaft zu verbessern. Insofern beansprucht der Agni Yoga auch gesellschaftliche und politische Prägekraft.

Entsprechend dem Selbstverständnis des Agni Yogaals höchster Form religiöser Entwicklung und esoterischer Wurzel aller Weltreligionen wird die Bedeutung beider Namensbestandteile über deren ursprüngliches Verständnis hinaus erweitert: „Yoga“ ist nicht eine der Schulen der klassischen indischen Philosophie, sondern vielmehr eine Formel zur Inklusion aller Weltreligionen in einer theosophisch geprägten Perspektive.6 Den aus den Veden entlehnten Begriff „Agni“ für das reinigende wie auch Schmerz verursachende Urelement Feuer sowie die in allem anwesende Allgottheit Agni7 nahm Helena Roerich auf, verstand ihn aber als schöpferisches Urelement, vergleichbar den in der modernen Esoterik verwendeten Begriffen Ki oder Prana.

Das Ehepaar Roerich

Bereits Anfang des 20. Jahrhundert begannen Helena und Nikolaj Roerich, indische Philosophie zu studieren, und traten vermutlich vor dem Ersten Weltkrieg der russischenLoge der von Helena Blavatsky 1875 in London gegründeten „Theosophischen Gesellschaft“ bei. Der eigentliche Beginn des Agni Yoga ist auf das Jahr 1920 zu datieren. Ab diesem Jahr empfing Helena Roerich nach eigenen Angaben bis 1935 kontinuierlich Belehrungen und Weisungen des Mahatma Morya und anderer Mahatmas: „Der gesegnet Mahatma, Der die Bücher ‚Der Ruf’, ‚Die Erleuchtung’ und ‚Gemeinschaft’ übergab, erteilte viele Ratschläge und gab die Zeichen des Agni Yoga.“8 Morya wird als Führer des in einem tibetischen Himalaja-Tal (Schambhala9) verborgenen, nur Eingeweihten zugänglichen Meister-Ordens, der „Weißen Bruderschaft“, angesehen; bereits für Helena Blavatsky war Morya einer der persönlichen Meister.10

Zwischen 1923 und 1928 hielt sich das Ehepaar Roerich in Asien auf, wo es zu persönlichen Begegnungen mit den Mahatmas gekommen sein soll.11 Zwischen 1924 und 1935 veröffentlichte Helena Roerich die Agni-Yoga-Lehre in insgesamt 14 Einzelbänden. Darin wird die Ideenwelt der Theosophie weitgehend aufgenommen, und die Schriften Blavatskys werden zur Interpretation der Agni-Yoga-Texte herangezogen.

Die Ausbreitung des Agni Yoga im Westen war in den Anfangsjahren mit dem künstlerischen Schaffen Nikolaj Roerichs verknüpft, dessen Bilder die synkretistische Zusammenschau orientalischer und okzidentaler Symbole widerspiegeln.12 Er erfuhr seit Mitte der 1920er Jahre über mehr als eine Dekade in den USA starke Unterstützung für sein Anliegen, durch Kunst zur Völkerverständigung beizutragen. Für sein Engagement wurde er mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert und initiierte den Mitte der 1930er Jahre von Vertretern der „Panamerikanischen Union“ unterzeichneten „Roerich-Pakt“ zum Schutz und Erhalt von Kunst und Kultureinrichtungen in Kriegszeiten.

Noch vor dem Zweiten Weltkrieg wandten sich viele seiner Gönner vor allem aufgrund des Vorwurfs von Steuerstraftaten von ihm ab. Die Anfänge der Bewegung in den USA kamen zum Erliegen und wurden nach dem Krieg nur zögerlich aufgegriffen. Eine zahlenmäßig relevante Ausbreitung der Bewegung im Westen ist seither nicht zu konstatieren.13

Zu einer Renaissance des Agni Yoga kam es nach Ende des Kalten Krieges in den GUS-Staaten; dort wird die Bewegung durch Staat und Politik anerkannt und unterstützt.

Agni Yoga im deutschsprachigen Raum14

Die Agni-Yoga-Lehre wurde im deutschsprachigen Raum in den 1930er Jahren durch die Einwanderung lettischer Anhänger in Österreich bekannt. Dort übertrugen Leopold Brandstätter („Leobrand“; 1915-1968) und ein lettisches Übersetzerteam nach 1950 die Schriften Helena Roerichs ins Deutsche. Brandstätter gründete 1953 in Linz eine erste nicht öffentliche Schule für Lebendige Ethik, veröffentlichte ab 1960 verschiedene Zeitschriften und rief 1963 die Schule „Welt-Spirale“ mit der gleichnamigen, bis heute in elf jährlichen Ausgaben erscheinenden Zeitschrift ins Leben.

In den Folgejahren hat die Bewegung einige hundert Anhänger gewonnen, allerdings kam dieses Wachstum nach dem Tod Brandstätters 1968 ins Stocken. Offenbar gab es Auseinandersetzungen darüber, in welcher Weise die Arbeit fortzusetzen wäre. Brandstätters Nachfolger Wilhelm Augustat (geb. 1933) gelang es nicht, die Agni-Yoga-Bewegung zu einen, auch wenn die zweifarbige Zeitschrift „Welt-Spirale“ gemeinsam von zwei Gruppen („Frieden durch Kultur“, Leitung: Wilhelm Augustat; Gesellschaft Welt-Spirale, Leitung: Reinhold Maria Stangl) publiziert wird.

Bis vor Kurzem hatten die etwa 100 bis 150 regional verstreuten Anhänger15 bzw. die einzelnen Gruppen der Agni-Yoga-Bewegung in Deutschland kaum Kontakt untereinander. Seit 2009 gibt es jedoch Bemühungen, die Gruppen stärker zu vernetzen. So fand im Mai 2010 auf Rügen ein von ca. 30 Anhängern besuchtes Seminar statt. Neben Veranstaltungen und Seminaren gibt es seit etwa 2008/2009 im Internet eine breitere theoretische Darstellung und einen intensivierten Austausch in virtuellen Foren. Offenbar prägen dabei die vom Hamburger Agni-Yoga-Tempel ausgehenden Aktivitäten derzeit die deutschsprachige Agni-Yoga-Szene.

Aufnahme- bzw. Initiationsrituale werden nicht praktiziert. Für Mitglieder des Hamburger Agni-Yoga-Tempels sind ordensähnliche Ränge als Angehörige eines sogenannten Agni-Yoga-Ordens (Page, Waffenträger, Ritter, Meister) eingeführt. Höhere Ränge werden aufgrund profunder Kenntnisse, praktischer Arbeit für den Orden sowie Anleitung der Mitglieder unterer Ränge zuerkannt.

Mahatmas als Offenbarer16

„Unsterblichkeit – der größte Traum der Menschheit wird Wirklichkeit. Die Philosophie der Lebendigen Ethik lüftet das Geheimnis und lehrt die Kunst des ewigen Lebens. Die ersten Unsterblichen leben bereits mitten unter uns. Sie gehen daran, eine höhere Kultur zu errichten, die den herrschenden Materialismus ablösen wird.“ Diese Worte enthalten in knapper Form die weltanschaulichen und ethischen Grundgedanken der Agni-Yoga-Lehre: persönliche Vervollkommnung und Unsterblichkeit sowie Errichtung einer besseren Welt.

Dabei nimmt diese Lehre zentrale Gedanken der Theosophie auf: 1. eine okkulte Weltentwicklungstheorie, nach der jedes Lebewesen zyklische Reinkarnationsprozesse zur evolutionären Höherentwicklung des Selbst durchlaufe; 2. eine Karmalehre mit pädagogisch-ethischen Herausforderungen für den Menschen, dessen Seelenwanderung über 700- bis 800-fache Wiederverkörperungen führe; 3. ein religiöser Synkretismus, der die medial empfangene und okkult geschaute Wahrheit als geheimen, esoterischen Kern aller Religion versteht; 4. ein verändertes Verständnis von Wissenschaft und Religion, wodurch die rein mechanistisch verstandene Naturwissenschaft und eine davon geschiedene Welt des Religiösen und Transzendenten zusammengeführt werde.17

Wie bereits Blavatsky nimmt Helena Roe­rich für sich in Anspruch, ihr okkultes Wissen unmittelbar von indischen Mahatmas empfangen zu haben, die sie in Schambhala (i. e. Shangri-La), dem Heimatort der „Weißen Bruderschaft“, aufgesucht habe; namentlich wird der Mahatma Morya genannt. Diese Gemeinschaft (weitere Bezeichnungen: Große Weiße Loge, Bruderschaft der großen Seelen, Helle Hierarchie, Höchste Hierarchie) lebe auf dem Dach der Welt, in „Schambhala, einem abgelegenen, unzugänglichen Ort im Himalaja“ in einem Ashram und offenbare von dort ihr neues Weltbild sowie ein „vollständiges Programm für die Erneuerung des Lebens sowohl des einzelnen als auch der menschlichen Gesellschaft“. Da dieser Hierarchie alle Weisheit und Wahrheit eigne, hätten die Menschen sich ihr zu beugen und ihr zu folgen. Immer wieder würden die Mahatmas der Menschheit durch herausgehobene Schüler den Weg weisen. Folgende Namen werden u. a. genannt: „Hermes, Orpheus und Krischna, Konfuzius, Laotse und Milarepa, Moses, Salomon und David, Buddha, Zarathustra, Jesus Christus und Mohammed, Pythagoras, Anaxagoras, Perikles, Platon, Apollonius von Tyana, Seneca und Marc Aurel, Akbar d. G., Origenes, die Heiligen Antonius d. Gr., Franz von Assisi, Theresa von Avila, Sergius von Radonesch und Katharina von Siena, Leonardo da Vinci, Paracelsus, Jakob Boehme und St. Germain, Ramakrishna und Vivekananda und viele andere mehr ... Wir dürfen annehmen, daß auch die Glaubenshelden Unserer Tage wie Albert Schweitzer, Maximilian Kolbe,Mahatma Gandhioder Mutter Teresader Bruderschaft nahestanden.“ Auf diese Weise wird die gesamte Geistes- und Religionsgeschichte wie auch die biblische Tradition in einer synkretistischen Zusammenschau auf die Offenbarungen der in Schambhala verorteten Mahatmas und die von Helena Roerich medial empfangenen Botschaften zurückgeführt.

Der dem Unwissenden verborgene wahre Sinn der biblischen Überlieferung eröffne sich nur Eingeweihten: So berge die Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-12) folgende Aussage über Jesus: Er könne Materie in eine höhere Ebene heben, i. e. Wasser in Wein verwandeln und somit verherrlichen. Damit demonstriere der Gelehrte Jesus sein Können, niedrige Eigenschaften zu veredeln und zu vergöttlichen. Der Kreuzigung eigne keine universale, sondern allein individuelle Bedeutung für Jesus selbst: Wer sich opfere, steige schneller in höhere, transzendente Sphären auf. Jesus habe somit etwas für seine schnellere Vergöttlichung getan.

Menschheitstraum Unsterblichkeit

Die Philosophie des Agni Yoga will zentrale Lebensfragen der Menschheit beantworten und den „uralten Menschheitstraum ... verwirklichen“, nämlich „Unsterblichkeit [zu] erlangen, den Göttern [zu] gleichen“. Auf einem Weg vielfacher Inkarnationen könne sich jedes Lebewesen bzw. jedes Objekt von einer Reinkarnationsstufe zur nächsten bis zur Unsterblichkeit emporentwickeln, da allen und allem als göttlicher Funke die nach Vervollkommnung strebende Seele innewohne. Da es keine zwei gleichen Seelen gebe, nehme jede Seele ihren eigenen „Weg nach oben“ und durchschreite drei Ebenen: die „physische Welt“, die „feinstoffliche Welt“ und die „feurige Welt“. Bestimmung jeder Seele sei es, durch das Entzünden des Feuers im Herzen des Schülers den Weg in die feurige Welt zu öffnen und mit der Quelle aller Lebensenergie in Kontakt zu kommen. Dabei könne die Seele durch das Studieren der Schriften Helena Roerichs, durch ethisch verantwortliches Handeln negatives Karma abwenden und positives hinzufügen. So könne die Seele während der vielfachen Inkarnationen im Hinauf (d. h. von der Erde in die feinstoffliche Welt) und Hinab (d. h. wiederum zurück in die „physische Welt“ der Erde oder auf anderen Planeten) immer weiter aufsteigen, um schließlich in die feurige Welt einzutreten. Weil sich der Mensch aus freiem Willen für gut oder böse entscheiden könne und selbst „irgendwann das Gift in das kosmische Gewebe hineingetragen“ habe, dürfe er nicht sagen, er „leide [während der Inkarnationen in physischen Welten, J. P.] schuldlos“.

Darum müsse sich der Mensch von der Illu­sion der Materie befreien: „Erkenne dich selbst – als ein unsterbliches, als ein göttliches Wesen!“ Zur Illusion gehörten auch persönliche und verwandtschaftliche Beziehungen: Andere Menschen seien nur vorübergehende Weggefährten, die auf dem Entwicklungsweg der Seele möglicherweise noch nicht auf gleicher Stufe wären, die sich sogar als geistige Feinde entpuppen könnten, die einem in der jenseitigen Welt nicht mehr begegneten. Entsprechend seien alleirdischen, dem physischen Leben zugerechneten positiven wie negativen Widerfahrnisse „angesichts der unendlichen Existenz der Seele bedeutungslos“. Der Körper als vergängliche materielle Hülle habe nur für die einmalige Existenz während einer Inkarnation Bedeutung und werde danach abgestreift. Hingegen gelte es, die Seele als wahre Natur, als „überzeitliche Persönlichkeit“ zu veredeln. Als höheres Selbst bzw. höhere Seele wird die Seite der Seele bezeichnet, die der höchsten Ebene der Identität nahekomme: der Geist bzw. die „Monade“18. Da dementsprechend in monistischem Verständnis vorausgesetzt wird, dass man Gott letztlich nur in sich selbst suchen und finden könne, kennt die Agni-Yoga-Lehre kein personales Gottesbild und kein Gegenüber von Schöpfung und Schöpfer.

Diese Karma- und Reinkarnationsvorstellungen beschränken sich nicht auf einzelne Seelen, sondern werden auch auf das Schicksal von Völkern und Nationen übertragen. Deren Ergehen wäre als unausweichliche Folge eines „Volkskarmas“ anzusehen und läutere das Fehlverhalten eines gesamten Volkes, um den Seelen ein Aufsteigen in höhere Inkarnationsstufen zu eröffnen.

Hierarchie der Seelen – Hierarchie in der Welt

Die Höherentwicklung der Seele wird wie ein Evolutionsgesetz verstanden, in dem alles Leben seinen Platz hat: „Es besteht eine Hierarchie der Seelen, die von Grashalm, Tier und Mensch über den Christus bis hinauf zu Lenkern von Planeten, Sonnensystemen und Universen reicht.“

Die Ratschläge der im Himalaja okkult geschauten, alle Weisheit und Wahrheit bergenden Bruderschaft betreffen nicht nur das ethische Verhalten des Einzelnen, sondern auch alle gesellschaftlichen Lebensbereiche. Das Befolgen der Weisungen der „Weißen Bruderschaft“ ist nicht nur die alleinige Möglichkeit, den Aufstieg der Seele zu vollziehen. Der Mensch habe sich in Anerkennung des hierarchischen Prinzips auch in ethischen Fragen der höheren Wahrheit, d. h. der Herrschaft der Mahatmas, unterzuordnen und Gehorsam zu üben.

Die Demokratie wird demgemäß als Staatsform abgelehnt, weil sie nicht die Herrschaft des Geistes widerspiegle. Vielmehr müsse sich im Staat allmählich das universale hierarchische Prinzip durchsetzen, damit „die Reinen und die Weisen die Richtung angeben“ könnten, um eine veränderte Welt mit umfassender Gerechtigkeit, ausreichendem materiellem Wohlstand und sinnvoller Arbeit für alle zu realisieren. So werde die ohne Zwang ausgeübte Staatsform der Zukunft die Theokratie sein, in der sich alle Welt der „Bruderschaft von Schambhala“ unterordnet.

Für den Weg in die bessere Gesellschaft entwirft die Hamburger „Schule für Lebendige Ethik“ ein utopisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell: In einer fiktiven Kommune „Tabenisi“ fänden alle durch gerechte Verteilung von Arbeit einen ihren Möglichkeiten entsprechenden Platz. Als gesellschaftspolitisches Ziel lässt sich diese utopische Kommune als eine Art Weltsozialismus charakterisieren; eine regierende Sozialaristokratie stützt ihre Legitimation auf eine medial vermittelte höhere Wahrheit.19

Verschriftete Esoterik in komplexer Welt

Die Agni-Yoga-Lehre als Form der Schrift-Esoterik entfaltet universalen Geltungs- und Wahrheitsanspruch. Synkretistisch wie monistisch werden alle Religionen und philosophischen Strömungen von der Antike bis in die Gegenwart in die Ideenwelt des Agni Yoga subordinatorisch integriert. In diesem Glaubenssystem, das eine personhaft-irdische Abgeschlossenheit der einmaligen materiellen Existenz negiert, erscheint der Mensch letztlich als spiritualisiert-gnostischer Geistfunke. Auch wenn die Spannung zwischen Seele und körperlicher Existenz gnostisch aufgelöst wird, stellen sich Fragen: Kann eine solche Weltanschauung körperlichem Schmerz oder psychischem Leid überhaupt empathisch begegnen? Stellt die Herausforderung zur moralischen Gut-Tat angesichts der menschlichen Begrenzungen nicht eine Überforderung dar? Bleibt der Mensch nicht letztlich der Schmied individueller ewiger Glückseligkeit? Zwar wird im Agni Yoga das Schicksal anderer als Herausforderung zu Hilfe und Unterstützung angesehen, allerdings bleiben Leidens- wie Glückserfahrungen letztlich karmische Konsequenz früheren Lebens und stehen somit in der Verantwortung des Einzelnen.

Die jüdisch-christliche Tradition sieht den Menschen bereits im Mutterleib als individuellen Ausdruck des göttlichen Schöpferwillens (Ps 139). Die monistischen Vorstellungen des Agni Yoga nehmen die einmalige Geschöpflichkeit des irdischen Lebens so wenig ernst, wie sie es andererseits mit ethischen Forderungen überfrachten. Die Einschätzung menschlicher Möglichkeiten, sich selbst vom Bösen zu befreien und durch Tun des Guten mit dem Göttlichen eins werden zu können, erscheint angesichts der Geschichte der Menschheit als maßlos überhöht. Zudem wird damit auch die in der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi stellvertretend geschehene Erlösung von Sünde und Tod negiert.

Die Zielformulierung des Agni Yoga, es sei Aufgabe des Menschen, sich zum „Gott-Menschen“ höherzuentwickeln, ist als im westlich-abendländischen Horizont entstandene Vermengung der Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit des 19. und 20. Jahrhunderts mit Vorstellungen eines medial empfangenen okkulten Geheimwissens sowie der religiösen Sehnsucht nach Unsterblichkeit anzusehen.20

Auch wenn Reinkarnationsvorstellungen wachsenden Zuspruch zu erfahren scheinen21, wird die letzte Konsequenz des damit meist verbundenen Karmagedankens gesellschaftlich offenbar nicht akzeptiert. Als prominentes Beispiel sei an den ehemaligen englischen Fußballnationaltrainer Glen Hoddle erinnert. Er behauptete 1999 in einem Interview, Behinderte und Benachteiligte würden mit ihrem Schicksal zwangsläufig negatives Karma einer vorherigen Inkarnation abtragen. Kurz nach dem Interview wurde Hoddle nicht wegen der schon notorischen Erfolglosigkeit des englischen Teams entlassen, sondern wegen seiner als zynisch empfundenen religiös begründeten Einstellung gegenüber Benachteiligten.22

Der Anspruch, mit Agni Yoga eine neue, ideale Welt errichten zu können, indem sich die Menschheit einer hierarchischen Ordnung unterwirft, ist als utopisch im Wortsinne zu bezeichnen: Es handelt sich um einen Ort, den es nicht gibt und aller menschlichen Erfahrung nach nicht geben wird. So wirkt diese utopische Vision angesichts einer globalisierten, hochgradig ausdifferenzierten und von widerstreitenden Interessen geprägten Welt wie eine heile Insel der Glückseligkeit, auf der alle Widersprüchlichkeiten wie die Kontingenz der irdischen Existenz überwunden sind.

Abzuwarten bleibt, ob die nach wie vor kleine Agni-Yoga-Bewegung aus ihrem Nischendasein heraustreten kann. Die intellektuelle Herausforderung, die das umfängliche Schrifttum und die Lehre für Mitglieder wie auch Neugierige bedeuten, dürfte eine erhebliche Hürde für eine Annäherung darstellen.

Anmerkungen

1 So hat die große Hamburger Esoterik-Buchhandlung Wrage im Januar 2012 neben 15 Büchern von Annie Besant nur zwei Werke von Helena Blavatsky vorrätig.

2 Vgl. das Magazin „Körper, Geist und Seele“ (KGS) Hamburg, Dezember 2011, 32.

3 Vgl. www.lebendige-ethik-schule.de. (Die in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten wurden zuletzt am 6.1.2012 abgerufen.)

4www.lebendige-ethik-schule.de/U5.pdf .

5 Vgl. Hans-Jürgen Ruppert, Helena Blavatsky – Stammutter der Esoterik / Nikolaj Roerich – Frieden durch Kultur, EZW-Texte 155, Berlin 2000, 29ff.

6 Vgl. ebd., 32.

7 Vgl. Mircea Eliade, The Encyclopaedia of Religion, Bd. 1, New York/London, 1986, 133ff.

8 „Agni Yoga 1929“, http://agni-yoga-forum.de/emri sm/AY_text/Agni_Yoga.htm

9 Vgl. Helena Blavatsky, Die Geheimlehre, Bd. III, Den Haag o. J., 385.

10 Vgl. Hans-Jürgen Ruppert, Helena Blavatsky, a.a.O., 7, 32.

11 Sergej O. Prokofieff, Der Osten im Lichte des Westens, Teil I, Die Lehre von Agni Yoga aus der Sicht der christlichen Esoterik, Dornach 21997, 45.

12www.roerich.org/index.html; vgl. Zeitschrift „Harmonie – Informative und erläuternde Ausgabe des Zentrums ‚Lebendige Ethik’“ 1/2010.

13 Hans-Jürgen Ruppert, Helena Blavatsky, a.a.O., 35-38.

14www.welt-spirale.com/index.html?content=/dergruender.html. Derzeit aktive Agni-Yoga-Gruppen werden unter http://lebendige-ethik.net/de/5-verz.html genannt.

15 Diese Zahl wurde durch Wolfgang v. Reinersdorff (Schule für Lebendige Ethik) 2010 geschätzt.

16 Die folgende Darstellung der Agni-Yoga-Lehre beruht auf den Schriften Helena Roerichs (vgl. http://emrism.agni-age.net/german/1AY.htm) bzw. auf den Lehrtexten der Hamburger „Schule für Lebendige Ethik“ (vgl. www.lebendige-ethik-schule.de/einfuehrung-in-agni-yoga.htm). Sämtliche Zitate (auch Hervorhebungen und Tippfehler) sind dort zu finden.

17 Vgl. Hans-Jürgen Ruppert, Theosophie – unterwegs zum okkulten Übermenschen, Konstanz 1993, 37; Helmut Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa, Darmstadt 1999, 479f.

18 Vgl. Helena Blavatsky, Die Geheimlehre, a.a.O., Bd. I, 622ff.

19 Kurt Hutten, Die Herausforderung der Theologie durch die Okkultbewegungen, EZW-Impulse 4, Stuttgart 1969, 9.

20 Rüdiger Sachau, Westliche Reinkarnationsvorstellungen, Gütersloh 1996, 208ff; Ulrich Dehn, Suche nach der eigenen Mitte – östliche Religiosität im Westen, in: Reinhard Hempelmann u. a (Hg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Gütersloh 22005, 322f.

21 Statistische Vergleiche seit 1966 legen dies nahe, vgl. Helmut Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa, a.a.O., 598-602.

22 Vgl. http://news.bbc.co.uk/2/hi/sport/football/27019 4.stm .